Am nächsten Morgen wache ich mit einem dicken Kopf auf. Die ganze Sache mit dem Haus hat mich doch etwas mitgenommen. Außerdem habe ich die Flasche Wein fast geleert. Mitten in einer wichtigen Mordermittlung.
Um einen freien Kopf zu bekommen, entschließe ich mich, im Meer zu baden. Schon wenn ich daran denke, fröstelt es mich, aber egal. Schließlich bin ich Insulanerin, kein Weichei.
Rein in den Badeanzug, einen alten Bademantel meiner Oma drüber und ab ins Auto. Ich fahre zum Weststrand, der ist schnell zu erreichen, und man kann dort parken.
Der Wind pfeift, als ich Richtung Wasser gehe. Trotz der frühen Stunde ist schon einiges los. Die Frühschwimmer, Jogger und Gymnastik-Ladys sind fleißig unterwegs. Eine Tafel zeigt die Temperaturen an. Luft 16, Wasser 12 Grad. Was für bekloppte Ideen man mit einem Brummschädel hat. Ich würde gern umkehren, zurück zum Frühstückstisch in Omas Häuschen, doch das geht nicht. Es wäre ja megapeinlich, wenn mich irgendjemand dabei sehen würde. Also werfe ich den Bademantel in den Sand und stapfe ins Wasser. Puh, Schock.
Die Wellen sind so hoch, dass ich sofort nass bin. Da kann ich auch gleich richtig reingehen. Meine Adern gefrieren, aber schon nach kurzer Zeit fühlt es sich genial an. Herrlich. Als ich wieder im Auto sitze, ist mein Kater wie weggeblasen.
Das ist auch gut so, denn im Revier, wo ich kurz darauf aufschlage, ist die Hölle los. Alle hängen am Telefon, und als Müller auflegt, klingelt es erneut. Er geht nicht ran, sondern zeigt auf die Zeitung, die auf seinem Schreibtisch liegt. »Schau dir das an.«
Auf dem Titel eine Großaufnahme der heulenden Svenja mit ihrem Baby. Daneben ein Foto von Maik. Die Headline schreit dem Leser ins Gesicht: »Killer-Therapeutin auf Sylt – Junger Familienvater eiskalt im Liebesnest erschlagen – Witwe Zeugin der grauenvollen Tat«.
»Ach du Schreck«, entfährt es mir.
Müller nickt. »Die Thomson hat gestern, kaum war sie aus dem Krankenhaus raus, dem Blättchen ein Interview gegeben.«
Ich kralle mir die Zeitung und fange an zu lesen. Wie so üblich bei der besten aller Zeitungen strotzt der Artikel vor Halbwahrheiten, Fehlinformationen und Suggestivfragen, immer knapp an der Legalität entlang. Aber die Redakteure haben alles herausgefunden. Dass die Schumacher ein Verhältnis mit Kehlheim hatte, schwanger ist und wir sie verhört haben. Verdammt!
Laut lese ich die Headlines: »So half die Polizei der Mörderin – Warum behielt man die Verdächtige nicht in Gewahrsam? – Mit Hilfe der Polizei konnte sie den Mord begehen. Danke an unsere Freunde und Helfer …«
Ganz schön unverschämt, das geht zu weit.
»Ja, Schiete ist das!«, brummt Müller.
Alle Achtung, Kollege. Ich rechne ihm hoch an, dass er mir mit keinem Wort vorwirft, die Schumacher entlassen zu haben.
In dem Moment summt mein Handy, es ist Schütz.
»Guten Morgen, Herr Kriminaldirektor«, melde ich mich.
»Guten Morgen. Was ist denn da los auf Sylt? Haben Sie die Presse nicht im Griff?«
Das war immer ein heikles Thema. Natürlich können wir nicht völlig verhindern, dass irgendwelche Beteiligten oder Opfer Interviews geben. Aber wir können durch frühzeitiges Einbeziehen der Öffentlichkeit die schlimmsten Auswüchse vermeiden. Das haben wir offensichtlich versäumt, und ich mache nicht den Fehler, dies zu begründen oder zu beschönigen.
Nachdem er eine Weile auf unseren Versäumnissen herumgeritten ist, teilt er mir mit, dass Frau Dr. Kramer auf dem Weg nach Sylt ist.
Aha, professionelle Unterstützung. Kramer ist die toughe PR-Frau des Präsidiums.
»Organisieren Sie so schnell wie möglich zusammen mit Frau Dr. Kramer eine Pressekonferenz, und überlassen Sie ihr die Kommunikation!«, bellt er ins Telefon.
Nichts lieber als das. Anschließend muss ich ihm detailliert den Status quo schildern, der sich leider nicht von gestern unterscheidet, denn wir sind keinen Schritt weiter. Und nach der erneuten Drohung, dass er sich vorbehält, Ermittler aus Kiel anzufordern, wenn wir nicht asap weiterkommen, darf ich endlich auflegen.
»Gibt’s Stress?«, fragt Müller.
»Geht so.«
Ich erkläre ihm, dass Frau Kramer in der nächsten Stunde ankommt, um eine Pressekonferenz zu organisieren, was er gar nicht so schlecht findet. Keiner von uns hat Lust, sich von den Journalisten löchern zu lassen. Außerdem haben wir einen Berg Arbeit vor uns. Dennoch geht der Vormittag mit Pressearbeit drauf, denn die Kramer muss erst mal ins Boot geholt werden. Gegen Mittag gehen wir dann zu den wartenden Journalisten.
Ein Dutzend Redakteure hat sich im Konferenzraum des Präsidiums eingefunden.
Nach einer knappen Begrüßung korrigiert die Kramer erst einmal das Bild, das die Journalisten von Caroline Schumacher haben. Es gebe keinerlei Hinweis, dass sie etwas mit Carsten Kehlheims Tod zu tun hat, betont sie, und was die Tötung von Maik Thomson betrifft, so spreche vieles dafür, dass es Notwehr war. Wir hätten keinerlei Verbindung von Caroline zu Maik Thomson entdeckt. Die Aussage, dass sie die Geliebte des Surflehrers war, sei reine Spekulation.
Nachdem das klargestellt ist, wollen die Journalisten wissen, wie der Status der Ermittlungen in beiden Fällen ist.
Das Schöne an der Kramer ist, dass sie genau wie Journalisten und Politiker wenig Information in jede Menge Worte verkleiden kann. Da ist sie flexibel.
»Haben Sie schon andere Verdächtige?«, wird zum Schluss noch gefragt.
»Wir verfolgen mehrere Spuren«, antwortet die Kramer, »und wenn wir mehr wissen, werden Sie das sofort erfahren.«
»Aus der Morgenzeitung?«, wirft ein junger Reporter ein. Hämisches Gelächter.
»Wir werden Sie täglich informieren«, verspricht unsere Pressefee.
Ob sie weiß, was sie uns damit einbrockt?
Nachdem die Schreiberlinge abgezogen sind, verabschiedet sich die Kramer Richtung Festland, und wir sitzen da mit unseren täglichen Presseterminen.
Herzlichen Dank auch.
Als Müller und ich kurz darauf wieder im Krankenhaus sind, ist die Schumacher von der Intensivstation in die Innere Medizin verlegt worden, und wir dürfen mit ihr sprechen. Sie ist blass, hat dunkle Augenringe und wirkt sehr zerbrechlich. Organisch fehle ihr nichts, erfahren wir vom Arzt, sie ist so weit stabilisiert und kann morgen wieder nach Hause. Psychisch sieht die Sache anders aus.
»Haben Sie die Zeitung gesehen?«, klagt sie mit dünner Stimme und vorwurfsvollem Blick. »Die wollen mich fertigmachen. Was kann ich dagegen tun?«
»Wir haben das gerade richtiggestellt«, erklären wir. »Aber es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn Sie ein paar Tage bei Freunden wohnen könnten.«
Anschließend müssen wir ihr mitteilen, dass sie unter Anklage gestellt wird. Sie hat Maik Thomson getötet, und nur ein Gericht kann darüber befinden, ob es Notwehr war oder nicht. Es ist hart, für den Tod eines Menschen verantwortlich zu sein, gerade wenn man ihn aus Notwehr getötet hat. Damit muss man erst mal fertigwerden. Kein Wunder, dass sie weinend zusammenbricht. Wieder klingeln wir nach der Schwester und gehen kurz raus. Erst als sie wieder ansprechbar ist, können wir sie befragen. Das heißt, ich überlasse Müller das Reden und beobachte das Ganze.
»In welchem Verhältnis stehen Sie zu Maik Thomson?«
Erneutes Schluchzen. »Ich kenne den Mann gar nicht.«
»Sie sind Sylterin, genau wie Thomson, und außerdem gleichaltrig. Da müssten Sie ihn doch kennen.«
»Ich komme aus Pinneberg und lebe erst seit fünf Jahren auf Sylt.«
»Auch in fünf Jahren läuft man sich meist über den Weg.«
Caroline schnaufte hörbar. »Ich bin ihm nie begegnet, jedenfalls nicht bewusst.«
»Waren Sie schon mal im Surfer-Eck?«
»In der Kneipe? Ja, ich glaub schon?«
»Glauben Sie es oder wissen Sie es?«
»Ja, ich war schon ein- oder zweimal dort, letzten Sommer, aber ich weiß nicht mehr, wann.«
»Maik Thomson kellnert im Surfer-Eck. Da müssen Sie ihn gesehen haben.«
Sie krallt ihre Hände in die Bettdecke und stößt erregt hervor: »Nein, habe ich nicht. Er ist wohl nicht der einzige Kellner dort. Ich weiß auch gar nicht mehr, wer mich da bedient hat.« Hastig richtet sie sich auf und wühlt in der Schublade des Krankenhaus-Nachttisches. Endlich wird sie fündig und zieht ein Taschentuch hervor, in das sie schnieft.
Müller wartet kurz, dann fährt er fort: »Und nun berichten Sie uns genau, was seit Montagabend passiert ist, nachdem Sie das Polizeirevier verlassen haben.«
Entgeistert starrt sie uns an. »Alles?«
»Ja, bitte.«
»Ich … ich bin nach Hause gegangen.«
»Zu Fuß?«
»Ja.«
»Und weiter?«
»Ich habe mit meiner Chefin telefoniert und mich für den Auftritt der Polizei, also Ihren Auftritt in der Praxis, entschuldigt.« Ein böser Blick trifft uns, bevor sie stockend fortfährt. »Ich habe ihr gesagt, dass alles in Ordnung ist und ich am nächsten Tag in die Praxis komme. Danach habe ich was gegessen und bin zu Bett gegangen.«
Ungerührt fährt Müller fort: »Haben Sie noch telefoniert?«
»Ja, ich habe Marc angerufen und ihm erzählt, was passiert ist.«
»Marc?«, fragt Müller.
»Ein guter Freund. Nicht, was Sie denken, einfach ein Freund.«
»Ich habe ihn kennengelernt, Marc Förster, er ist Friseur«, werfe ich ein.
»Ah, der Marc. Vom Tripple. Den kenne ich.« Müller nickt. »Wie lange haben Sie telefoniert?«
Sie fasst sich an die Stirn. »Vielleicht eine halbe Stunde. Jedenfalls lag ich um zehn im Bett, das weiß ich. Nicht, dass ich schlafen konnte, dafür haben Sie ja gesorgt.« Wieder ein vorwurfsvoller Blick.
Darauf reagieren wir nicht, und sie spricht weiter. »Heute bin ich zur Arbeit gegangen, obwohl es mir nicht gut ging. Aber ich wollte Ina nicht hängenlassen. Ich habe gearbeitet bis fünf, anschließend bin ich nach Hause gefahren.«
»Haben Sie während der Arbeit mit jemandem über das Verhör gesprochen?«
Heftig schüttelt Caroline den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Meinen Sie etwa, ich erzähle meinen Patienten, dass Sie mich verdächtigen, meinen Freund umgebracht zu haben?« Sie wird lauter.
»Und was ist mit Ihren Kollegen?«
»Die haben mich nur gefragt, ob alles in Ordnung ist, und ich habe gesagt, alles okay.«
»Und in Ihrer Mittagspause?«
»Ich habe keine gemacht, ich habe nur zwischendurch ein Brot gegessen.«
»Nach der Arbeit sind Sie direkt nach Hause gefahren?«
»Ja. Mir ging es nicht gut, ich wollte mich ausruhen.« Sie streicht mit der Hand über ihren Bauch.
»Haben Sie danach mit jemandem gesprochen?«
»Marc kam vorbei und wollte sehen, wie es mir geht. Er schlug vor, bei mir zu übernachten, damit ich nicht alleine bin, aber das war nicht nötig. Ich wollte einen Baldriantee trinken und früh zu Bett gehen, weil ich die Nacht davor nicht schlafen konnte.«
»Wie lange blieb er?«
»Ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Schätze, es war halb sieben, als er ging.«
»Was passierte dann?«
Sie schnäuzt sich und trinkt etwas Wasser. »Es klingelte wieder. Ich dachte, Marc hätte was vergessen, und ging zur Tür, um zu öffnen.«
»Sie wohnen doch im Dachgeschoss. Konnten Sie da nicht den Türöffner betätigen?«
»Man hört am Klingelton, ob jemand unten an der Haustür oder oben an der Wohnungstür klingelt. Daher wusste ich, dass jemand vor der Tür stand. Das konnte nur Marc oder ein Nachbar sein, denn unten ist ja abgeschlossen.«
»Das heißt, Sie öffneten die Tür in der Meinung, ein Bekannter steht davor«, hakt Müller nach.
»Das sagte ich doch. Aber da stand dieser Fremde.«
»Haben Sie den Mann vorher schon mal gesehen?«
»Nein!« Wieder ein heftiges Kopfschütteln.
»Was sagte er?«
»Er stellte sich als Maik vor und sagte, er sei ein Bekannter von Carsten, und Carsten habe viel von mir erzählt. Außerdem habe er etwas von Carsten, das er mir geben wollte.« Ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Deshalb ließ ich ihn rein, und wir gingen ins Wohnzimmer. Ich wollte nicht unhöflich sein.«
»Hat Carsten den Namen Maik irgendwann erwähnt?«
»Nein, noch nie. Aber ich kenne ja nicht alle Leute, die mit Carsten Kontakt hatten. Ich war ja nicht mit ihm verheiratet.«
»Waren Sie nicht misstrauisch?«
»Nein, warum denn? Wir sind hier auf Sylt, nicht in einer Großstadt. Da lässt man die Leute rein.« Sie schluchzt auf. »Und er sah nett und harmlos aus.«
»Was geschah weiter?«
»Ich bot ihm etwas zu trinken an, aber er wollte nichts. Dann setzten wir uns hin.«
»Wo?«
Caroline schaut mich Hilfe suchend an. »Wie lange geht das noch weiter? Ich bin müde, außerdem habe ich Kopfschmerzen.«
»Wir sind gleich fertig«, versuche ich sie zu vertrösten.
Müller blickt sie an und sagt: »Je schneller Sie antworten, desto schneller sind Sie uns los. Also, wo saßen Sie?«
Zögernd erwidert sie: »Ich auf der Couch und er auf einem Sessel.«
»Über was sprachen Sie?«
»Er sprach sein Beileid aus, das war eigentlich alles.«
»Wie ging es weiter?«
Caroline schweigt. Sie setzt sich im Bett auf und streicht ständig eine widerspenstige Haarsträhne zurück, die ihr immer wieder ins vom Weinen gerötete Gesicht fällt. In ihrem rosa Schlafanzug wirkt sie wie ein kleines Mädchen, das vor der bösen Welt beschützt werden muss. Wenn man allerdings bedenkt, was geschehen ist, so muss man vielleicht auch die Welt vor ihr beschützen. Denn der Schlag, den sie dem Surflehrer verpasst hat, war nicht von schlechten Eltern.
»Also, was passierte dann?«
Stockend berichtet sie: »Er … er beugte sich zu mir und öffnete den Rucksack. Ich dachte, jetzt holt er das heraus, was er mir geben will, und war gespannt. Aber er …« Sie schnieft. »Er hat ein Tuch herausgezogen und wollte es mir aufs Gesicht drücken. Ich kenne den Geruch. Es war Äther.«
Wieder muss sie unterbrechen und etwas trinken. »Er wollte mich umbringen«, flüstert sie erregt, »mir war ganz schwummrig. Er stand über mir und versuchte mit aller Kraft, mir den Lappen auf mein Gesicht zu pressen. Ich habe mich gewehrt, und wir haben gekämpft. Er wollte mich erwürgen, es war so schrecklich. Ich dachte, jetzt sterbe ich, es ist vorbei mit mir. Seine Hände waren so fest um meinen Hals, dass ich keine Luft bekommen habe, o Gott …« Sie kann nicht weitersprechen und kämpft darum, ihren Atem zu beruhigen.
Es dauert eine Weile, bis sie unter Tränen weiterspricht: »Irgendwie habe ich den Kerzenständer in die Hand bekommen und zugeschlagen. Ich wollte doch nicht sterben.« Laut schluchzt sie auf. »Und ich wollte niemanden umbringen. Es war ein Unfall, ich habe mich nur gewehrt. Er wollte mich umbringen, so glauben Sie mir doch.« Ihre Stimme wird immer schriller.
Müller geht nicht darauf ein, sondern spricht ruhig weiter. »Frau Schumacher, wie lange machen Sie schon Judo? Sie haben einen schwarzen Gürtel?«
»Was soll das? Was hat das damit zu tun?« Sie wirkt verwirrt.
Müller wiederholt: »Seit wann machen Sie Judo?«
»Seit ich zwölf bin.«
Müller rechnet nach. »Also siebzehn Jahre. Wo trainieren Sie?«
Erschöpft schließt sie die Augen. »Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe?«
Müller wiederholt seine Frage.
»In Westerland, und manchmal in Flensburg.«
»Warum in Flensburg?«
Keine Antwort.
»Frau Schumacher«, dringt Müller auf sie ein, »wir sind gleich fertig. Bitte konzentrieren Sie sich noch einen Moment.«
»Es gibt hier auf Sylt keine Frau, die auf meinem Niveau trainiert. Aber ich kann mit einem Mann trainieren, und manchmal fahren wir eben nach Flensburg, um andere Sparringspartner zu haben.«
»Sie sind also kräftig und durchtrainiert?«
Sie richtet sich auf. »Was soll das?«
»In ihren Kämpfen dürfen Sie andere nicht verletzen, ist das richtig?«
Sie nickt.
»Und Sie haben Techniken gelernt, zu vermeiden, andere zu verletzen.«
»Wenn ich kämpfe, drückt mir auch niemand den Hals zu und versucht mich umzubringen«, schreit sie erregt. »Gehen Sie jetzt, ich will nicht mehr mit Ihnen sprechen, gehen Sie!«
Ihre Stimme überschlägt sich. Dann dreht sie sich auf die Seite und schließt wieder die Augen.
»Und, was sind deine Beobachtungen?«, fragt Müller draußen im Flur.
»Schwer zu sagen. Das mit dem Kampfsport hat ihr ganz schön zugesetzt.«
Ich hebe die Schultern. »Wenn sie Maik Thomson ermordet hat, kann sie das nur aus zwei Gründen gemacht haben: Entweder war er ihr Komplize beim Mord an Kehlheim oder er hat Verdacht geschöpft, weil er sie zum Beispiel auf der Fahrt nach Hamburg gesehen hat, und wollte sie erpressen. Für beides gibt es bis jetzt keine Anhaltspunkte. Andererseits hat Myriam Kehlheim sehr wohl einen Grund, Caroline aus dem Weg zu schaffen. Und auf Myriams Wohnzimmertisch lag die Handynummer von Maik Thomson. Sie könnte ihn zu ihrer Rivalin geschickt haben.«
»Richtig«, stimmt Müller zu, »aber wie wir wissen, hat Myriam für den Mord an Kehlheim ein Alibi.«
»Daher sollten wir schnellstens Thomsons Alibi überprüfen. Also, auf zur anderen Witwe.«
Wir treffen Svenja Thomson in ihrer Küche an. Zusammen mit ihrer Mutter, dem Baby, einer Nachbarin und einem Packen Zeitungen.
Die Mutter fährt uns an: »Dürfen Sie überhaupt mit meiner Tochter sprechen?«
Die aggressive Frau ignorierend, spreche ich der jungen Witwe noch einmal mein Beileid für ihren Verlust aus, bevor ich frage, wo ihr Mann letzten Dienstag und Mittwoch war.
Sie überlegt. »Er hat letzte Woche jeden Tag gearbeitet, in der Surfschule und fast jeden Abend in der Kneipe. Ah, und Mittwoch …« Sie wendet sich an ihre Mutter. »Du weißt doch, dass ich mit dem Auto am Montag liegengeblieben bin.«
»Ach Gott, ja«, entgegnet die Mutter.
»Genau, er hat den Wagen am Mittwoch zu Jens gebracht, nach Niebüll, der repariert immer unser Auto, die Werkstatt hier ist ja so teuer.«
»Wann ist Ihr Mann losgefahren?«
»Am Abend, so gegen sechs.«
»Und wann kam er zurück?«
»Da habe ich schon lange geschlafen. Das war mitten in der Nacht, die waren noch was trinken, wie immer. Wenn er überhaupt so lange bei Jens war, vielleicht war er ja auch bei der Hexe.«
Auch hier eine weinende junge Frau. Ihre Mutter tätschelt ihr den Arm und blickt uns wütend an.
Für Kehlheims Tod hat Maik Thomson demnach ein Alibi, aber Mittwochabend könnte Caroline mit dem Zug vom Hamburger Flughafen nach Sylt gefahren und dabei Maik Thomson begegnet sein.
Wir fragen die Frauen noch, ob eine von ihnen Maik irgendwann mal zusammen mit Caroline gesehen hat oder ob es sonst einen Hinweis auf einen Kontakt gibt. Dann erkundigen wir uns nach einem möglichen Kontakt von Maik mit Carsten oder Myriam Kehlheim, aber Fehlanzeige.
Beim Abschied warnen wir Svenja vor allzu viel Offenheit gegenüber der Presse. Doch das hätten wir uns auch sparen können, denn auf ihr Titelbild in der Zeitung ist sie stolz wie Oskar. Fragt sich nur, wie lange.
Die anschließende Pressekonferenz ist diesmal sehr kurz, wir haben nichts zu sagen. Es sind bloße Zeitfresser, diese täglichen Termine.
Danach im Revier ein Meeting in großer Runde. Wir haben jetzt wenigstens die Mindestbesetzung für eine Mordkommission. Die Moko »Skalpell«. Der Bezug zum Arztberuf war Müllers Idee.
Neben uns vier, also Müller, Marieluise, Amar und mir, sind noch Friedrich und Sabine von der Bereitschaftspolizei hier, um uns zu unterstützen, und zwei Kollegen aus Niebüll, Kriminalkommissar Jan Petersen und Kommissar-Anwärter Leo Kemmrich. Petersen steht kurz vor seiner Pensionierung, und Leo ist mit seinen fünfundzwanzig Jahren der Jüngste in der Runde. Er schaut angestrengt in seine Notizen und klopft dabei nervös mit den Fingern auf den Tisch, zumindest so lange, bis Petersen ihm etwas zuzischt. Der angekündigte dritte Kollege aus Niebüll wurde kurzfristig wieder abgezogen.
Marieluise hat ihre Charts aufgehängt. Für jeden Verdächtigen eins. Immer mit den sechs Ws jeder Mordermittlung. Wer hat was, wann, wie, warum und womit gemacht. Wenn man die Ws beim Verdächtigen beantworten kann, steht der Anklage normalerweise nichts im Weg.
Klingt einfacher, als es ist. Wir haben jedenfalls keinen Verdächtigen, auf den alles zutrifft. Außer vielleicht Caroline. Aber bei ihr ist das Motiv sehr weit hergeholt. Angeblich war ihre Beziehung zu dem Toten ungetrübt. Warum sollte sie also ihren Lover umbringen? Und das einzige Indiz für ihren Aufenthalt in Spanien, das wir haben, ist äußerst dürftig. Jeder könnte das Ticket gebucht haben.
Dennoch sollten wir die Beziehung Carolines zu Carsten Kehlheim genauer unter die Lupe nehmen. Vielleicht war doch etwas zwischen den beiden vorgefallen. Schließlich war er allein nach Spanien abgedüst.
Myriam, die gleich mehrere starke Motive hat, vom verletzten Stolz bis zur Habgier, hat leider auch das stärkste Alibi. Gleich vierzehn absolut glaubwürdige Zeuginnen. Sie hätte ihren Mann nur in Verbindung mit Helfershelfern töten können. Schiller ebenfalls. Und bei der Neupert, wo beides, Motiv und Gelegenheit, vorhanden sind, haben wir keinerlei Beweise für die Tat. Außerdem ist das Motiv äußerst schwach. Sie war nur eine Zeit lang seine Geliebte gewesen, als er sie mit der Patientin hintergangen hat. Wenn sie ihn deshalb vorsätzlich umgebracht hätte, wäre sie eine Psychopathin, und darauf gibt es sonst keinerlei Hinweis.
Beweise haben wir übrigens noch bei keinem unserer Verdächtigen, es ist einfach vertrackt. Genau das müssen wir jetzt anpacken. Wir brauchen endlich Beweise, damit wir Marieluises schöne Charts mit Informationen komplettieren können.
Während die Kollegen damit beschäftigt sind, ihre Kaffeetassen aufzufüllen, steht Marieluise schon tatendurstig mit ihrem Stift da und wartet darauf, loszuschreiben. Zwar hat jedes Mitglied der Mordkommission einen Laptop und muss alle Infos, die er im Laufe des Tages ermittelt, in unseren gemeinsamen Ordner »Skalpell« eintragen, damit wir immer schön auf dem gleichen Stand sind, dennoch ist eine Übersicht an der Wand unverzichtbar, um die Besprechungen zu strukturieren.
Jetzt sollten wir mal loslegen. Ich habe es etwas eilig, weil ich um halb zehn mit Mats, dem Segler aus Dänemark, in Wenningstedt verabredet bin. Eigentlich wollte ich mich vorher zu Hause ein wenig aufhübschen, doch das wird wohl nichts.
»Okay, was haben wir? Fängst du an, Amar?«
»Das Interessanteste war das Gespräch mit Kehlheims Steuerberater. Er sitzt hier in Westerland in der Maybachstraße und konnte mich kurz treffen. Da Kehlheim nicht mehr lebt, war er bereit, mich über seinen Ertrag aus der Praxisklinik zu informieren. Und nun wird es interessant. Kehlheim hatte ein sehr viel höheres Einkommen aus der Praxis als Schiller. Das ist etwas kompliziert, aber ich versuche, es einfach zu erklären.«
»Damit wir das auch kapieren?« Kriminalkommissar Petersen blickt herausfordernd in die Runde, doch Amar lässt sich nicht aus dem Konzept bringen.
»Die Praxis ist eine sogenannte Berufsausübungsgemeinschaft, in der beide Ärzte die Räumlichkeiten, Geräte und so weiter nutzen und eine gemeinsame Abrechnung machen. Die ist meist paritätisch, also halbe-halbe, aber wenn die Honorare der einzelnen Ärzte sehr unterschiedlich sind, kann man eine variable Gewinnverteilung vertraglich festlegen.« Er schaut in die Runde. »Bei Kehlheim war es nun so, dass er selbst, und jetzt schlackern euch gleich die Ohren, knapp 550.000 im Jahr verdient hat, während Schiller gerade mal auf 170 Riesen kam.«
»30,9 Prozent«, entfährt es mir.
»Hast du ’ne Rechenmaschine verschluckt?«, staunt Müller.
»Gerade mal 170.000, da kommt Mitleid hoch«, hören wir aus der Niebüller Ecke, »warum sind wir bloß Scheißbullen geworden?«
Die anderen nicken beifällig.
Amar fährt fort: »Der Grund für den großen Unterschied ist, dass sämtliche reiche Privatpatienten zu Kehlheim gegangen sind, während Schiller viele Kassenpatienten hat, die sich die Nase richten lassen.«
»Ganz schön ungerecht«, unterbricht ihn Marieluise.
»Äh … ja … jetzt kommt es: Der Steuerberater, er heißt Heiko Friedrichs, war mit Kehlheim befreundet. Und Kehlheim hat ihm erzählt, dass er den Verdacht hatte, Schiller würde nicht alle seine Einnahmen offiziell abrechnen, und er ihn deshalb zur Rede stellen wollte.«
»Ist ja interessant«, staunt Müller. »Steuerbetrug?«
»Ja«, bestätigt Amar, »heimliche Geschäfte, aber mehr konnte Friedrichs nicht dazu sagen. Er ist auch gleich wieder zurückgerudert, als ich ihn festnageln wollte.«
»Dem müssen wir nachgehen«, stellt Müller fest, »wenn Kehlheim seinen Praxispartner bei einem Betrug erwischt hätte, wäre das ein handfestes Mordmotiv für Schiller. Leider hat der gute Doktor ein Alibi.«
»Was ist mit seiner Ehefrau?«, werfe ich ein. »Die hat nur ihn als Alibi. Wir müssen unbedingt seine finanziellen Verhältnisse überprüfen. Das Haus in Keitum sieht jedenfalls nach einer Menge Kohle aus. Wenn er es nicht geerbt hat, muss er immense Schulden haben. Gute Arbeit, Amar.«
»Wir brauchen eine Verfügung für Schillers Bankkonten«, sagt Müller, »darum kümmere ich mich.«
Jetzt meldet sich Sabine zu Wort. »Also ich habe mir zusammen mit Leo die Beschwerden wegen angeblicher Behandlungsfehler angeschaut. Die wurden alle gütlich beigelegt. Bis auf eine, da gab es einen Prozess.«
»Ist eine Brust geplatzt?«, feixt Jan.
Sabine blickt ihn verächtlich an. »Es ist auch keine Penisvergrößerung schiefgegangen«, kontert sie, »es geht um eine Augenlidkorrektur. Das ist anscheinend die häufigste Schönheitsoperation, die routinemäßig abläuft. In dem Fall jedoch kriegt die Frau ein Auge nicht mehr zu und kann nicht schlafen. Sie hat Kehlheim verklagt, und der hat den Prozess gewonnen, weil er sie vor der OP über mögliche Komplikationen aufgeklärt hat. Die Frau hat sich dann an die Öffentlichkeit gewandt und Flugblätter verteilt, woraufhin Kehlheim sie angezeigt hat, so dass sie ein paar tausend Euro wegen Rufschädigung abdrücken musste. Jetzt hat sie einen ganz schönen Brass auf Kehlheim.«
Müller verfolgt die Darlegung sehr interessiert. Vielleicht überlegt er sich das mit seinen Tränensäcken noch mal.
»Habt ihr das Alibi der Frau schon überprüft?«, will ich wissen.
»Wir sind noch dabei.«
»Wie heißt die Frau?«
»Annegret Wurm.«
»Namen gibt’s«, sagt Marieluise und malt einen neuen Kreis auf ihr Chart. Wieder eine Verdächtige, die überprüft werden muss.
Jan, der Kollege aus Niebüll, hat die elf Juweliere der Insel abgeklappert, von denen vier die Marke Rolex vertreiben, zwei in Westerland, einer in Kampen und einer in List. Außerdem gibt es gebrauchte Rolex bei einem Antiquitätenhändler in Keitum. Die Sylter Rolex-Dichte kann sich also durchaus sehen lassen.
»Furchtbares Volk«, meint Jan, »die wollten alle nicht mit den Kundendaten rausrücken. Aber ich habe mich nicht abwimmeln lassen.« Er schaute Bestätigung heischend in die Runde. »Die Uhr des Toten ist eine Rolex.« Jetzt nimmt er seinen Notizzettel zu Hilfe, »eine GMT Master von 2006 und würde heute gebraucht knapp 13.000 Euro kosten. Unfassbar. Keiner der Schmuckfritzen hat die Unterlagen von 2006, und als Gebrauchte hat in letzter Zeit auch keiner solch eine Uhr verkauft.«
Er macht eine kleine Pause, um sich ausgiebig zu räuspern. »Alle, bis auf den in List, kennen Kehlheim und dessen Frau, weil beide schon öfter in den Läden waren. Kehlheim hat in Westerland schon mehrere Uhren gekauft, darunter auch zwei Rolex, nur keine GMT.«
»In seinem Haus haben wir nicht eine einzige Uhr gefunden. Selbst im Tresor. Nichts. Das spricht doch eine klare Sprache«, bemerkt Müller.
»Wenn die Kehlheim schon nichts erbt, muss sie halt sehen, wo sie bleibt. Kleinvieh macht auch Mist«, ist Amars lakonischer Kommentar. »Es gibt übrigens unzählige Online-Händler für Rolex, auch für gebrauchte, wahrscheinlich ist die Uhr da gekauft worden«, wirft Müller ein.
»Und warum klappere ich dann die ganzen Juwelenschnösel ab?«, empört sich Jan.
Müller erspart sich die Antwort.
»Was ist mit den Rezepten?«, wende ich mich an Marieluise.
Sie strahlt mich stolz an. »Da hab ich was. Ich habe alle Sylter Apotheken abtelefoniert, es sind neun. Ein Privatrezept für Oxycodon von Dr. Kehlheim wurde am 2. Mai in der Wenningstedter Apotheke eingelöst auf den Namen Gesa Sander aus Westerland. Tja, und eine Gesa Sander ist weder in Westerland noch sonst wo auf Sylt gemeldet, es ist ein Phantasiename.«
»Kehlheim wurde vor seinem Tod Oxycodon injiziert, das heißt, wir können jetzt davon ausgehen, dass der Mörder Zugang zu Kehlheims Praxis hatte.«
Die Aufregung war in dem kleinen Raum spürbar. War das ein Durchbruch?
»Wer hat das Rezept eingelöst?«, fragt Müller erregt.
»Ich bin sofort hingefahren und habe die Angestellten befragt. Die wussten es nicht. Es war mit Sicherheit eine Frau, sonst wäre das vielleicht aufgefallen. Aber keiner konnte eine Beschreibung geben. Zu viel los. In die Wenningstedter Apotheke kommen fast nur Touristen, daher merkt sich keiner ein Gesicht.«
»Schiete. Hatten die das Oxycodon denn vorrätig?«
»Nein, sie mussten es bestellen, und es wurde am nächsten Tag abgeholt. Wie gesagt, es war wahrscheinlich eine Frau, doch zufälligerweise war immer, wenn sie da war, sehr viel los.«
»Die hat sicher abgewartet, bis der Laden voll war. Hast du die Bilder gezeigt?«
»Klar, von Myriam Kehlheim, Caroline Schumacher, Michelle Klein und sogar das von der Frau von Dr. Schiller. Keine wurde erkannt. Es hätte jede sein können. Ich glaube, die gucken ihre Kunden gar nicht an.«
»Wie hat sie bezahlt?«, will Müller wissen.
»Bar natürlich.«
»Lass uns noch mal hingehen und mit den Angestellten reden. Vielleicht fällt ihnen noch was ein.«
»Versuchen kann man alles«, meint Marieluise.
»Gab’s in einer anderen Apotheke noch einen Treffer?«
»Nein.« Die junge Kommissarin schüttelt den Kopf. »Und auf dem Festland habe ich noch nichts überprüft. Das muss ich noch machen.«
»Danke, Marieluise, gute Arbeit.«
Bei dem Lob ihres Chefs strahlt sie übers ganze Gesicht.
Anschließend berichten Müller und ich von unseren Gesprächen mit Caroline und Svenja. Carolines Kampferfahrung als Judoka lässt die Kollegen aufhorchen.
»Warum setzt ihr sie nicht fest?«, fragt Jan.
»Da sie Thomson getötet hat, wird es sowieso einen Prozess geben. Aber es besteht keine Fluchtgefahr, daher keine Festnahme. Wenn es Notwehr war, haben wir nichts gegen sie in der Hand. Denn im Fall Kehlheim haben wir immer noch keinen Beweis, dass sie wirklich in Spanien war.«
»Dann sollten wir den schnellstens suchen«, brummt Müller.
Schlaukopf. »Sollten wir«, stimme ich zu. »Wie sieht es eigentlich mit der Überprüfung der Passagiere aus, die neben der Schumacher im Flugzeug saßen beziehungsweise neben der Frau, die ihr Ticket benutzte?«
»Wir haben gerade die Namen erhalten«, entgegnet Marieluise, »aber wir müssen uns noch mit allen in Verbindung setzen und sie befragen.«
Das klingt doch vielversprechend. Irgendjemand muss bei einem der vier Flüge gesehen haben, wer auf den Plätzen, die auf Caroline Schumachers Namen reserviert waren, saß.
Nachdem wir alle Aufgaben für den nächsten Tag verteilt haben, machen wir uns auf den Heimweg. Das heißt, ich mache mich auf den Weg Richtung Wenningstedt. Es ist schon nach neun, deshalb muss ein bisschen Lippenstift und Wimperntusche, vor dem schlecht beleuchteten Spiegel in der Damentoilette aufgetragen, ausreichen.
So ein Rendezvous mitten in der heißesten Phase einer Mordermittlung geht ja eigentlich gar nicht. Früher wäre ich bei solch einem Fall, noch dazu mit zwei Toten, so eingespannt gewesen, dass ich für ein paar Wochen aus dem Leben abgetaucht wäre. Außer Arbeiten, Schlafen, Essen gab es da gar nichts.
Heute ist die Work-Life-Balance auch bei der Polizei angekommen.
Bevor die Ausfälle wegen Burn-out überhandnehmen, dürfen sich die Kollegen lieber mal einen Abend im Kreis der Familie regenerieren, so sie denn eine haben.
Als ich im Kursaal eintreffe, geht die Veranstaltung gerade zu Ende. Sie nennt sich »Song Ping Pong«, das meint einfach, dass verschiedene Sänger, die ansonsten nichts miteinander zu tun haben, abwechselnd auftreten.
Die Eingangstür ist offen, und ich kann in den Saal gehen, wo gerade die Abschluss-Performance läuft. Alle Musiker sind auf der Bühne und singen gemeinsam, und das schon etwas angejahrte Publikum swingt eifrig mit. Der Däne steht rechts auf der Bühne und sieht ganz cool aus.
Noch eine Zugabe, dann verabschieden sich die Musiker unter lautem Beifall, und die Zuschauer gehen langsam nach draußen.
Wir haben uns in der Vorhalle verabredet, wo ein paar Tische aufgebaut sind, an denen die Musiker ihre CDs verkaufen. Das wird immer noch gemacht im Zeitalter von YouTube und Spotify.
Mats ist nicht dabei, wahrscheinlich packt er schon seine Siebensachen zusammen. Tatsächlich, nach etwa zehn Minuten kommt er auf mich zu.
»Hi«, begrüßen wir uns zurückhaltend.
Aber im selben Moment sehe ich noch jemanden. Meine Schwester, sektschlürfend mit ihren beiden Busenfreundinnen, die ich schon als Kind nicht ausstehen konnte. Oh Schreck. Stefanie hat mich auch entdeckt. Sie schießt auf mich zu, ihr Gefolge im Schlepptau.
»Na Schwesterchen, möchtest du nicht mit uns anstoßen? Du hast doch allen Grund zum Feiern.«
»Oh, hast du den Mörder schon geschnappt?«, fragt mich Alina.
»Nein«, höhnt Stefanie giftig, »sie hat meine Oma abgezockt. Sie hat sich ihr Haus unter den Nagel gerissen.«
»Ach«, kommt es von den beiden Grazien.
Wie peinlich ist das denn? »Macht euch einen schönen Abend«, sage ich schnell und eile zum Ausgang, Mats folgt mir.
»Was war das?«, wundert er sich.
Ich atme kurz durch, bevor ich ihm antworten kann. »Meine Schwester. Sie hat diesmal nicht gekriegt, was sie wollte, und das kann sie schwer verkraften.«
»Magst du drüber reden?«
Wir kennen uns doch kaum, was soll das? Ich schüttle den Kopf. Themenwechsel: »Wo hast du deine Gitarre?«
»Meine Sachen hole ich morgen ab.« Er schaut mich an. »Hast du Hunger? Ich könnte jetzt was vertragen.«
»Und wie, ich habe heute Mittag nur ein Brötchen gegessen.«
»Sollen wir zu Gosch rübergehen?«
Ich nicke. Der Sylter Fischtycoon ist direkt nebenan, und die Küche ist bis elf geöffnet. Wir haben Glück und finden einen freien Tisch, einen kleinen Hochtisch in einer Ecke. Beim Essen reden wir nicht viel, aber danach kommen wir ins Quatschen. Ich erzähle ihm doch von Omas Häuschen und ein bisschen von meiner Familie hier auf Sylt. Er spricht von seiner Musik. Im Sommer, während der Schulferien, gibt er oft Konzerte. Wir lachen viel, und ich denke keine Sekunde an meinen Fall, sondern fühle mich einfach wohl. Erst später fällt mir auf, dass er von mir schon recht viel weiß, ich aber so gut wie nichts von ihm. Er hält sich da sehr zurück.
»Ich glaube, ich lasse das Auto stehen und nehme ein Taxi. Das Auto kann ich morgen holen«, erkläre ich, nachdem wir noch ein Glas Wein geordert haben.
Mats dagegen braucht nur ein paar Schritte zu gehen, denn er ist mit seinem VW-Bus hier, einem Camper, dessen Dach sich hochklappen lässt und der draußen auf dem Parkplatz steht.
Wir sitzen also noch eine Weile sehr nett zusammen und kommen uns ein bisschen näher. Okay, wir kommen uns so nahe, dass ich in seinem VW-Bus unter dem aufklappbaren Dach lande.
Daher brauche ich kein Taxi, sondern schleiche mich frühmorgens zu meinem Auto, um nach Hause zu fahren. Und ich muss sagen, Musiker haben sensible Hände.
Als ich in meinem A3 sitze, fühle ich mich wie ein Teenager. Ich öffne das Seitenfenster, drehe das Radio lauter und fahre viel zu schnell, weil ich dringend eine Toilette brauche. Außerdem eine Dusche. Und einen Kaffee.