Es ist nicht zu fassen. Egal, wie früh man hier morgens ins Revier kommt, die anderen sind immer eher da. So hätte ich die Sylter gar nicht eingeschätzt.
Mehrere Zeitungen liegen schon auf dem Tisch, die Inselmorde beherrschen die Titelseiten.
»Engel oder Satan?«, rätselt die Tagespost und zeigt eine Großaufnahme von Caroline im Bikini. Wie sie da wohl rangekommen sind? Kaum gemäßigter geht der Syltblick ran, indem er fragt: »Mord im Liebesrausch?«
Inhaltlich geben beide außer diversen Mutmaßungen und Theorien nicht viel her. Ich lege sie beiseite.
Das ganze Team ist da, und nach einer kurzen Morgenbesprechung machen sich alle an die Arbeit.
Ich fahre zum Surfer-Eck, wo Maik Thomson gearbeitet hat. Es öffnet gerade für den Frühstücksbetrieb, und der Chef, Kalle, steht hinter der Bar. Klein, mit Halbglatze und Schmerbauch passt er so gar nicht zum sportlichen Ambiente, aber ihm ist das egal. Er ist Sylter, daher kennen wir uns flüchtig.
»Was willst du?«, brummt er. »Jetzt fehlt mir mitten in der Saison ein Surflehrer und ein Kellner. Und ich muss sehen, wo ich Ersatz herkriege.« So trauert man als Geschäftsmann.
»Ja, mir tut’s auch leid, dass er gestorben ist. Wie war er denn so?«
Er hebt die Schultern an. »Ein guter Surflehrer, ein guter Kellner. Die Frauen, vor allem die etwas älteren, flogen auf ihn.«
»Aber?«
»Was heißt hier aber? Er hatte allerhand Flausen im Kopf. Es war ihm nicht genug, was er verdiente. Er war neidisch, weil er sah, wie viel Umsatz ich hier machte. Das hat er mir missgönnt.« Kalle seufzt und fährt fort: »Maik war nicht sehr clever, er sah nur das Geld, er checkte nicht, was dahintersteckte, alles aufzubauen und zu bezahlen.«
»Wie hat sich das bemerkbar gemacht?«
»Nun ja, er sprach mich immer wieder darauf an, dass ich ihn am Geschäft beteiligen solle. Dabei hatte er nicht einen Pfennig Kapital, der Spinner. Er hat sich eingebildet, dass hier alles nur deshalb so gut läuft, weil er da ist. Schwachsinn. Außerdem hatte er ständig Affären mit Kundinnen, das hat genervt.«
»Ist das nicht gern gesehen bei euch?«
»Ist mir doch egal, wen er pimpert, auch wenn einem seine Kleine, die Svenja, leidtun kann. Aber so was macht man diskret, und das hat er nicht kapiert. Es ist Schiete, wenn man bestimmte Kundinnen vorzieht, das geht gar nicht. Ich hatte mir sogar überlegt, mir für nächstes Jahr einen anderen Surflehrer zu suchen, bloß jetzt, in der Saison, passt mir das natürlich gar nicht.«
Ich zeige Kalle die Bilder. »Kennst du die Frauen?«
»Das ist doch die Arztfrau, die von dem Toten, und die andere arbeitet bei Sylt-Physio, da war ich auch schon ein paarmal, bei der Chefin. Diese Caroline – so heißt sie, nicht wahr? – die soll den Maik angeblich abgemurkst haben. Stimmt das?«
»Das ist noch längst nicht klar«, winke ich ab.
Jetzt hält sich Kalle die beiden anderen Fotos näher vor die Augen und schüttelt den Kopf. »Die zwei da kenne ich nicht.«
»Hast du Maik schon mal mit einer der Frauen gesehen? Bitte lass dir Zeit und denk nach. Es kann auch schon länger her sein.«
»Willst du einen Kaffee?«
»Warum nicht? Danke.« Ich lächele ihn an, da habe ich jetzt richtig Lust drauf.
Er geht zum Kaffeeautomaten. »Cappuccino?«
Ich nicke.
»Also, ich kann mich nicht erinnern«, sagt er, »ich bin ja auch nicht immer hier. Da musst du mit den Mädels reden.«
»Deine Bedienungen, sind die im Moment hier?«
»Nicht alle natürlich, morgens ist noch nicht viel los, da machen nur zwei Dienst. Geh doch rüber ins Büro, dort ist Clausitz, der kann dir die Liste der Aushilfen ausdrucken.«
»Hat er auch Unterlagen von den Surfkursen?«
»Ja, klar.«
Gut. Ich zeige den beiden Frauen vom Frühdienst die Fotos und befrage sie zu Maik, dann gehe ich zu dem Schuppen, in dem die Surfschule untergebracht ist und wo ein Verschlag als Büro eingerichtet wurde.
Clausitz, ein hagerer Mann mit zerfurchtem Gesicht und weißen Bartstoppeln, sitzt hinter seinem Schreibtisch, den Kopf über einen Ordner gesenkt. Obwohl er mit Sicherheit schon über siebzig ist, muss er sich etwas dazuverdienen, indem er den Papierkram für Kalle erledigt.
Auch ihn kenne ich, er betrieb früher zusammen mit seiner Frau eine kleine Fleischerei in der Friedrichstraße, die sehr gut lief. Doch irgendwann stürzte er sich in eine typische Sylter Karriere:
Es begann mit seiner Scheidung, danach kam das neue Leben, alles eine Nummer größer, das Auto, die zweite Frau, die Villa und die Schulden. Nur nicht das Einkommen. Und plötzlich war alles wieder weg, Haus, Frau, Geschäft. Und wieder begann ein neues Leben: in einer Sozialwohnung, ohne Rente und mit Aushilfsjobs.
Das einzig Gute war, dass man bei dem Personalmangel auf der Insel auch als Greis noch relativ leicht Jobs findet.
»Ah, die Frau Schandarm«, begrüßt er mich. »Willst du mich einsperren?«
Pflichtschuldig lächle ich. »Ich will nur ein paar Informationen.«
»Gruselig, was passiert ist«, legt er los, »er war ein Braschbüdel, aber das hat er nicht verdient, der arme Kerl.«
Aha, Maik Thomson war also ein Großmaul. Außerdem erfahre ich, dass Clausitz mit Maik ständig Trouble hatte, weil dieser seine Kursunterlagen nicht ordentlich führte.
Nachdem Clausitz einmal in Fahrt gekommen ist, kann ihn nichts mehr bremsen. Zu den Fotos weiß er allerdings nichts Hilfreiches zu sagen. Ihm kommen alle Frauen irgendwie bekannt vor, aber irgendwie auch nicht, vielleicht hat er sie schon mit Maik zusammen gesehen, vielleicht auch nicht, es ist höchst irritierend.
»Hier laufen die Deerns im Bikini umher«, meint er schließlich, »da guckt man nicht so auf die Gesichter.« Er deutet auf das Foto von Caroline. »Die war heute in der Zeitung. Und gestern auch. Schrecklich, was hier alles passiert. Sylt verlottert mehr und mehr. Zu viele Badegäste, viel zu viele.«
In den Kursunterlagen der letzten Jahre tauchen unsere verdächtigen Frauen jedenfalls nicht auf, Fehlanzeige. So trete ich, bewaffnet mit den Handynummern aller Aushilfen, die im Sommer im Surfer-Eck mitarbeiten, den Rückzug an. Es sind immerhin achtzehn, da kann sich Leo, unser Jungspund aus Niebüll, dran abarbeiten. Die Liste gebe ich gleich im Revier durch, damit Leo alle anruft und ihnen die Fotos zuschickt. Vielleicht ist ja ein Treffer dabei.
Ich dagegen fahre nach Niebüll, zu Maiks bestem Kumpel, bei dem ich mich angekündigt habe. Im Zug dauert das eine Dreiviertelstunde, die ich gut nutzen kann, um den Bericht für Schütz zusammenzuschustern. Er braucht ihn dringend, weil er ihn bei der Staatsanwaltschaft vorlegen muss. Leider schlafe ich schon bei der ersten Seite ein. So wirklich ausgeruht ist man nach einer kurzen Nacht im VW-Bus nicht. Ich schaffe es gerade noch, im letzten Moment in Niebüll aus dem Zug zu steigen, fast wäre ich weitergefahren.
Maiks bester Kumpel heißt Jens Martens und ist ein paar Jahre älter als Maik, ich schätze ihn auf fünfunddreißig. Hageres Gesicht, Pferdeschwanz, ölverschmierte Arbeitshosen.
Er legt einen Apparat ab und kommt hinter einem alten Opel Calibra hervor. Ich kenne das Auto, weil mein Vater mal so eins hatte.
»Mein Beileid für den Tod Ihres Freundes.«
»Danke. Kommen Sie, wir gehen ins Büro.«
Das Büro ist eine abgeteilte Ecke der Werkstatt mit Metallregalen und einem Schreibtisch, auf dem ein Computer und ein Drucker stehen. Aber zumindest ist ein Besucherstuhl vorhanden, auf den ich mich setze. Martens nimmt hinter dem Schreibtisch Platz.
»Schreckliche Sache, ich kann’s immer noch nicht glauben«, fängt er an.
»Wann haben Sie Ihren Freund zuletzt gesprochen?«
»Einen Tag, bevor er gestorben ist, letzten Montag.«
Das stimmt mit Maiks Handydaten überein.
»Darf ich fragen, über was Sie gesprochen haben?«
»Klar, Sie dürfen alles fragen.« Er grinst mich anzüglich an, was ich ignoriere.
»Wir haben uns verabredet, für morgen. Ich wollte übers Wochenende nach Sylt rüberfahren und mal wieder surfen. Ich kann’s noch gar nicht glauben, dass Maik nicht mehr da ist. Was ist eigentlich passiert? Warum hat die ihn umgebracht? Das ist völlig absurd.«
»Wie meinen Sie das?«
»Maik ist, ich meine, war ein völlig netter, harmloser Mensch. Warum sollte ihn jemand umbringen? Noch dazu eine Frau. Frauen standen auf ihn. Da konnte man neidisch werden.«
»Wissen Sie etwas über eine neue Beziehung von Maik?«
»Maik war doch verheiratet.« Diesmal war sein Lächeln eher verlegen.
»Das wissen wir. Ich frage Sie jetzt als sein bester Freund, ob Sie etwas über andere Beziehungen von Maik wissen. Hat er in der letzten Zeit jemanden kennengelernt?«
»Maik hat andauernd jemanden kennengelernt. Ist doch klar, in der Kneipe und in den Surfkursen. Da wimmelt es nur so von Frauen.«
»Wir wissen, dass er neben seiner Ehe eine weitere Beziehung hatte. Was können Sie mir darüber sagen?«
Er blickt mir in die Augen. »Ehrlich, ich weiß nichts darüber. Maik hatte immer irgendwas nebenbei laufen, das war nie was Ernstes.«
»Wollte er sich von seiner Ehefrau trennen?«
»Na ja, die Ehe war ein Fehler, das war ihm schon klar. Ich habe es ihm gleich gesagt, Svenja hätte das Kind auch kriegen können, ohne dass er sie gleich heiratet. Aber die haben alle Druck gemacht. Svenja, seine Eltern, ihre Eltern. Das kommt davon, wenn man auf einer Insel wohnt, wo jeder jeden kennt.«
»Also wollte er sich von seiner Frau trennen?«
Jens Martens fasst sich ans Kinn und überlegt kurz. »Das kann ich nicht sagen. Ab und an hat er schon mal davon gesprochen, doch er hing an dem Kleinen. Ich weiß nicht, ob er es ernsthaft vorhatte.«
»Wir wissen, dass er eine Frau kennengelernt hat. Eine Frau, mit der er Pläne schmiedete. Sie beide waren doch enge Freunde, da hat er Ihnen mit Sicherheit etwas anvertraut.«
Nun zögert Martens. »Darüber weiß ich nichts. Er hat nur in letzter Zeit öfter mal gesagt, dass er keinen Bock mehr hat, weiter für Kalle zu arbeiten, sondern dass er eine Surfschule aufmachen will. Er meinte, es wäre alles geheim und er könne nicht darüber reden. Das ist alles, was ich weiß, wirklich.«
»Nehmen Sie sich Zeit und denken Sie nach!« Ich schaue ihn eindringlich an.
Mit einem offenen Blick beteuert Martens: »Ich habe keine Ahnung, ehrlich. Das ist alles so eine Scheiße. Dass Maik tot ist! Sie haben die Mörderin doch schon. Warum wollen Sie das alles wissen?«
Ehrlich antworte ich: »Wir stehen erst am Anfang der Untersuchung. Und es ist längst nicht klar, ob der Tod Ihres Freundes ein Unfall war oder nicht. Wir fragen uns, warum er bei Caroline Schumacher war. Und wir hoffen, dass Sie, als einer seiner besten Freunde, etwas darüber wissen.«
»Ich habe noch nie etwas von einer Caroline Schumacher gehört. Und ich habe sie auch noch nie gesehen, außer hier, in der Zeitung.« Er deutet auf die Titelseite der Morgenzeitung.
»War Ihr Freund jähzornig?«
»Was soll das? Ich sagte schon, er war ein netter Kerl, ein guter Kumpel. Er war immer locker und entspannt.«
»Ich frage das, weil er Frau Schumacher angegriffen hat.«
»Das kann ich nie und nimmer glauben. Wer weiß, was die erzählt?«, brummt er.
Ich blicke ihn an. »Was wissen Sie über Pläne Ihres Freundes, nach Mallorca zu gehen?«
Er erwidert offen meinen Blick und zeigt beim Gestikulieren seine Handflächen. »Maik macht manchmal Urlaub auf Malle, ich war auch schon mit ihm da zum Surfen. Klar haben wir auch rumgesponnen, ob wir dort ein Geschäft aufmachen könnten. Ich eine Werkstatt und er eine Surfschule. Aber das war nur Gequatsche, das war nicht ernst gemeint.«
»Am Mittwochabend, als er sein Auto in die Werkstatt gebracht hat, wie war er da?«
»Wie immer. Ich habe mir sein Auto angeguckt, danach waren wir im Wattwurm und haben einen Burger gegessen und ein paar Bier getrunken. Ganz normal. Um elf oder so hat er den Zug genommen und ist zurückgefahren.«
»Über was haben Sie gesprochen?«
»Nichts Besonderes. Nur Blabla. Keine Ahnung.«
Jens wirkt ehrlich und hilfsbereit, aber mehr ist von ihm nicht zu erfahren. Sein Kumpel Maik sei ein netter Typ gewesen, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Das bringt uns leider keinen Schritt weiter.
Auf dem Rückweg klemme ich mich im überfüllten Zug zwischen wohlgenährte Urlauber und dicke Koffer. Tja, Freitag, Anreise für Urlauber und Wochenendgäste. Als ich den Schaffner sehe, frage ich auf gut Glück, ob er zufällig letzte Woche Mittwoch Spätdienst hatte. Er verneint. Außerdem erklärt er mir, dass in den späten Abend- und Nachtzügen sowieso nicht mehr kontrolliert wird, weil es an Personal fehlt.
Im Revier liegt eine Nachricht auf meinem Schreibtisch. Eine Frau Duwe will mich dringend sprechen. Aha, die Sprechstundenhilfe der Praxisklinik, doch als ich in der Praxis anrufe, läuft nur das Band: »Wir sind am heutigen Freitag aus persönlichen Gründen nur bis elf Uhr erreichbar.« Klar, die Beerdigung. Ich probiere es auf ihrem Mobiltelefon, und tatsächlich, sie meldet sich.
»Oh, Frau Eriksson«, sagt sie zögernd, »da ist etwas, was ich Ihnen sagen muss. Mir ist etwas aufgefallen.«
Ich warte, bis sie weiterspricht.
»Am Dienstag, als meine Tochter nach Amerika abgeflogen ist … Moment«, unterbricht sie sich plötzlich.
Ich höre, wie sie mit jemandem redet, aber ich kann nichts verstehen.
Dann spricht sie wieder zu mir, diesmal mit veränderter Stimmlage: »Ich melde mich wieder, ich rufe Sie an.«
Die Leitung ist tot. Frau Duwe wurde offensichtlich gestört und hat aufgelegt.
Schiete!, denke ich. Was hat sie nur am Dienstag, als ihre Tochter abgeflogen ist, bemerkt? Das war doch der Tag, an dem Kehlheims Mörder aller Wahrscheinlichkeit nach Spanien geflogen ist. O Gott, sie hat ihn gesehen. Sofort versuche ich noch mal, sie anzurufen, aber Frau Duwe nimmt nicht mehr ab.
In dem Moment kommt Müller rein. Dunkelgrauer Anzug, graues Hemd. Er hat also im Gegensatz zu mir an die Beisetzung gedacht. Doch ich trage zufällig eine dunkelblaue Bluse zur dunklen Jeans, so werde ich wenigstens nicht auffallen wie ein bunter Hund.
»Bist du so weit?«, fragt er mich.
Ich nicke, schnappe meine Handtasche, und wir machen uns auf den Weg. Unterwegs berichte ich Müller von dem Anruf bei Frau Duwe. Er horcht auf, und wir sind uns einig, dass wir sie auf der Trauerfeier sofort ansprechen müssen.
Die schmucke weiße Kirche mitten auf dem alten Westerländer Friedhof ist so voller Menschen, dass viele draußen vor der Tür stehen müssen. Allerdings passen in die kleine Kirche auch nicht allzu viele rein. Wir stellen uns zu den Draußengebliebenen und schauen uns um. In Krimis taucht der Mörder ja immer irgendwo bei der Beerdigung auf und verhält sich auffällig. Hier ist das natürlich nicht der Fall. Die Leute verhalten sich gesittet, sie wirken höchstens etwas gelangweilt. Wahrscheinlich stehen sich hier draußen Patienten, Nachbarn, entfernte Bekannte und einige Neugierige die Füße in den Bauch. Ich erkenne auch ein paar Pressevertreter.
Nach ungefähr fünfzehn Minuten ertönt »Time to Say Goodbye« von Bocelli, und die Trauergäste strömen aus der Kirchentür. Viele fremde Gesichter, aber auch einige Bekannte. Die Sprechstundenhilfe, Marion Ahlers, mit rot verweinten Augen, Frau Hofmann von Sylt-Physio, Dr. Schiller mit Frau, der zweite Bürgermeister von Westerland, ebenso wie der Bürgervorsteher und einige CDU-Funktionäre, die mir bekannt vorkommen. Ganz zum Schluss verlässt die Witwe im kleinen Schwarzen und mit großem Hut die Kirche, begleitet von ihrem Ganovenbruder und dem Pfarrer.
Frau Duwe kann ich nirgends entdecken, vielleicht habe ich sie bei dem Gewusel ja übersehen. Ich versuche, sie auf ihrem Handy zu erreichen, ohne Erfolg. Der Trauerzug bewegt sich von der Kirche zum Urnengrab, das nicht weit entfernt ist. Auf dem Weg spreche ich Marion Ahlers an.
»Keine Ahnung«, sagt sie, »Silke war heute Morgen in der Praxis und wollte eigentlich zur Beerdigung kommen. Aber sie ist nicht da, komisch.«
Auch Dr. Schiller, den ich anschließend anspreche, hat sie nicht bemerkt. »Vielleicht hat sie es sich anders überlegt«, meint er, »sie war noch in der Praxis, als ich gegangen bin. Möglicherweise hat sie es nicht mehr rechtzeitig geschafft, hierherzukommen. Was wollen Sie denn von ihr?«
»Sie hat mich angerufen, weil sie mich sprechen wollte«, erkläre ich.
»Kann mir nicht vorstellen, weshalb«, murmelt der Arzt und wendet sich ab.
»Schon seltsam, dass sie nicht zur Beerdigung kommt, hoffentlich ist ihr nichts passiert«, sage ich zu Müller. »Ich möchte wissen, wer sie unterbrochen hat.«
»Verdammt, wo ist sie?«, entgegnet er.
Ich nicke besorgt. »Wir müssen sowieso noch mal in die Praxis, falls da etwas dran sein sollte mit den falschen Abrechnungen. Weißt du was? Ich fahre schon mal in die Praxisklinik und schaue nach, ob sie da ist.«
»Gut«, stimmt Müller zu, »solange behalte ich unsere Verdächtigen hier im Auge. Bis nachher.«
In der Arztpraxis ist kein Mensch. Alles ist geschlossen, die Tiefgarage leer, und das Haus wirkt tot.
Spontan beschließe ich, zu Silke Duwes Wohnung zu fahren. Sie befindet sich im Langweg in Tinnum, im Dachgeschoss eines alleinstehenden Hauses. Als ich läute, macht keiner auf, aber aus dem Erdgeschoss kommt gerade eine alte Frau, mit ihrem Gehstock und einer Mülltüte kämpfend. Frau Tönjes ist Silke Duwes Vermieterin, schon seit zwölf Jahren, wie sie erzählt. Ich erfahre, dass Frau Duwe hier mit ihrer Tochter lebt, die jedoch momentan im Ausland ist, und ihrer Katze. Heute hat Frau Tönjes ihre Mieterin noch nicht gesehen.
»Die ist doch bei der Arbeit«, meint sie, »und danach wollte sie zur Beerdigung ihres Chefs gehen.«
»Sagen Sie bitte Frau Duwe, sie möchte mich anrufen, wenn sie zurückkommt.«
Sie nickt. »Können Sie die Mülltüte mitnehmen? Da vorne ist die Tonne.«
Ich probiere es noch mal auf Silke Duwes Handynummer, aber es ist immer noch ausgeschaltet. Irgendwie bin ich jetzt sehr unruhig. Am liebsten würde ich das Handy orten lassen. Obwohl dazu natürlich offiziell kein Grund besteht, sie ist eine erwachsene Frau und muss nicht erreichbar sein. Wenn nur dieses ungute Gefühl nicht wäre.
Im Revier wähle ich noch einmal Duwes Handynummer, aber ihr Telefon ist immer noch ausgeschaltet. Kein Klingelzeichen, keine Mailbox. Was ist da bloß los?
Ich rufe Sven in der Kriminaltechnik in Kiel an. Wir haben uns vor ein paar Jahren bei einer Fortbildung mal etwas besser kennengelernt, und manchmal ist er bereit, mir einen Gefallen zu tun. Natürlich erst nach langem Hin und Her.
Auch diesmal. Doch Fehlanzeige, das Handy ist nicht nur ausgeschaltet, sondern hat anscheinend auch keinen Akku mehr. Daher kann Sven nur den Mast nennen, bei dem sich das Telefon zuletzt eingeloggt hat, genau bis zwölf Uhr dreißig. Der Mast steht in Westerland, ganz in der Nähe der Praxisklinik.
Gleich darauf habe ich Müller am Apparat, der sich schon auf dem Rückweg von der Beerdigung befindet. Er bestätigt, dass sich Dr. Schiller und auch die Ahlers im Waldcafé befinden, wo eine Art Leichenschmaus stattfindet. Ich bitte ihn, noch mal bei der Praxisklinik vorbeizufahren, um nachzuschauen, ob jetzt jemand dort ist.
Doch als er kurz darauf ins Revier kommt, schüttelt er den Kopf. Kehlheims Praxisklinik ist geschlossen.
Ich rufe bei ihrer Kollegin, Frau Ahlers, an und frage nach der Familie und nach Freunden von Silke Duwe. Frau Ahlers erklärt mir, dass die Eltern ihrer Kollegin auf dem Festland leben und Silke wenig Kontakt zu ihnen hat. Ihre beste Freundin sei Maria Behring, sie ist Filialleiterin bei Famila, einem Verbrauchermarkt in Westerland. Außerdem hat Silke Duwe eine Tochter, die allerdings gerade als Austauschschülerin nach Amerika gegangen ist. Der Vater ist nicht bekannt.
Als ich Näheres über die Tochter wissen will, kann sie mir nur sagen, dass sie Lisa Duwe heißt, circa siebzehn Jahre alt und irgendwo in Amerika ist. Wo genau weiß die Ahlers nicht.
Maria Behring erreiche ich an ihrem Arbeitsplatz. Sie weiß auch nicht, wo ihre Freundin ist, aber morgen Abend sei sie mit ihr verabredet, da wollen sie zusammen essen gehen. Ansonsten könne sie sich vorstellen, dass Silke heute einen längeren Spaziergang am Ellenbogen macht, das brauche diese ab und zu zur Entspannung. Ich bitte Maria Behring, mich anzurufen, wenn die Duwe sich bei ihr meldet, und lege auf, nicht im Mindesten beruhigt.
Anschließend ist Zeit für die Pressekonferenz, wo wir langsam den Unmut der Journalisten auf uns ziehen, weil wir wieder keine Neuigkeiten haben. Vom Verschwinden der Duwe berichten wir noch nichts, und wir haben ja tatsächlich nichts in der Hand.
Bei der anschließenden Teambesprechung hören wir dann etwas Verblüffendes.
Der Passagier, der auf jedem der Nachbarsitze gesehen wurde, wurde von allen Sitznachbarn auf allen Flügen als Mann beschrieben. So viel zu unserer Theorie von einer Frau, die mit dem Ticket nach Bilbao geflogen ist. Dieser Fall wird immer verwirrender.
»Verdammt!«, schimpft Müller. »Sind die alle verblödet? Habt ihr mit denen selbst gesprochen?«
Marieluise und Amar nicken wortlos.
»Es war auf jedem Flug ein Mann, aber ich glaube, es war nicht immer derselbe«, sagt Marieluise und liest die ersten Beschreibungen vor.
»Hamburg-Frankfurt: älterer Mann, klein, circa 1,60 m, Übergewicht, Anzug, Glatze. Frankfurt-Bilbao: Mann, ungefähr dreißig Jahre, circa 1,80 m groß, schlank, dunkelhaarig, Bart …«
»Okay, es reicht! Was für ein Irrsinn!« Müller haut frustriert mit der Faust auf den Tisch.
»Ich könnte mir vorstellen, dass die Frau, wer auch immer das Ticket gebucht hat, den Platz jedes Mal mit irgendeinem Mann getauscht hat«, ergänzt Amar.
»Wie abstrus ist das denn, das gibt’s doch alles nicht!« Müller ist völlig entnervt. »Und die Stewardessen, konnten die etwas dazu sagen?«
»Die haben nur ihre Platzlisten, und da steht Caroline Schumacher drauf.«
»Ja, merken die nicht, wenn auf dem Platz ein Mann sitzt?«
»Wo denkst du hin?«, frage ich ihn. »Meinst du, die schauen während des Fluges auf die Namenslisten? Das passiert doch höchstens in der First Class, wo sie die Passagiere mit Namen ansprechen müssen.«
Wir starren uns an.
»Also eins ist klar, unser Täter weiß, wie man Verwirrung schafft«, ist Müllers Kommentar, »was für eine Scheiße!«
Hier kommen wir nicht weiter. Ich breche die Diskussion ab und spreche das Verschwinden von Silke Duwe an. »Wir müssen uns noch einmal in der Praxisklinik umschauen. Hier war ihr Handy zuletzt eingeloggt. Vielleicht finden wir einen Hinweis?«
»Wir haben keinen Durchsuchungsbeschluss«, wirft Müller ein.
»Wir rufen Dr. Schiller an und bitten ihn, die Tür aufzuschließen. Wenn er sich weigert, lassen wir sie aufbrechen. Gefahr im Verzug.«
Nach einigem Hin und Her erklärt sich Dr. Schiller bereit, zur Praxisklinik zu fahren und uns einzulassen. Als der Arzt dort ankommt, ist er schlecht gelaunt und mault uns an, aber er schließt auf. Die Praxisräume wirken frisch gereinigt, der Empfangstresen, also Silke Duwes Arbeitsplatz, ist ordentlich aufgeräumt. Unter Schillers argwöhnischer Beobachtung suchen wir nach Duwes Handy, entdecken es jedoch nicht. In einer Schublade, wo sie persönliche Utensilien aufbewahrt, Schminksachen, Tampons, Bonbons, Schokoriegel und Nähzeug, finden wir nichts Ungewöhnliches.
»Haben Sie endlich alles untersucht?«, fragt Schiller ungehalten.
»Sie haben doch einen Keller. Können wir den noch sehen?«
»Bitte sehr, die Dame!« Unwillig geht er voraus.
Auch im Keller, wo der Praxisbedarf in Regalen und Stahlschränken gelagert ist, gibt es nichts Besonderes zu entdecken. Keine verbotenen Medikamente, keine Spuren der verschwundenen Angestellten.
»Reicht es endlich?«, sagt er unwirsch. »Ich muss jetzt nach Hause und möchte Sie bitten, zu gehen.«
»Interessiert es Sie nicht, wo sich Ihre Angestellte befindet?«, frage ich ihn.
»Na, hier im Keller jedenfalls nicht. Sie ist eine erwachsene Frau. In ihrer Freizeit kann sie tun und lassen, was sie will. Machen Sie sich doch nicht lächerlich«, fährt er mich an.
Das nächste Teammeeting ist für morgen früh angesetzt. Doch irgendwie geht mir die Duwe nicht aus dem Kopf, und auf dem Weg zum Pflegeheim meiner Oma fahre ich über Tinnum, um zu schauen, ob sie inzwischen zu Hause aufgetaucht ist. Leider ohne Erfolg. Auch in der Nordseeklinik ist niemand eingeliefert worden. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass da etwas nicht stimmt. Ganz und gar nicht.