Der nächste Tag ist Donnerstag, der 23. Mai. Genau zwei Wochen sind mittlerweile vergangen, seit am 9. Mai die Leiche Kehlheims auf dem Jakobsweg gefunden wurde.
In Deutschland werden über 90 Prozent aller Mordfälle aufgeklärt. Natürlich nur von denen, die als Mordfälle bekannt sind. Angeblich wird ja nur die Hälfte aller Morde entdeckt, während die andere Hälfte als strafrechtlich nicht relevante Todesfälle zu den Akten kommt. Herzstillstand, Unfall, Selbstmord.
Die Aufklärung der Mordfälle erfolgt meist ziemlich schnell, sehr oft werden die Täter direkt nach der Tat überführt. Es gibt allerdings auch einige Fälle, die sich monate- oder gar jahrelang hinziehen, der Horror jedes Ermittlers. Wenn man monatelang in einen Fall involviert, quasi aufgesogen wird davon, das geht auf die Psyche. Bisher habe ich so etwas noch nicht erlebt, und ich bin wirklich nicht scharf darauf, jetzt diese Erfahrung zu machen.
Ich habe es tatsächlich geschafft, den Zusteller in Texas ans Telefon zu kriegen, und schicke ihm Lisas Foto.
»Yes«, bestätigt Jeff, das war die Frau, der er das Paket übergeben hat. Als ich ihn frage, ob er das schriftlich bestätigen kann, sagt er, ohne zu zögern, wieder Ja. Er ist sich sicher. Daher bitte ich ihn, eine Aussage bei der Polizei in Buffalo zu machen, und hole Lisa Duwe wieder ins Präsidium.
Dort konfrontiere ich sie mit der Aussage des Zustellers.
Zuerst sagt sie gar nichts dazu und schaut mich nur bockig an. Man sieht, wie es hinter ihrer Stirn arbeitet. »Ich bin ganz verwirrt«, sagt sie schließlich schniefend. »Mama ist gerade gestorben, ich weiß gar nicht, was Sie von mir wollen. Sie behandeln mich wie eine Verbrecherin. Das muss ich mir nicht gefallen lassen.«
»Frau Duwe, Sie haben ein Paket Ihrer Mutter erhalten. Das ist wichtig für unsere Ermittlungen. Sie wollen doch auch den Mörder Ihrer Mutter finden, nicht wahr?«
Sie nickt.
»Bitte helfen Sie uns. Was war in dem Paket? Haben Sie Fotos erhalten?«
»Vielleicht habe ich ja ein Päckchen bekommen. Jetzt erinnere ich mich. Das hatte ich völlig vergessen, ich war so fertig wegen Mama. Sie ist gestorben, und ich bin ganz allein.« Sie spricht leise, mit gesenktem Blick.
»Frau Duwe, es tut mir sehr leid, was Sie durchmachen. Aber Sie sollten uns nicht belügen, wir wollen Ihnen doch helfen.«
»Wieso lügen? Ich kann auch mal was vergessen.«
»Bitte sagen Sie mir die Wahrheit. Was war in dem Paket? Am besten, wir fahren zu Ihnen nach Hause, und Sie zeigen mir, was Ihre Mutter Ihnen geschickt hat.« Ich bemühe mich um eine verständnisvolle Stimme und lächle sie an.
»Das war nur was zum Anziehen und Schokolade. Was wollen Sie damit? Die Schokolade habe ich schon aufgegessen.«
»Ihre Mutter hat Ihnen ein Fotoalbum geschickt, das haben Sie mir selbst gesagt.«
»Habe ich nicht. Sie hat mir kein Album geschickt. Vielleicht hat sie davon geredet, aber sie hatte wahrscheinlich keine Zeit, und dann wurde sie umgebracht.« Jetzt schlägt sie die Hände vors Gesicht und fängt an zu weinen.
Ich warte einen Moment, bevor ich die Befragung noch eine Weile fortsetze, ohne Ergebnis. Die Kleine lügt mich an, das ist offensichtlich, doch da sie eisern bei ihrer Aussage bleibt, keine Fotos erhalten zu haben, kann ich nichts tun.
Als ich ihr noch einmal eindringlich erkläre, in welche Gefahr sie sich begibt, wenn sie versucht, auf eigene Faust etwas zu unternehmen, rede ich gegen Mauern an. Sie blockt komplett ab, das dumme Ding.
Als ich später im Meeting darüber spreche, beschließen wir, auch Lisa zu überwachen. Sie muss die Fotos haben, und sie hat anscheinend vor, sie zu Geld zu machen. Also wieder vier Leute, die wir besorgen müssen. Julian hängt sich gleich ans Telefon, aber keine Chance. Wir müssen mit der Manpower auskommen, die wir haben, basta. Daher bleibt uns nichts übrig, als das Observationsteam von Schiller abzuziehen, um Lisa zu überwachen. Die Kleine ist im Moment wichtiger, denn sie ist hochgradig gefährdet.
Am Abend kommt dann endlich Bewegung in den Fall.
Schlagartig ändert sich unsere Stimmung. Es ist, als würde Energie im Raum vibrieren.
Müller meldet aus Spanien etwas Interessantes. Einer Stewardess und einem Taxifahrer ist jeweils die gleiche Frau aufgefallen. Die Stewardess war am 7. Mai auf dem Flug Frankfurt – Bilbao eingesetzt. Und der Taxifahrer hat eine Wanderin am 8. Mai um elf Uhr von Luquin nach Bilbao gefahren. Zwei Stunden Fahrt zum Sonderpreis, den sie vorher ausgemacht hatten. Bar bezahlt im Voraus, so etwas ist für jeden Taxifahrer ein absoluter Glücksfall. Der Fahrgast war eine junge Muslima, die plötzlich nach Hause musste, weil ihre Mutter krank war. Sie sprach kein Spanisch, und er nur ein paar Brocken Englisch, daher haben sie sich nicht unterhalten auf der Fahrt. Da die Frau ein Kopftuch sowie einen ins Gesicht gezogenen Schal und Sonnenbrille trug, konnte er sie nicht beschreiben, ebenso wenig wie die Stewardess, der am Vortag die gleiche Frau aufgefallen war, weil diese ihre große dunkle Sonnenbrille und ihren Schal während des gesamten Flugs nicht abgenommen hatte.
Mit den Fotos unserer Verdächtigen konnten jedoch beide nichts anfangen. Es hätte jede der Frauen sein können, denn das Gesicht der »Muslima« war nicht zu erkennen. Die Kleidung war durchschnittlich. Jeans, Pullover und Jacke, der Rucksack grün, die Figur der Frau schlank, von durchschnittlicher Größe. Aber auf alle Fälle ist Luquin nur zwei Kilometer vom Tatort entfernt, das Timing passt, die Muslima könnte demnach unsere Täterin sein.
Kurz darauf erhalten wir die Bestätigung. Marieluise hat endlich einen der Männer erreicht, die auf dem falschen Sitz saßen. Der Spanier, er hieß José Diaz, beschrieb die Frau, die ihn bat, seinen Platz mit ihr zu tauschen, ebenfalls als Muslima mit Sonnenbrille. Er wunderte sich, dass die Frau weiter hinten sitzen wollte, aber es war ihm egal. Er hatte nur einen Mittelsitz, und die Frau bot ihm einen Gangplatz an. War ihm nur recht. Damit können wir annehmen, dass der Täter eine Frau ist, die in der Verkleidung einer Muslima nach Spanien flog und wieder zurück. Sehr praktisch, wenn man nicht erkannt werden will, ohne Zweifel. Und auf dem Jakobsweg trifft man bekanntlich Nationalitäten und Religionen aus aller Welt.
Jetzt, da wir die Verkleidung der Täterin kennen, versucht Müller, bevor er zurückfliegt, das Hotel zu finden, in dem sie in der Nacht vor dem Mord, das heißt vom 7. auf den 8. Mai, übernachtet hat. Vielleicht hat dort jemand die Täterin ohne Verkleidung gesehen.
»Sag mal«, fällt Amar ein. »Wenn unsere Mörderin als Muslima unterwegs war und die Duwe sie tatsächlich am Flughafen fotografiert hat, wie konnte sie eigentlich wissen, wer hinter der Verkleidung steckt?«
Gute Frage. Darauf haben wir unsere Theorie zum Tod der Duwe aufgebaut.
»Die hat doch Fotos gemacht, als sie sich von ihrer Tochter am Flughafen getrennt hat. Also wahrscheinlich genau dann, als ihre Tochter die Sicherheitskontrollen passierte. Da musst du alles ablegen, Schals, Mantel, Sonnenbrille. Nur das Kopftuch darf man aufbehalten. Wenn die Duwe in dem Moment die Täterin aufgenommen hat, war sie sehr wohl zu erkennen.«
Amar nickt. »Klar, Neele, natürlich. Das heißt, wir können auch bei den Mitarbeitern der Fluggastkontrolle nachhaken. Vielleicht erkennt jemand die Täterin wieder. Die Aufnahmen der Überwachungskameras sind leider alle gelöscht, das haben wir ja schon überprüft.«
»Kümmerst du dich drum?«, bitte ich ihn.
Er stimmt zu. Guter Amar.
Doch das ist längst nicht alles. Auch Saskia, die Kommissarin, die mit Julian aus Kiel angereist ist, vermeldet einen Erfolg. Sie hat tatsächlich mit einer Frau gesprochen, die Myriam Kehlheim als Freundin von Maik Thomson identifizieren konnte. Leo, unser Youngster, sprach zwar schon mit der Frau, aber damals hat sie nichts erzählt. Es sei ihr zu peinlich gewesen, dem jungen Polizisten von dem Vorfall zu berichten.
Mein Fehler, gestehe ich mir ein, die Frauen der Surfkurse und die Kellnerinnen hätte eine Frau befragen sollen.
Kerstin, so heißt die Frau, machte letzten Herbst mit einer Freundin eine Woche Urlaub auf Sylt. Das Wetter war gut, und sie buchten einen Surfkurs. Maik war ihr Surflehrer. Kerstin war zu der Zeit Single, sie hatte eine Menge Spaß im Surfkurs, dazu die Sonne und das Urlaubsgefühl, kurz, sie flirtete heftig mit Maik. Schließlich kam es, wie es kommen musste, die beiden trafen sich an einem Abend am Surfschuppen. Es war sonst niemand da, und sie knutschten wie Teenager in den Dünen neben dem Schuppen. Schließlich schloss Maik den Schuppen auf, wo die Bretter verwahrt werden, und sie gingen hinein. Als sie gerade in Aktion waren, hörten sie, wie eine Frau von draußen rief: »Maik, bist du hier?«
Daraufhin sei Maik erstarrt und habe sie richtiggehend weggestoßen, so erzählte Kerstin.
In dem Moment öffnete sich die Tür, und eine Frau trat ein. Sie starrte auf Maik, dann auf Kerstin, und stieß hervor: »Du Schwein.«
Anschließend drehte sie sich um und ging raus. Maik rannte hinterher. Kerstin wartete eine Weile, bevor sie einfach wegging. Sie hatte genug. Der letzte Tag des Surfkurses war am nächsten Nachmittag, doch Kerstin ging nicht mehr hin. Danach hörte sie nichts mehr von Maik. Von ihrer Freundin, die am Abschlusstag am Kurs teilnahm, erfuhr sie, dass Maik verheiratet war. Daher glaubte sie natürlich, es sei Maiks Frau gewesen, die ihn im Schuppen erwischt hatte.
Aber auf dem Foto hat Kerstin ganz klar Myriam Kehlheim identifiziert. Dadurch wissen wir definitiv, dass Maik mit der Kehlheim ein Verhältnis hatte, und zwar schon letztes Jahr.
»Gute Arbeit, Saskia«, lobt Julian.
Da kann ich nur beipflichten. Wie gesagt, es war mein Fehler, dass ich einen jungen Mann ohne Erfahrung damit beauftragt habe, mit den Frauen zu telefonieren. Man kann nun mal nicht alles selbst machen. Obwohl es mich ankotzt, dass Julian hier in meinen Ermittlungen herumturnt, muss ich mir eingestehen, dass es gar nicht so verkehrt ist, zwei Köpfe mehr in unserer Moko zu haben.
»Jetzt, wo wir wissen, dass die Kehlheim ein Verhältnis mit Maik Thomson hatte, können wir davon ausgehen, dass sie ihn zu Caroline Schumacher geschickt hat«, werfe ich ein. »Das heißt, Carolines Aussage über den Angreifer, gegen den sie sich wehren musste, gewinnt an Glaubhaftigkeit.«
»Mmh«, sinniert Julian.
Ich lasse mich nicht beirren. »Wenn die Kehlheim hinter dem Mordanschlag auf Caroline steckt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch ihren Mann umbringen ließ. Gründe genug hatte sie. Er war ihr untreu, er wollte sich scheiden lassen. In dem Fall hätte sie mit nichts dagestanden, daher musste er ausgeschaltet werden. Also hat sie Michelle nach Spanien geschickt, als Muslima verkleidet«, überlege ich laut. »Myriam selbst war hier auf der Insel, dafür haben wir vierzehn Zeugen. Maik ebenfalls, auch dafür gibt es mehrere Zeugen. Das heißt, die Kehlheim hat sich an ihren Bruder und dessen Freundin gewandt.«
»Ganz schön riskant, so viele Mitwisser«, meint Amar.
»Ich denke, Myriam stand mit dem Rücken zur Wand«, halte ich dagegen. »Ein Luxusweibchen, das alles verliert. Ihr Haus, ihr Geld, ihr Leben im Überfluss. Da tut sie das, was sie wahrscheinlich schon immer getan hat. Sie bittet die Männer in ihrem Leben um Hilfe, in dem Fall ihren Bruder und ihren Geliebten.«
»Und ihr Bruder, der Ex-Knacki, ist offen für Vorschläge.«
»Alles schön und gut«, wirft Julian ein, »aber nicht ihr Bruder war in Spanien, sondern eine Frau.«
»Die Freundin des Bruders«, kommt es von Marieluise.
»Ich habe die Akten gelesen. Wir haben nicht das Geringste gegen Michelle Klein in der Hand.«
»Immerhin hat sie sich bei ihren Aussagen widersprochen. Und ihr einziger Zeuge, dass sie hier war, ist Fred Novak.«
»Was wissen wir eigentlich über Michelle Klein?«, fragt Julian und legt damit den Finger in die Wunde.
»Na ja, nicht viel. Sie kommt aus dem Ruhrgebiet und jobbt hier im Z1. Sie macht Tabledance oder Poledance, wie das auch immer heißt. Ob sie sich auch prostituiert? Möglich wäre es.«
»Wir sollten uns mal über ihren Hintergrund schlaumachen«, erwidert Julian.
»Na super, darauf sind wir auch schon gekommen«, entgegne ich giftig.
Die anderen schauen mich erstaunt an.
Julian überhört das und schlägt vor: »Okay, lasst uns morgen das Dreierteam Kehlheim-Novak-Klein auseinandernehmen, vielleicht knickt einer ein.«
»Ich muss mich zuerst mit den Kunden von Schiller beschäftigen«, wirft Amar ein, »bis jetzt mauern sie alle. Aber morgen will ich ein paar persönlich aufsuchen. Das bringt mehr, als zu telefonieren, ich habe schon Termine gemacht.«
»Auch vormittags?«
»Nein, erst am Nachmittag.«
»Häng dich doch erst mal an deinen Computer, und schau, was du über die Klein herausfindest«, bitte ich ihn.
»Von mir aus. Kann ich versuchen.« Er nickt.
»Gut, wir sehen uns morgen.«
Damit machen wir uns alle auf die Socken. Auch Ermittler müssen mal ausschlafen. Die Überwachung der Kleinen steht. Wir sind alle in Bereitschaft, hoffen aber, dass nichts passiert heute Nacht.
Und, kaum zu glauben, Julian erkundigt sich auch heute, ob ich mit ihm essen gehe. Ich frage ihn, was er gestern am Nein nicht verstanden hat.
Ich schwinge mich aufs Fahrrad und radle zum Altersheim.
Dort erwartet mich die nächste Überraschung.
»Weißt du, wer heute Nachmittag hier war?«, begrüßt mich Oma.
»Keine Ahnung. Mama? Stefanie? Beide?«
Sie lächelt. »Nein, dein schnieker junger Mann. Der Kieler.«
Ich habe das Gefühl, mir bleibt die Luft weg. Julian. Das darf doch nicht wahr sein. Was bildet der sich eigentlich ein?
»Oma, das ist nicht mein junger Mann. Schon sehr lange nicht mehr. Hast du vergessen? Wir haben uns getrennt. Vor über zwei Jahren!«
Sie grinst schelmisch. »Ich glaube, der hat immer noch Interesse an dir.«
»Aber ich habe kein Interesse an ihm!«, sage ich erbost. »Es ist eine Frechheit, dass er dich einfach besucht hat. Ich habe mit ihm nichts mehr zu tun. Woher weiß der überhaupt, dass du hier bist?«
»Das hat ihm ein Nachbar gesagt, als er mich zu Hause besuchen wollte. Warum regst du dich auf? Ich freue mich immer über Besuch. Ist langweilig genug hier.«
»Ich rege mich auf, weil ich ihm klargemacht habe, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will.«
»Er hat ja auch mich besucht und nicht dich.«
Ich schnaube und lasse mir die neuen Schrecklichkeiten aus dem Leben auf dem Abstellgleis erzählen.