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Frisch ist was anderes, denke ich, als ich am Dienstag in die Runde blicke. Es gibt immer einen Punkt in den Ermittlungen, wo man das Gefühl hat, in einer Sackgasse zu hängen und nicht weiterzukommen. An diesem Punkt sind wir jetzt angelangt. Da hilft erfahrungsgemäß nur eins: weitermachen, abarbeiten, was zu tun ist.

Der Vormittag geht mit den Verhören der Hauptverdächtigen drauf. Die Schillers, ebenso wie die Witwe mit Bruder und dessen Michelle. Alle getrennt natürlich. Das Ergebnis ist gleich null. Sie sind bestens von ihren Anwälten abgeschirmt, es ist zum Verrücktwerden.

Wir beschließen, das Leben jedes Einzelnen auseinanderzunehmen, auch das von Caroline, da noch die geringe Chance besteht, dass sie sich am Abend mit der Duwe getroffen hat. Caroline kommt aus einem Dorf in der Nähe von Husum, wo noch ihre Mutter lebt, und ich habe mich telefonisch mit dieser verabredet, während Müller nach Harrislee fährt, um sich auf dem Hof der Eltern von Myriam Kehlheim und Fred Novak umzuhören. Amar versucht so viel wie möglich über die Schillers zu erfahren, und während die anderen Kollegen sich um die Hotline kümmern, wird Marieluise den Kollegen aus Kiel, der jeden Moment hier aufschlägt, über den Fall informieren.

Ich mache mich jedenfalls erst mal davon und fahre zum Autozug.

Seit es zwei verschiedene Shuttleanbieter über den Hindenburgdamm gibt, die abwechselnd fahren, ist die Überfahrt aufs Festland komplizierter geworden. Man muss sich für eine Schlange entscheiden, in die man sich einreiht, entweder beim blauen RDC-Autozug oder beim roten Sylt Shuttle der Deutschen Bahn. Nachdem ich ein Insulaner-Ticket beim Autozug gelöst habe, stelle ich meinen Audi in die Reihe der wartenden Fahrzeuge. Kurz darauf höre ich aus den Lautsprechern eine Ansage. Der Autozug fällt aus. Schaden am Triebwagen. Der nächste Zug, der losfährt, ist jedoch ein Sylt Shuttle, aber ich habe ja das Ticket für den Autozug gelöst. Also ärgere ich mich erst mal. Doch dann sehe ich, wie ein Fahrzeug aus meiner Warteschlange herausschert und rüberfährt zum Shuttle der Bahn. Er macht es einfach, obwohl man das eigentlich nicht darf.

Was soll’s?, denke ich. Lass das Ticket sausen. Ich schere ebenfalls aus der Warteschlange des Autozuges und fahre zum Schalter der Bahn. Dort kaufe ich mir ein neues Ticket. Kurz darauf bin ich auf dem Zug des Sylt Shuttle, unterwegs Richtung Festland.

Plötzlich läuft es mir heiß über den Rücken. Moment mal.

Ich habe ein Ticket für den 13-Uhr-Autozug gelöst und bin mit einem ganz anderen gefahren. Das kann die Schumacher doch genauso gemacht haben. Damit ist ihr Alibi nichts mehr wert, denn auch mit dem 14-Uhr-Shuttle kann sie kurz nach drei bei ihrer Freundin angekommen sein, wenn sie nicht angehalten hat.

Das heißt, sie hatte eine Stunde mehr auf Sylt, um die Duwe zu treffen. Knapp, aber möglich. Damit ist sie wieder in der Gruppe der Hauptverdächtigen. Ich wähle Müllers Nummer.

»Was die mit meiner Tochter machen! Das ist so eine Schweinerei. So kann man doch nicht mit einem umgehen. Caroline hat sich nur gewehrt, und jetzt wird sie als Mörderin dargestellt. Soll sie sich denn abmurksen lassen?«

Herausfordernd blickt mich Carolines Mutter an, während sie, die Hände verschränkt, in der Eingangstür ihres Reihenhäuschens steht. Sonja Schumacher, eine kleine korpulente Frau um die sechzig, sonnen- oder solariengebräunt und mit blondiertem Kurzhaarschnitt. Die viel zu enge Baumwollhose spannt über ihre mächtigen Schenkel, und über ihrem Bauch wölbt sich eine blaue Karobluse.

»Darf ich reinkommen?«, frage ich, nachdem ich mich vorgestellt habe.

Sie geht voran ins Wohnzimmer. Blitzsauber, überladen mit Nippes und an den Wänden jede Menge Fotos ihrer schönen Tochter.

Wir setzen uns.

»Das ist doch eine Gemeinheit, wie die mit meiner Tochter umgehen …«, zetert sie sofort wieder.

Ich falle ihr ins Wort: »Ist Caroline Ihr einziges Kind?«

Sie nickt. »Und ich habe sie alleine großgezogen. Ich habe immer gearbeitet für sie, aber es ist auch was aus ihr geworden! Und jetzt das!«

»Was ist mit ihrem Vater?«

»Der hat sich aus dem Staub gemacht. Es ging auch so.«

»Kennt Caroline ihren Vater?«

»Nein, wozu auch? Es war ein Fehler. Passt Ihnen das etwa nicht?«, fährt sie mich an.

»Um Gottes willen«, entgegne ich, »heute ziehen viele Frauen ihre Kinder alleine groß. Das ist doch inzwischen üblich.«

»Früher war das nicht so. Da gab es eine Menge Leute, die sich das Maul zerrissen haben.«

»Gab es Probleme?«

»Ach was, ich habe denen das Maul gestopft. Ich lasse mir nichts gefallen.«

»Und wie war es mit Caroline? In der Schule?«

Sofort geht sie in Verteidigungshaltung: »Was fragen Sie da? Wie soll es schon gewesen sein? Sie war eine gute Schülerin.«

»Es war sicher nicht einfach für Sie. Sie mussten arbeiten und für Ihre Tochter sorgen«, entgegne ich verständnisvoll.

»Meine Caroline war ein braves Kind. Und da ich geputzt habe, konnte ich mir die Arbeit einteilen. Ich habe viele Geschäfte unter meinen Kunden, die Apotheke hier, eine Werkstatt, Büros. Da habe ich gearbeitet, wenn sie in der Schule war, und abends, wenn sie schon schlief. Und öfter auch mal am Wochenende.«

»Wo ging sie eigentlich zur Schule?«

»Erst hier in die Grundschule, später nach Husum ins Gymnasium. Meine Caroline war schlau, sie hat sogar das Abitur gemacht.«

Ich notiere mir den Namen der Schule sowie die ihrer Klassenlehrer.

Sofort ist sie wieder misstrauisch: »Warum wollen Sie das alles wissen?«

Ohne darauf einzugehen, erkundige ich mich: »Hatte sie enge Freunde hier am Ort?«

»Schon, früher mal, aber später hatte sie Freunde aus Husum, die hat sie meist in der Schule getroffen, nicht hier.«

»Können Sie mir Namen nennen?«

»Was wollen Sie denn damit? Wollen Sie die Leute ausfragen? Damit die noch mehr quatschen. Ist ja schon schlimm genug, was in der Zeitung steht«, antwortet sie verärgert.

Ich wechsle das Thema: »Sehen Sie Ihre Tochter oft?«

Hier kommt sie ins Stocken. »Caroline hat einen guten Job und viel zu tun. Die kann nicht ständig in der Gegend herumfahren. Die muss arbeiten, genau wie ich.«

»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«

»Wir telefonieren. Wir arbeiten beide, und da hat man keine Zeit. Sie ist die beste Therapeutin in dieser Praxis, da kann sie nicht weg. Außerdem will sie sich mal selbstständig machen, da muss man was für tun. Von nichts kommt nichts!«

In dem Moment wird die Haustür geöffnet, und ein Mann tritt ein. Er stellt sich in die Tür.

»Patrick, bist du schon da? Das ist die Polizistin, von der ich dir erzählt habe, die wegen Caroline gekommen ist.« Dann erklärt sie mir: »Das ist mein Verlobter, er wohnt hier.«

Patrick lässt sich schwer aufs Sofa fallen, während sie aufspringt, um ihm eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank zu holen.

Er trinkt einen kräftigen Schluck und schüttelt den mächtigen Kopf. »Das ist gar nicht gut, was die Zeitungen da schreiben, gar nicht gut.«

»Das habe ich der Polizistin auch schon gesagt«, bestärkt ihn Carolines Mutter. So langsam wird es mühselig.

Ich stelle auch dem Verlobten noch einige Fragen, doch er hat Caroline nur einmal gesehen, vor drei Jahren, als sie zum letzten Mal hier war. Ein kurzer Stopp auf dem Weg nach Hamburg. Tja, die Schumacher hat ihre Kindheit anscheinend ganz und gar hinter sich gelassen. Was man irgendwie verstehen kann.

Ich begebe mich auf den Weg nach Husum und versuche unterwegs telefonisch eine ehemalige Klassenlehrerin von Caroline zu erreichen. Tatsächlich, sie ist zu Hause und will sich mit mir treffen.

»Ich habe gelesen, was in den Zeitungen über Caroline berichtet wurde«, empfängt mich Frau Dr. Maus-Künzel, »es ist einfach traurig.«

Annegret Maus-Künzel, was für ein Name, sitzt mir ebenfalls im Wohnzimmer gegenüber, aber das Ambiente sieht hier etwas anders aus. Ebenso blitzsauber, doch elegant möbliert und kein bisschen überladen.

Die Lehrerin, eine schlanke, elegante Frau mit einem gepflegten grauen Bob, bietet mir einen Cappuccino an, den ich gerne annehme. Ungefragt erzählt sie, dass sie das Mädchen während eines Teils der Mittelstufe und der gesamten Oberstufe in Mathematik und Englisch unterrichtet hat, außerdem war sie lange Zeit ihre Klassenlehrerin.

»Das heißt, Sie kennen Caroline recht gut?«

»Na ja, wie man seine Schüler so kennenlernen kann. Sie wissen ja selbst, dass die Klassen immer größer werden und der Druck zunimmt. Man hat als Lehrer leider nicht die Möglichkeit, sich mit den einzelnen Schülern intensiv auseinanderzusetzen.«

»Wie war Caroline? Schildern Sie mir einfach Ihre persönliche Meinung.«

Sie ist vorsichtig: »Wie gesagt, meine Kenntnis der Schüler ist begrenzt, wenn ich etwas über sie sage, ist es sehr persönlich gefärbt. Es ist nur eine einzelne Meinung, mehr nicht.«

»Das ist mir klar. Ich werde das auch so gewichten. Wir sprechen mit vielen verschiedenen Leuten«, versichere ich ihr.

Sie räuspert sich. »Tja, wie soll ich das sagen? Sie war eine durchschnittliche Schülerin. Aber das entsprach nicht ihren Fähigkeiten, denn Caroline war von ungewöhnlich schneller Auffassungsgabe, sie erfasste Zusammenhänge, auch komplizierte, schneller als alle anderen in ihrer Klasse und hatte ein extrem gutes Gedächtnis. Leider hat sie nichts aus diesen Fähigkeiten gemacht. Das erlebt man ja öfter, sie hat sich einfach nicht für die Schule oder den Lernstoff interessiert. Auch in anderen Fächern, ich habe mich mit den Kollegen ausgetauscht. Sie hat nur das Allernötigste getan, ich glaube nicht, dass sie je zu Hause gelernt hat. Aber dank ihrer außergewöhnlichen Intelligenz hat das gereicht, um durchzukommen.«

»Was glauben Sie, woran das lag? Ich meine, dass sie nichts für die Schule getan hat?«, hake ich nach.

»Ich habe mehrfach versucht, mit ihr zu sprechen, leider war sie sehr verstockt. Caroline war ein bildhübsches Mädchen und immer sehr modisch gekleidet, soweit ich das beurteilen kann. Ich hatte das Gefühl, dass sie auf uns Lehrer herabgeschaut hat, weil wir nicht ihrem Anspruch an äußerem Auftritt genügten.«

»Das wirkt nicht sehr sympathisch.«

Dr. Maus-Künzel hebt die Schultern. »Sie hatte auch nicht viele Freunde in der Klasse, wie ich das mitbekommen habe. Wir waren ja auf der Abschlussfahrt in Rom, da erfährt man etwas mehr über die Kontakte der Schüler untereinander.«

»Was glauben Sie, woran lag das?«

»Ich denke, sie hatte kein Interesse an ihren Mitschülern. Sie war sehr beliebt bei den Jungs, besser gesagt, die Jungs himmelten sie an, aber auch da habe ich nicht gehört, dass sie zu einem Jungen der Schule eine Beziehung hatte. Ich habe einige Male gesehen, wie sie von einem Mann im Wagen von der Schule abgeholt wurde. Er war mindestens doppelt so alt wie sie.«

»Wissen Sie, wer das war?« Ich nehme einen Schluck von meinem Cappuccino.

Die Frau schüttelt den Kopf. »Nein, keine Ahnung.«

»Gab es eine Schülerin, mit der sie befreundet war?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Waren Sie sehr überrascht, als Sie die Berichte über Caroline in der Zeitung sahen?«

Sie schaut mich an. »Ehrlich gesagt?«

»Ich bitte drum.«

»Ich war nicht sehr überrascht.«

»Das wundert mich jetzt«, erwidere ich. »Können Sie mir den Grund nennen?«

Die Lehrerin zögert. »Es … es gab mal einen Vorfall.«

»Einen Vorfall?«

Sie blickt auf. »Ich möchte auf keinen Fall, dass Sie das offiziell verwenden.«

Ich schaue ihr offen in die Augen und versichere: »Ich schreibe nicht mit. Sie brauchen mir keine Namen zu nennen. Ich möchte nur den Charakter von Caroline besser verstehen.«

Annegret Maus-Künzel trinkt erst mal einen Schluck Kaffee. »Es ist schon etwas länger her. Sie war damals in der 9. Klasse. Wir hatten einen neuen Referendar in der Schule, Dr. Lanzen, er hatte die Fächer Deutsch und Französisch, ein junger, idealistischer Kollege, der sich viel Mühe gab, seinen Schülern etwas beizubringen, doch er verlangte auch viel. Er unterrichtete Caroline damals, das war auch das erste Jahr, in dem ich ihre Klassenlehrerin war.«

Sie nimmt einen weiteren Schluck aus der Tasse. Es fällt ihr sichtlich schwer, die Geschichte zu erzählen. »Caroline war es, wie gesagt, nicht gewohnt, zu Hause zu lernen oder ihre Hausaufgaben zu machen, bei ihm biss sie jedoch auf Granit. Er kontrollierte ihre Hausaufgaben, was ihr mehrere Einträge ins Klassenbuch und Strafarbeiten eintrug. Außerdem bestellte er ihre Mutter in die Schule. Für Caroline war das alles sehr ärgerlich. Sie mochte Dr. Lanzen überhaupt nicht und provozierte ihn des Öfteren, wie ich später erfahren habe. Dann kam der Tag, an dem es passierte. Sie hatte wieder keine Hausaufgaben erledigt, und Lanzen bat sie nach der Unterrichtsstunde, es war die letzte an diesem Tag, kurz dazubleiben, weil er mit ihr sprechen wollte. Heute wäre man da vorsichtiger.«

Sie räuspert sich wieder, bevor sie fortfährt. »Nach der Deutschstunde blieb sie also mit Dr. Lanzen im Klassenzimmer, während die anderen Schüler nach Hause gingen. Das Lehrer-Schüler-Gespräch fand unter vier Augen statt. Lanzen, so berichtete er später, warnte Caroline, dass sie in seinen beiden Fächern durchfallen würde, wenn sie sich nicht mehr bemühte. Sie hörte zu, ohne ein Wort zu sagen. Plötzlich rannte sie raus und schrie nach Hilfe.

Ihre Version war eine ganz andere. Sie behauptete, Lanzen hätte sie angefasst, festgehalten, ihr unter den Rock gegriffen und so weiter.

Lanzen hatte keine Chance. Das Mädchen war gerade vierzehn geworden und hatte schon sehr weibliche Formen. Sie wurde im Beisein ihrer Mutter mehrfach befragt und blieb bei ihrer Version. Die Mutter, Sie haben sie ja kennengelernt, schrie herum und wollte uns alle verklagen.

Der Referendar beteuerte seine Unschuld, und wir, das heißt die meisten Kollegen, die Caroline kannten, glaubten ihm, doch das nutzte nichts. Seine Lehrerkarriere war beendet, er musste gehen und hat sich ein paar Wochen später erhängt. Es war furchtbar.«

Das ist ein Ding, ich bin schockiert.

Die Lehrerin spricht weiter. »Ich weiß, was Sie denken. Wenn wir einem Mädchen den Übergriff nicht glauben und nichts tun, decken wir eventuell einen Missbrauch, und das ist verächtlich, ja skandalös. So etwas darf natürlich nicht passieren. Das heißt, wir haben reagiert, als würden wir dem Mädchen glauben, aber wir waren uns wirklich nicht sicher.«

»Wieso?«, frage ich neugierig.

Die Lehrerin überlegt kurz und spricht nachdenklich weiter: »Man spürt, gerade bei einer Schülerin, ob sie wirklich betroffen ist, und Caroline schien, als würde sie uns etwas vorspielen. Ich weiß, es ist schwierig, und ich spreche nicht gerne darüber, doch die Kleine wirkte absolut unbeteiligt und mitleidlos. Ihre Bluse war zerrissen, aber Lanzen behauptete, er habe sie nicht angefasst. Er hat sie zurechtgewiesen und wollte ihr ins Gewissen reden.«

Ich nicke, um zu signalisieren, dass ich verstehe, was sie meint. Nach einer Pause, in der wir beide an dem inzwischen kalten Kaffee nippen, erkundige ich mich: »Was war nach dem Suizid des Lehrers?«

»Die Schule war in zwei Lager gespalten. Die Schüler, die Lanzen kannten, legten Blumen nieder, hielten eine Gedenkwache, wie sie es nannten, und buhten Caroline aus. Andere wiederum glaubten ihr und versuchten, den Vorfall politisch für mehr Frauenrechte auszuschlachten. Glücklicherweise fand das alles vor den Sommerferien statt, so dass wir Caroline erlauben konnten, zwei Wochen früher in die Ferien zu gehen, dadurch war sie zwei Monate nicht in der Schule. Nach den Sommerferien geriet der Vorfall langsam in Vergessenheit. Es war eine schreckliche Zeit für uns alle, das verstehen Sie sicher.«

Das kann ich nur bestätigen. »Gab es eine offizielle Anzeige?«

»Nein, darauf verzichtete die Mutter, es genügte ihr, dass der Lehrer entlassen wurde.«

»Ist später noch etwas vorgefallen?«

»Mit Caroline?«

Ich nicke.

Wieder besinnt sich die Lehrerin kurz. »Nein. Wir, also wir Lehrkräfte, gaben uns alle Mühe, Caroline nicht anders zu behandeln als andere Schüler. Und die Mitschüler ließen sie in Ruhe. Es gab einige Mädchen, die sich mit ihr anfreunden wollten, da Caroline eine gewisse Berühmtheit in der Schule erlangt hatte, aber sie ließ sich nicht darauf ein. Sie blieb lieber für sich, soweit wir das als Lehrer überhaupt mitbekommen haben.«

Frau Maus-Künzel hat wirklich eine gute Beobachtungsgabe, denke ich, sie kriegt vieles mit und wirkt dabei äußerst glaubwürdig.

»War das der einzige Vorfall dieser Art?«

»Danach veränderten wir unsere Regularien. Keine Gespräche mehr unter vier Augen mit Schülern zum Beispiel …«

»Ich meine, mit Caroline.« Schließlich wirft der Vorfall ein ganz neues Licht auf unsere Verdächtige, da will ich mehr erfahren.

»Da war sonst nichts mehr«, entgegnet sie in ihrer ruhigen Art. »Sie ist ansonsten nicht mehr aufgefallen. Klar, sie machte weiterhin keine Hausaufgaben, aber sie war schlau genug, trotzdem die Klausuren zu schaffen.«

»Und wie war es auf der Klassenreise nach Rom? Gab es da etwas Bemerkenswertes?«

»Wie schon gesagt, Caroline war sehr zurückhaltend. Sie blieb meist für sich. Sie versuchte sich so weit wie möglich vor den gemeinsamen Unternehmungen zu drücken und streifte, soweit ich feststellen konnte, meist mit einem ihrer Mitschüler, der jetzt übrigens ein bekannter Designer ist, durch die Modegeschäfte.«

»Können Sie mir dessen Namen geben?«

»Ja, aber soviel ich weiß, war das keine große Freundschaft, sonst hatten die beiden nicht viel miteinander zu tun, es war mehr eine temporäre Interessengemeinschaft, wenn man das so ausdrücken kann.«

»Interesse an Mode?«

Sie nickt.

Dann fährt sie fort. »Ich war verwundert, als ich aus der Zeitung erfahren habe, dass sie Physiotherapeutin ist.«

»Was hatten Sie erwartet?«

»Da denke ich wahrscheinlich in Klischees. Ich habe gedacht, sie heiratet einen reichen Mann. Caroline war eines der attraktivsten Mädchen unserer Schule, und sie legte sehr viel Wert auf Äußerlichkeiten, Kleidung, Schminke. Das kostet alles Geld.«

»Sie war ja mit einem reichen Mann befreundet«, erwidere ich.

Dr. Maus-Künzel blickt auf. »Diesem Arzt, der jetzt tot ist?«

»Ja.«

Ich bedanke mich für Ihre Offenheit und trete den Rückweg an. Im Auto denke ich über die Schumacher nach. Sollte Müller doch recht haben mit seiner Einschätzung? Ist ihre Hilflosigkeit nur Getue? Hat sie den Mord an ihrem Liebhaber eiskalt geplant, um abzukassieren? Mir brummt der Schädel. In diesem Mordfall gibt es einfach zu viele Verdächtige.

Obwohl es schon fast sieben ist, als ich wieder auf der Insel bin, fahre ich ins Büro. Die anderen sind auch anwesend, aber siehe da, Hauptkommissar Dirks ist nicht gekommen, verhindert wegen dringender Aufgaben. Da haben wir noch mal Schwein gehabt. Vielleicht nehmen die Aufgaben ja etwas mehr Zeit in Anspruch, und ich bleibe noch verschont.

Wir tauschen erst einmal unsere Ergebnisse aus. Von dem Paket haben wir keine Information, da müssen wir bei UPS Druck machen. Irgendwo muss das Paket doch verblieben sein.

Inzwischen wissen die Kollegen, dass Lisa Duwe im Flugzeug sitzt, mit Kurs auf Hamburg. Das heißt, morgen ist sie schon auf der Insel. Wir werden so schnell wie möglich mit ihr sprechen, vielleicht hat ihre Mutter ihr doch etwas erzählt, was uns weiterbringt.

Die Befragung von Myriams Eltern und Verwandten hat nicht viel ergeben, wie Müller berichtet. Die ganze Familie empfindet es als schreiende Ungerechtigkeit, dass Kehlheim sein Geld einem unehelichen Kind vermacht, und alle sind stocksauer. Für sie ist Caroline eine Hexe, die ihren Schwiegersohn, von dem sie ebenfalls nicht viel halten, verführt und umgebracht hat. Eine gemeine Mörderin, die den Tod verdient, so Myriams Vater. »Schade übrigens, dass es in Deutschland keine Todesstrafe gibt«, polterte er und redete sich immer mehr in Rage. »Stattdessen werden die Verbrecher freigelassen und lachen sich kaputt über den schwachen Staat. Und was macht die Polizei? Statt die Mörderin festzusetzen, belästigen sie anständige Menschen bei der Arbeit …«

»Ein Glück«, meint Müller, »dass der Vater gerade keine Mistgabel zur Hand hatte, sonst wäre ich vielleicht nicht heil vom Hof gekommen.«

»Ach du je, die sind wohl richtig sauer, dass Kehlheims Geld futsch ist«, sagt Marieluise grinsend.

»Ja.« Müller nickt. »Es sieht so aus, als hätte Myriam der ganzen Familie immer wieder unter die Arme gegriffen. Damit ist es vorbei, wenn sie nichts erbt.«

Anschließend meldet sich Amar zu Wort. »Ich habe Schillers Laptop auseinandergenommen. Und jetzt weiß ich auch, warum der so viel Geld braucht.« Erwartungsvoll schaut er in die Runde. Er macht’s eben gerne spannend.

»Also?«

»Ihr glaubt nicht, was für ein Laster der hat.«

»Huren, Dominas, Zocken …«, tippt Müller.

»Bingo! Er zockt. Online-Poker. Er hat Schulden in sechsstelliger Höhe.«

Müller pfeift durch die Zähne. »Oha!«

»Und sein Haus ist ebenfalls total verschuldet. Er hatte es schon zur Hälfte abbezahlt und dann noch mal 500.000 aufgenommen. Die hat er komplett verspielt. Davon ist nichts mehr da. Das heißt, er braucht dringend die Einnahmen aus seinem kleinen Pillenhandel, um seine monatlichen Raten zu bezahlen.«

»Wenn Kehlheim ihm den Geldhahn zugedreht hätte, wäre er bankrott gewesen, und sein Haus wäre weg. Ein sauberes Mordmotiv!«, freut sich Müller.

»Noch eins«, ergänzt Amar, »Schiller hat das Haus vor zwei Monaten seiner Frau überschrieben. Sie ist jetzt die Eigentümerin, und obwohl es mit anderthalb Millionen belastet ist, würde ihr ein Verkauf immer noch zwei Millionen Gewinn oder mehr bringen. Es ist mindestens dreieinhalb Millionen wert.«

»Minimum«, bestätigt Müller. »Wir sollten ab sofort die Überwachung von Schiller organisieren, denn der ist so unter Druck, dass er abhauen könnte. Vielleicht will er sich ins Ausland absetzen, in Deutschland kann er sowieso nie wieder arbeiten. Seine Frau könnte das Haus verkaufen und ihm hinterherkommen. Dann sind sie weg.«

»Was ist mit einer Telefonüberwachung? Wäre das nicht einfacher?«, schlägt Marieluise vor.

»Klar wäre das einfacher, aber die kriegen wir erst genehmigt, wenn wir mit Sicherheit nachweisen können, dass Schiller mit Drogen handelt. Dazu brauchen wir zumindest zwei bis drei Kunden, die aussagen.«

Ich wende mich an Amar. »Da seid ihr ja dran.«

Er nickt.

»Und was ist mit der Schumacher?«, fragt mich Marieluise. »Wissen wir schon, wann das Verfahren wegen des Todes von Thomson ist?«

»Das dauert noch, die Staatsanwaltschaft ist dran. Aber wir haben immer noch keine Verbindung Schumacher-Thomson. Eins ist allerdings klar, weder die Schumacher noch die Kehlheim werden abhauen, die wollen beide an Kehlheims Geld, für die brauchen wir also erst mal keine Überwachung.« Was gut ist, ich wüsste nicht, wie wir diese auch noch bewerkstelligen sollten, mit unserer Mini-Moko.

Jetzt habe ich noch einen Anschlag auf Marieluise: »Wir müssen herauskriegen, wer auf den Flügen seinen Platz mit dem Täter getauscht hat. Das heißt, alle Passagiere müssen befragt werden, ob sie eventuell ihren Platz getauscht haben.«

»Auf allen Flügen?«, stößt sie entgeistert hervor, »das sind ja Hunderte.«

»Das sind gar nicht so viele, Eurowings wie Lufthansa fliegen auf der Strecke einen Airbus mit circa 200 Sitzen, das macht, wenn man die erste Klasse weglässt, nicht mal 800 Passagiere. Wenn man die Frauen und Kinder noch abzieht, denn es waren immer Männer, die auf den Plätzen des Täters saßen, sind es wahrscheinlich nur noch 400.«

»Nur noch.« Marieluise verdreht ihre Kulleraugen. »Und wie sollen wir die erreichen?«

»Wir haben die Passagierlisten. Lasst euch die Kontaktdaten geben und schreibt die Leute an.«

»Die sind doch überall verteilt, in was weiß ich, wie vielen Ländern.« Auf Marieluises Wangen zeichnen sich rote Flecken ab.

»Jeder hat eine E-Mail-Adresse und ist erreichbar. Marieluise, kümmere dich bitte darum. Besorge dir die Adressen, setze ein Schreiben auf und zeige es mir. Dann verschicken wir die Mails. Vielleicht haben wir Glück, und jemand meldet sich.«

Jetzt pustet sie hörbar aus. Sie will zum Protest ansetzen, aber ich komme ihr zuvor. »Du kriegst Hilfe von Sabine. Wenn die Leute per E-Mail nicht antworten und ihr ihnen hinterhertelefonieren müsst, kann euch zusätzlich Friedrich unterstützen.«

»Verdammt«, sagt Müller plötzlich, »einer der drei war’s, die Schiller, Michelle oder Caroline. Wir müssen doch zum Teufel noch mal einen Zeugen finden, der einen von denen am Flughafen oder in Spanien gesehen hat.«

»Richtig!« Ich blicke in die Runde. »Einer von uns muss dieselbe Strecke zurücklegen wie unser Täter. Und auf der Strecke noch mal alle befragen. Bahnhof, Flughäfen, Autovermietungen.«

»Du meinst, einer fliegt die gleiche Strecke ab: Hamburg – Frankfurt – Bilbao, hin und Bilbao – Düsseldorf – Hamburg zurück?«, fragt Marieluise.

»Genau. Und wir nehmen uns die Zeit, in die Büros der Fluggesellschaften zu gehen und mit dem Personal, das Dienst hatte, selbst zu sprechen. Es ist nur eine kleine Chance, aber die sollten wir nutzen.«

»Und wer genehmigt die Kosten?«, brummt Müller.

»Ich spreche mit Schütz«, sage ich vorlaut, wobei mir schon beim Gedanken daran mulmig ist. Aber was soll’s, wir müssen weiterkommen.

»Die Spanier haben doch schon jeden befragt«, wirft Marieluise ein.

»Wir brauchen deren Hilfe eben wieder. Ich spreche mit Spanien und bitte um Unterstützung. Amar, kannst du bitte die Bilder aller Verdächtigen bearbeiten? Damit wir nicht nur die Originale haben, sondern verschiedene Verkleidungen, veränderte Haarfarbe und so weiter.«

»Kann ich machen.«

»Und wer, denkst du, sollte fahren?«, fragt Müller.

»Du warst doch schon in Spanien und kennst dich ein bisschen aus. Willst du das nicht machen?«, bitte ich ihn.

Er zieht die Stirn kraus, und ich fahre fort: »Es wäre super, wenn du das übernehmen würdest, Michael. Wir brauchen nur einen einzigen Zeugen auf der Strecke, damit wir unsere Täterin überführen können.«

Er überlegt kurz, während wir ihn erwartungsvoll anschauen. »Okay«, brummt er schließlich, »solange ich nicht wandern muss … aber dann hast du hier die ganze Presse allein am Hals, das ist dir schon klar?«

»Wird schon gehen.«

»Denn man ab nach Spanien«, seufzt Müller.

Damit ist die Diskussion beendet. Bevor ich nach Hause gehe, beiße ich in den sauren Apfel und rufe Schütz an, um die Spanienreise genehmigen zu lassen.

Da sein hochgelobter Beamter aus Kiel heute abgesagt hat, ist er entgegenkommender als sonst und akzeptiert den Einsatz nach nur einer Beschimpfungsattacke. Außerdem gibt er mir zu verstehen, dass er endlich Ergebnisse sehen will. Subito.

Zu HHHause erwartet mich gähnende Leere im Kühlschrank, ein Affront für meinen knurrenden Magen. Zum Glück sind auch auf Sylt die Lieferdienste angekommen, selbst Sternerestaurants sind sich nicht zu fein für diesen Service. Aber mir genügt ein halbes Hähnchen vom Sylter Hahn mit Pommes und Ketchup. Mal eine Abwechslung zu Pizza und Fischbrötchen.

Na ja, über meine Ernährung möchte ich jetzt nicht nachdenken, die hat schon bessere Zeiten erlebt. Wichtig ist mir nur, dass mein Essen gebracht wird, denn ich habe nicht die geringste Lust, mich heute Abend auch nur einen einzigen Meter von der Couch zu entfernen.

Mats hat sich übrigens immer noch nicht gemeldet. Das Ganze war wohl doch nur ein etwas ausgedehnter One-Night-Stand. Schade.

Oder sollte ich mich bei ihm melden? In dem Moment blinkt mein Handy. Eine WhatsApp-Nachricht.

Mats: Hej, schöne Frau, wie geht es dir?

Schon wieder dieses leichte Flattern in Brusthöhe.

Neele: Gut zu tun im Moment.

Mats: Bist du noch auf Sylt?

Neele: Klar, der Fall ist leider nicht abgeschlossen.

Mats: Viel Stress?

Neele: Schon?

Mats: Ich bin am Freitag in Deutschland. Ein Gig in Husum. Am Samstag fahre ich zurück. Da könnte ich vorbeikommen, wenn es dir passt.

Neele: Ich habe erst am späten Abend Zeit, und das kann ich nicht zu hundert Prozent versprechen.

Mats: Verstehe, aber wir können’s ja probieren.

Ich antworte mit einem erhobenen Daumen. Damit bin ich verabredet. Und mit einem Schlag fühle ich wieder diese gewisse Leichtigkeit. Hormone sind schon eine komische Sache.