Obwohl der nächste Tag ein Sonntag ist, sind wir alle schon vor neun versammelt. Amar hat inzwischen Lisas Handydaten, und wir starren auf den Bildschirm. Sämtliche Nummern sind schon identifiziert, doch von unseren Verdächtigen ist keiner dabei. Weder bei den eingehenden noch bei den ausgehenden Anrufen. Das muss nichts bedeuten. Lisa kann auch von einer der wenigen Telefonzellen aus telefoniert haben, die es noch in Westerland gibt. Falls sie die Mörderin erpressen wollte, war sie mit Sicherheit vorsichtig und hat nicht ihr Handy benutzt.
Lisas Mobiltelefon ist übrigens immer noch nicht in einem Netz eingeloggt, also werden wir jetzt eine Suchmeldung herausgeben. Wir können nicht das Risiko eingehen, etwas zu versäumen, da sind wir uns einig.
Neben der polizeiinternen Suchmeldung beziehen wir die Öffentlichkeit mit ein, das heißt, wir informieren die lokalen Radiostationen sowie Presseorgane und besetzen eine Hotline. Das Gleiche wie vor einer Woche bei der Mutter. Ein Déjà-vu.
Sofort, nachdem die Meldung im Radio läuft, kommen die ersten Fehlmeldungen von gelangweilten Rentnern und den üblichen Irren.
Ein Mann, der in Westerland im Rollstuhl sitzt, will Lisa nackt im Kreis tanzend in den Dünen am Ellenbogen gesehen haben. Eine ältere Dame hat sie auf dem Balkon gegenüber ihrer Wohnung gesehen. Als ein Kollege zu ihr fährt, stellt er fest, dass man von ihrem Fenster auf Wiesen blickt. Weit und breit kein Haus.
Die Aussagen der ernsthafteren Anrufer sind schwerer zu überprüfen, da wir noch nicht mal wissen, was Lisa gestern anhatte. Und siebzehnjährige Jugendliche mit langem Haar sieht man nun mal häufig.
Mich selbst erreichen auch ein paar Anrufe. Wie der von dem älteren Herrn aus Rantum. Er hat eine junge Frau in Jeans gesehen, die Samstagvormittag durch die Friedrichstraße ging und dabei seltsam wirkte.
»Wie seltsam?«, hake ich nach.
»Na, sie schaute nicht nach rechts und links und sah so verkniffen aus«, erläutert er.
»Und wo ging sie hin?«
»Ich habe sie nur kurz gesehen, aber sie sah aus, als hätte sie Probleme. Sie hat ja auch ihre Mutter verloren.«
»Haben Sie Lisa Duwe vorher schon mal gesehen?«, frage ich.
»Ich weiß nicht.« Er zögert kurz. »Man läuft doch jedem mal über den Weg hier.«
»Kennen Sie Lisas Mutter, Silke Duwe?«
»Die arme Frau, die habe ich in der Zeitung gesehen. Was hier alles passiert! Schrecklich!« Er schlägt die Hand vor den Mund.
»Kommen Sie doch bitte zur Polizeistation, damit wir eine Beschreibung der jungen Frau aufnehmen können.«
»Muss das sein?«, fragt er erschrocken.
»Ja bitte, wir brauchen Ihre Aussage. Kommen Sie heute vorbei«, beharre ich.
Die Suchmeldungen sind wahre Arbeitszeitfresser. Aber man darf sie nun mal nicht ignorieren. Schließlich könnte sich unter dem ganzen Mist mal ein Goldkörnchen finden, das uns weiterbringt.
Während Müller und Julian die Presse bedienen, die wissen wollen, was hinter der Suchmeldung steckt, und Amar sich mit Lisas Social-Media-Kontakten herumschlägt, fahre ich mit Saskia in die Wohnung der Duwes, um zu sehen, ob wir irgendeinen Hinweis auf ihr Verschwinden entdecken. Erneut lässt uns die Vermieterin freundlicherweise herein.
Die Wohnung wirkt, als wäre das Mädchen nur kurz weggegangen. Das Schmutzgeschirr ist nicht in die Spülmaschine geräumt, das Bett zerwühlt, die Kleidungsstücke, die sie wahrscheinlich am Abend zuvor getragen hat, liegen auf dem Boden, und das Licht im Bad ist noch an.
Sie hatte definitiv nicht vor, lange wegzubleiben. Mein Magen krampft sich zusammen. Jetzt ist sie schon mindestens vierundzwanzig Stunden verschwunden.
Wir gehen systematisch vor und durchkämmen jeden Zentimeter. Da wir die Wohnung nach dem Verschwinden der Mutter schon mehrfach durchsucht haben, achte ich besonders auf alles, was sich seither verändert hat. Außerdem nehmen wir Lisas Zimmer unter die Lupe. Mit Saskia kann man gut arbeiten, sie ist schnell, effizient, und das Beste – sie quatscht einem nicht die ganze Zeit die Ohren voll.
Obwohl Lisa mit Sicherheit viele ihrer Sachen mit in die USA genommen hat, sind ihre Schränke und Schubladen immer noch vollgestopft. Klamotten, Wäsche, Bücher, Ordner und Hefte, Kleinkram für die Schule. In den Schreibtischschubladen liegen jede Menge loser Zettel herum, zwischen Lipgloss, Nagellackfläschchen und Parfumproben. Wir schauen jeden einzelnen Zettel an, aber es findet sich nicht der geringste Hinweis auf ihr Verschwinden. Das Foto, das ihre Mutter auf dem Flughafen aufgenommen hat, ist nicht darunter. Überhaupt ist es nirgends zu finden, auch nicht in den beliebten Verstecken: unter der Matratze, auf dem Schrank, in einer Jackentasche oder hinter einem Bild. Wäre auch zu schön gewesen.
Und Lisas Computer ist weg. Entweder hat sie ihn mitgenommen, oder die Täterin war schneller gewesen und hat ihn geholt.
Bevor wir gehen, durchwühlen wir noch die Abfalltonnen vor dem Haus.
»Was machen Sie denn da?«, schimpft die Tönjes aus dem Küchenfenster.
»Das gehört zur Polizeiarbeit«, rufe ich zurück.
»Aber Sie werden da drinnen nichts finden. Lisa hat noch keinen Müll heruntergebracht, seit sie hier ist, das ist nur von mir.«
»Wir müssen alles versuchen, wir wollen Lisa schließlich finden«, beschwichtige ich sie.
Frau Tönjes schüttelt den Kopf. »Wenn der Wurm einmal drin ist, dann isser drinnen.«
So ist es. Ich nicke und mache weiter.
Als wir fertig sind, ist es fast eins. Ich habe vor ein paar Tagen versprochen, meine Großmutter heute zum Mittagessen abzuholen, und ich werde es machen, trotz allem Druck. Die zwei Stunden gönne ich mir. Also sage ich Saskia Bescheid, dass ich um drei wieder da bin, bevor ich sie im Revier absetze. Anschließend hole ich Oma ab.
Als sie mich sieht, strahlt sie über das ganze Gesicht. Sie hat sich richtig adrett zurechtgemacht, mit ihrem besten Schmuck und frisch gewaschenem, sorgfältig gelegtem Silberhaar. Meine Oma, denke ich zärtlich.
Wir fahren nach Munkmarsch, zur Seglerkneipe. Dort kann man beim Essen auf den kleinen Hafen schauen, außerdem ist es recht ruhig.
»Moin, Enna«, begrüßt die Wirtin meine Oma, »dass man dich auch mal wieder sieht. Wie geht’s so?«
»Ach, es muss halt. Man wird älter.«
»Du bist doch noch gut beisammen. Setzt euch. Hier ist frei.«
Sie nimmt das Schild »Nur für Clubmitglieder« vom Tisch, und wir setzen uns in die Sonne.
»Was kann ich euch bringen?«
Oma nimmt einen Weißwein, ich eine Apfelschorle, schließlich muss ich gleich wieder arbeiten. Nachdem wir die kleine Karte studiert haben, ordern wir beide Pannfisch. Meine Großmutter wirkt richtig gelöst, vollkommen anders als im Heim, und ich bin richtig froh, dass ich mich für die Pause entschieden habe.
Wir genießen die Sonne und sprechen über alles Mögliche, auch über den Fall, denn ich weiß, dass sie die Klappe halten kann. Ihr kann man alles anvertrauen. Mittlerweile hat Oma ihr Glas geleert, und sie hält es hoch, als die Wirtin zu uns herübersieht.
»Oma, deine Tabletten. Du weißt, du darfst nicht so viel Alkohol trinken.« Ich streiche ihr besorgt über die runzelige Hand.
»Jetzt fang du nicht auch noch an, mir Vorschriften zu machen. Ich bin bald neunzig, da willst du mir wohl nicht erzählen, was mir guttut«, fährt sie mich an.
»Aber nicht, dass du nachher wieder Bauchschmerzen kriegst«, wende ich ein.
»So weiß ich wenigstens, wofür.«
Wir grinsen uns an.
»Weißt du eigentlich, dass Opa den Vater des toten Schönheitsschnipplers ganz gut kannte?«, sagt sie dann.
»Den Kehlheim? Du hast erwähnt, dass er ihn kannte. Ich dachte ja, nur recht flüchtig. War der nicht vom Festland?«
»Schon, aber die hatten eine Ferienwohnung hier. In den neunziger Jahren haben die Kehlheims eine Wohnung in Munkmarsch gekauft. Da war das noch relativ billig. Der Kehlheim, also der Vater, der war auch Segler. Hier hinten, da hat sein Boot gelegen, direkt neben Opas. Opa hat immer geschwärmt von dem Schiff. Ein alter Motorsegler aus Holz, es war damals schon ein Oldtimer.«
»Hast du die Kehlheims auch kennengelernt?«, hake ich nach.
»Ja, ich habe ihn und seine Frau ein paarmal getroffen, nicht oft. Er war auch Arzt, Neurologe, glaube ich. Und seine Frau war so eine Schnieke. Sie hatten auch einen Sohn, den Carsten, der jetzt tot ist. Die Familie ist vom Pech verfolgt.«
»Und Opa kannte die Familie gut, sagst du?«
»Du weißt doch, Opa war in jeder freien Minute hier«, erwidert sie lächelnd. »Daher hat er den Kehlheim oft gesehen. Beide waren passionierte Segler.«
»War sein Sohn auch segeln?«
»Ich glaube schon, dass der öfter dabei war.« Oma nippt an ihrem Wein. Verschmitzt schaut sie mich an. »Reich mir doch mal die Karte rüber. Ich glaube, ich bestelle mir noch einen Nachtisch.«
Und was ist mit deinem Magengeschwür?, will ich sagen, aber ich lasse es. Sie hat ja recht. Warum sollte sie sich nicht mal etwas gönnen?
Nachdem sie die Bestellung aufgegeben hat, fährt sie fort: »Und dann ist denen das schreckliche Unglück passiert. Der Kehlheim und seine Frau sind beide im Urlaub in Südafrika abgestürzt. Mit einer Cessna. Schrecklich. Beide waren sofort tot. Ihr Sohn, der Carsten, war damals höchstens fünfzehn. Seitdem habe ich nichts mehr von der Familie gehört. Bis ich gelesen habe, dass Carsten Kehlheim umgebracht wurde.« Sie schüttelt den Kopf. »Wo das Unglück einmal ist …«
»Weißt du noch, wie das Boot hieß?«
Man kann sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitet. »Wie die Mutter. Also die Frau des alten Kehlheim. Wiebke, ja, Wiebke hieß die.«
Dann verstummt sie und widmet sich hingebungsvoll ihrem Eisbecher, während ich aufs Wasser schaue. Sie kratzt den Becher bis auf den letzten Krümel aus, leert ihr Glas und lehnt sich zurück. »Das war gut.«
Jetzt kann ich’s doch nicht lassen und frage: »Und dein Magen? Du darfst doch eigentlich gar nicht so viel essen. Ist wirklich alles in Ordnung?«
»Hör bloß auf damit, und lass mich in Ruhe. Ich kann mir auch mal was gönnen.« Bei diesen Worten blickt sie mich strafend an und nickt vehement.
»Entschuldige, Oma, ich habe nur ein bisschen ein schlechtes Gewissen, nicht dass es dir später wieder schlecht geht.«
»Ach, Blödsinn«, winkt sie ab.
Wir brechen auf. Als ich sie im Heim abgesetzt habe und auf dem Weg zum Revier bin, schaue ich auf die Uhr im Armaturenbrett. Viertel vor drei, also gut in der Zeit. Spontan bremse ich und mache einen U-Turn. Dann wähle ich Müllers Nummer und sage ihm, dass ich etwas überprüfen möchte und ein bisschen später komme.
»Okay«, erwidert er, »unsere Besprechung ist eh erst um fünf, bis nachher.«
»Ich bin spätestens um vier da«, rufe ich in die Freisprecheinrichtung und lege auf.
Anschließend fahre ich zurück nach Munkmarsch. Am Hafen parke ich, um die Yachten und Jollen abzulaufen. Sehnsucht nach meinem Bötchen kommt dabei hoch. Wäre doch schön, jetzt auf der Ostsee zu schippern. Aber dann fällt mir sofort wieder Mats ein, und ganz andere Gefühle bemächtigen sich meiner. Schluss damit, sag ich mir, konzentrier dich auf deinen Job.
Ich spreche einen älteren Mann in Shorts und blauem Sweater an, der auf seiner Jolle herumwerkelt. »Moin. Ist der Hafenmeister heute da?«
»Ich habe ihn noch nicht gesehen. Suchen Sie was?«
Ich nicke. »Ich suche die Yacht von Carsten Kehlheim.«
»Ach, von dem Arzt. Der ist doch gestorben, ich habe davon gehört, furchtbar. Will seine Frau den Pott verkaufen?«
»Ich will mir die Yacht mal ansehen«, gebe ich vor, »liegt sie hier?«
»Klar.«
»Wo denn?«, hake ich nach.
Er streckt den Arm nach links. »Da hinten, hinter der Kurve, gleich die … ich muss mal überlegen, ich glaube, die dritte in der ersten Reihe. Die CK, so heißt sie, soviel ich weiß.«
»Danke!« Ich gehe in die Richtung, in die er gezeigt hat. Er winkt mir nach, und ich biege um die Ecke.
Trotz des schönen Wetters ist die Marina wie ausgestorben. Kein Wunder, ist auch ziemlich windstill heute. Da wird es schwer mit dem Segeln.
Dann entdecke ich die verschlungenen Buchstaben: CK. Schon etwas angejahrt, aber sicher nicht die antike Yacht von Kehlheims Vater. Recht groß, gut zehn Meter lang. Die dürfte immer noch ein paar Euro einbringen, wenn sie verkauft wird.
Ich schaue mich um, keine Menschenseele zu sehen. Mit einem Sprung bin ich auf der Yacht. So ganz überzeugt mich das selbst nicht, was ich hier tue, aber ich habe das Gefühl, ich muss sichergehen, dass Lisa hier nicht festgehalten wird.
Als ich an der Kajütentür rüttle, ist sie natürlich abgeschlossen, was auch sonst? Langsam umrunde ich das Deck. Von Nahem betrachtet wirkt das Schiff nicht sehr gepflegt, eher so, als wäre es schon eine längere Zeit lang nicht betreten worden. Hier ist also niemand.
Irgendwie enttäuscht springe ich wieder auf festen Boden. Na ja, es war ein Versuch, mehr nicht.
Ich schlendere Richtung Auto und betrachte dabei die Schiffe. Als Kind war ich oft mit Opa hier. Er war derjenige, der mir das Segeln beigebracht hat. Des Öfteren saßen wir im Clubhaus, das früher noch im alten Fährhaus untergebracht war, ich vor meiner Cola und er bei Bier und Korn. Während er sich mit seinem Segelkumpel unterhielt, habe ich mir vorgestellt, wie ich mit einer der Yachten die Welt umsegle und Abenteuer erlebe. Heute ist das alte Fährhaus ein Luxushotel, nur die Marina ist immer noch, wie sie mal war. Die meisten Boote gehören den Vereinsmitgliedern, Fremde legen nicht oft hier an.
Ich betrachte die Boote, von denen ich einige kenne. Plötzlich werde ich aufmerksam. Da hinten, auf dem Wasserparkplatz, wo Kurzzeitbesucher anlegen können, fällt mir ein altes Holzboot auf. Der Name ist kaum noch zu erkennen, doch ich kann ihn entziffern: Wiebke. So hieß doch die Frau des alten Kehlheim. Mein Herz schlägt schneller. Ich glaube nicht an Zufälle.
Schnell haste ich den Steg entlang, bis ich vor der Wiebke stehe. Klar, auf einmal erinnere ich mich: Das Boot ist mir bekannt. Ich habe darauf schon mit meinem Großvater Segeltörns unternommen.
Jetzt packt mich die Aufregung. Langsam gehe ich näher. Das Schiff sieht aus, als würde es gut gepflegt. Kehlheim muss die Wiebke behalten haben, auch als er sich ein neues Boot anschaffte. Komisch, dass Amar nichts zu den Schiffen in Kehlheims Computer gefunden hat.
Auf dem Steg ist es totenstill. Kein Mensch weit und breit. Vorsichtig klettere ich auf die Yacht und schaue mich um. Auch hier ist die Kajütentür verschlossen.
Doch dann höre ich ein dumpfes Geräusch. Eine Art Klopfen, kaum vernehmbar. Ich lege mich flach auf den Boden, um in die Kajütenluke zu schauen.
Plötzlich raschelt es hinter mir. Gerade als ich aufstehe und mich umdrehen will, kommt der Schlag.
Ich falle und falle. Das Letzte, was ich spüre, ist der Boden, der sich anfühlt wie Watte. Ich versinke im Dunkel.
Langsam tauche ich wieder empor. Um mich tiefe Finsternis. Alles fühlt sich weich und dumpf an. Ich bin unendlich müde und versinke wieder im Nichts.
Dann steige ich erneut auf. Langsam dringt ein Brummen zu mir. Es wird immer lauter. Dazu ein Beben, das durch den gesamten Körper geht. Ich bin unterwegs. In meinem Kopf entstehen Formen, Figuren, Gesichter, Stimmen. Sie bewegen sich auf und ab, und ich versinke wieder.
Als ich erneut aufwache, ist es ruhig um mich. Kein Geräusch, kein Schwanken. Aber jetzt spüre ich einen dumpfen Schmerz. Einen Druck in meinem Kopf. Unter mir ist es hart und kalt. Meine Gliedmaßen schmerzen und lassen sich nicht bewegen.
Panik macht sich breit.
Ich will die Lider öffnen, aber es funktioniert nicht. Etwas Weiches bedeckt sie. Meine Hand will zu meinem Gesicht, es geht nicht, sie sitzt fest.
Langsam kommt mein Geist wieder an die Oberfläche. Er nimmt wahr, registriert, analysiert.
Ich liege auf einer harten Unterlage, meine Arme und Beine sind gefesselt, meine Augen verbunden und mein Mund ist geknebelt.
Ich atme flach durch die Nase, die immer ein wenig verschnupft ist. Mein Mund ist trocken wie eine Wüste. Die Lippen fühlen sich rau und rissig an, wenn ich mit der Zunge darüberstreiche.
Wo bin ich? Was ist passiert? Wie lange liege ich schon hier?
Langsam kommt die Erinnerung. Der Yachthafen, die Wiebke, der Schlag. Verdammt, ich habe mich niederschlagen lassen. Und dann kommt die furchtbare Erkenntnis:
Ich habe keinem Menschen gesagt, was ich vorhabe. Das Dümmste, was ein Polizist machen kann.
Müdigkeit bemächtigt sich meiner. Schon wieder bin ich am Wegdriften.
Als ich das nächste Mal auftauche, erlebe ich die Realität wie ein scharfes Messer.
Mein Kopf dröhnt, jedes Glied schmerzt, meine Lippen brennen, und die Blase ist so voll, dass es wehtut. Werde ich hier sterben?
Die drückende Blase drängt sich immer mehr in den Vordergrund. Soll ich nachgeben und es einfach laufen lassen? Tränen schießen mir in die Augen. Nein, das will ich nicht. Aber lange halte ich es nicht mehr aus. Ich will mich erleichtern.
Es ist egal. Warum lasse ich es nicht laufen? Wen stört es? Das Thema wird zur Quintessenz meiner Situation. Gebe ich nach oder zeige ich Stärke? Werde ich nachgeben oder kämpfen, sterben oder überleben?
Dann denke ich: so ein Schwachsinn. Ich bin gefesselt, geknebelt. Ich kann gar nichts machen, als auf Rettung zu hoffen.
Scham überfällt mich, wenn ich daran denke, dass ich niemanden informiert habe. Wie konnte ich so dumm sein?
War es wegen Julian? Weil ich mich über ihn geärgert habe und ihm zeigen wollte, dass ich besser bin als er? Unglaubliche Blödheit. Dafür zahle ich nun.
Eine Welle Selbstmitleid überkommt mich. Der Preis, den ich zahle, ist zu hoch.
Mein Kopf schmerzt immer mehr, und der Druck auf die Blase wird unerträglich. Bald muss ich nachgeben, ich weiß. Aber erst mal denke ich nach.
Ich versuche, mich etwas zu drehen, um den Inhalt meiner Jackentasche zu fühlen. Da war mein Handy. Ich kann es nicht ertasten und bin sicher, dass es weg ist. Wahrscheinlich auf dem Grund der Nordsee.
Wenn die Kollegen mich orten, werden sie feststellen, dass ich zuletzt in Munkmarsch war. Sie werden schnell erfahren, dass ich mit Oma in der Seglerkneipe zu Mittag gegessen habe. Dann werden sie mit ihr sprechen und erfahren, dass wir über Kehlheims Yacht gesprochen haben. Bitte, Oma, sag es ihnen, sprich über die Wiebke, das ist meine einzige Chance. So werden sie mich finden.
Ich konzentriere mich auf meine Großmutter und sende ihr telepathisch die Information, dass sie über das Gespräch berichten soll. Bitte.
Es ist vielleicht blöde, aber wenn man festgebunden auf dem Boden liegt, hat man alle möglichen Ideen.
Ich denke weiter. Vorhin habe ich Geräusche gehört. Waren das Motorengeräusche? Bin ich noch in Munkmarsch oder längst woanders? Und wo ist Lisa? Wahrscheinlich befindet sie sich ebenfalls auf diesem Schiff. Es hat zwei Kabinen, und in einer davon bin ich.
Angestrengt horche ich in die Dunkelheit, aber da ist nichts. Liegt sie dennoch nebenan? Genauso geknebelt wie ich?
Bitte, bitte kommt, und holt uns hier raus!
Ich bin so unendlich müde. Als ich wieder wegdrifte, spüre ich, wie sich die warme Flüssigkeit zwischen meinen Oberschenkeln ausbreitet.