Ich sitze inzwischen im Polizeihelikopter, und wir sind unterwegs Richtung Rømø. Ein ganz moderner Airbus H145 mit Wärmebildkamera und einer Videoanlage, die alle Daten zur Einsatzzentrale überträgt. Außer dem Piloten und mir ist eine Spezialeinheit an Bord, die für Flugeinsätze ausgebildet ist. Der Pilot fliegt recht tief, damit wir Ausschau nach der Wiebke halten können.
Lass uns rechtzeitig da sein, lass sie leben. Ich kann nichts anderes denken.
Wir sind schon auf der Höhe von Rømø. Von der Wiebke ist nichts zu sehen. Ich lasse mich mit dem Revier verbinden und erreiche Saskia.
»Und, wie läuft’s mit der Schiller?«, frage ich sie.
»Sie mauert. Sitzt da und presst die Lippen zusammen.«
Ich seufze. »Verdammt.«
»Das kannst du laut sagen«, stimmt sie mir zu. »Amar fährt gerade mit ein paar Kollegen zu ihrem Haus, vielleicht entdecken wir dort einen Hinweis. Ich probiere es weiter mit ihr.«
»Alles klar, bis gleich.«
Bei den Windverhältnissen segelt man in circa zwei Stunden durch das Lister Tief von Sylt nach Rømø. Ein kurzer Schlag, wie es die Kollegen vom Küstenschutz nennen, die wir in der Leitung haben.
»Hier verkehren auch die Fähr- und Ausflugsschiffe, da hat er sich sicher nicht seiner Fracht entledigt«, tönt es aus dem Lautsprecher. »Wahrscheinlich segelt er Richtung Fanø, da ist weniger los, und von da kann er nach Hvide Sande und dann nach Thyborøn. Möglicherweise plant er, in Hirtshals auf eine Fähre zu gehen und sich nach Norwegen abzusetzen.«
Das klingt plausibel. Wir fliegen weiter Richtung Norden. Das Wetter ist gut. Strahlender Sonnenschein, kein Wölkchen weit und breit. Wären wir nicht alle angespannt wie die Flitzebogen, könnte man den Flug genießen.
Immer noch kein Segler in Sicht. Mir wird immer beklemmender zumute. Wir müssen sie einfach finden. Die Zeit rennt uns davon.
Plötzlich übertönt die Stimme des Piloten den Fluglärm. Er zeigt auf den großen Bildschirm. »Hier, auf neun Uhr!« Er vergrößert den Ausschnitt, und wir sehen einen Holzsegler. Es könnte die Wiebke sein.
Der Pilot geht weiter runter und nähert sich dem Schiff. Tatsächlich, es ist die Wiebke.
Wenn Schiller auf dem Schiff ist, weiß er nun, dass wir ihn verfolgen. Laut genug sind wir. Während wir unser Tempo verlangsamen und uns der Yacht nähern, wird dort das Großsegel eingeholt. Was hat Schiller vor?
Er wirft den Motor an, und das Schiff nimmt Tempo auf. Wir können nichts anderes tun, als dranzubleiben. Während der Pilot der Wasserschutzpolizei unseren Standort durchgibt, befiehlt der Einsatzleiter seinen Leuten: »Macht euch bereit.«
Die beiden Männer befestigen ihre Helme. Sie sind bereit zum Abseilen, aber sie können nicht runter, solange die Wiebke in Bewegung ist.
»Wie lange dauert es, bis ein Seenotretter hier ist?«, fragt der Einsatzleiter die Zentrale.
»Moment … Ein Schiff ist in Fanø. Es kann in circa zehn Minuten bei euch sein.«
Der Helikopter bleibt dicht an der Wiebke. Im Monitor können wir einen Mann am Steuer erkennen. Ansonsten sehen wir keine weiteren Personen. Aber hinten im Heck liegt etwas. Mir bleibt das Herz stehen. Sind das die beiden Frauen?
Jetzt nähert sich ein Schiff. Es kommt mit großer Geschwindigkeit heran. Über das Rotorengeräusch hinweg hören wir eine Stimme aus dem Lautsprecher.
»Polizei. Stoppen Sie das Schiff.«
In dem Moment fällt die Wiebke nach rechts ab. Das Polizeiboot zieht nach und hat die Yacht im Nu eingeholt.
Dann wieder ein Turn der Wiebke. Sie hält nun Richtung Festland. Auch das Polizeiboot dreht bei.
Was hat Schiller bloß vor?
Plötzlich sieht man die Spitze einer Seetonne. O Gott, die Yacht fährt direkt darauf zu. Es sieht extrem gefährlich aus. Merkt Schiller das nicht?
Aus dem Megaphon ertönt eine Stimme, aber im Rotorenlärm kann ich nichts mehr verstehen.
Nun versucht Schiller auszuweichen, aber zu spät, die Wiebke schrammt seitlich gegen die Tonne und kommt ins Schlingern. Man kann auf unserem Monitor erkennen, wie Schiller das Gleichgewicht verliert.
In dem Moment entern die Polizisten das Segelschiff.
Dann geht alles sehr schnell.
Unser Hubschrauber schwebt auf der Stelle, und die beiden Kollegen seilen sich ab. Ich starre wie gebannt auf den Bildschirm, auf dem Schiller zu sehen ist. Er kauert nun bei den Frauen und hält einer der beiden anscheinend ein Messer an die Kehle. Ich muss da runter.
Plötzlich ein Schuss, und Schiller sackt zusammen. Die Kollegen des Polizeibootes überwältigen Schiller und nehmen ihn fest. In der nächsten Sekunde sind auch die Kollegen vom Hubschrauber an Deck, und auf dem Segelschiff wimmelt es von Polizisten. Es ist vorbei.
Aufgeregt verfolge ich, wie sich die Sanitäter über die Frauen beugen. Bitte lass sie leben, denke ich verzweifelt, ich muss da runter.
Endlich schickt mich der Einsatzleiter mit einer Winde nach unten auf die Wiebke.
Mir kommen vor Erleichterung die Tränen. Beide Frauen leben und werden von den Rettungssanitätern versorgt. Hoffentlich schaffen sie es, denke ich, bitte, lass sie überleben.
Ich kann nur zusehen, wie die Sanitäter sie mit einer Trage auf das Polizeischiff hieven, der sie nach Esbjerg, dem nächsten Hafen, bringt. Von dort wird sie ein Hubschrauber sofort in die Klinik fliegen.
Schiller lebt ebenfalls, hat aber viel Blut verloren. Es sieht nicht gut aus für ihn. Aber die Blutung ist inzwischen gestoppt, und auch er wird in die Klinik gebracht.
Vernehmungsfähig ist er natürlich nicht.
Ich mache mich dran, die Wiebke zu durchsuchen. Wenn Lisa die Schillers erpressen wollte, muss ein Foto der Täterin existieren.
Unter Deck sind zwei Kabinen mit je vier Kojen. Der Geruch dort ist mehr als streng. Es stinkt nach Urin und Schweiß. Hier hat er die Frauen festgehalten.
Ich schaue in die Schränke und Behälter, aber außer Schiffszubehör ist nichts zu finden.
Hinten befindet sich eine Kochnische mit Tischchen und Bank. Hier liegt auch Schillers Tasche. Ich öffne sie. Geldbörse, Ausweis, ein Laptop und eine Mappe mit Papieren. Als ich diese durchsehe, stelle ich fest, dass er all seine wichtigen Unterlagen mitgenommen hat. Geburtsurkunde, Approbation, Heiratsurkunde, Aktien. Eine flache Tasche enthält ein dickes Bündel Geldscheine, Euro- und Dollarnoten. Er wollte verschwinden, ganz klar. Aber kein Foto der Täterin.
Auf der Eckbank liegt noch eine Stofftasche. Auch sie enthält ein Notebook. Hat Schiller zwei von den Dingern, oder gehört das Lisa? Als ich das Notebook aus der Tasche hole, fällt ein Foto heraus. Das ist es! Eine Frau mit Kopftuch an der Sicherheitskontrolle des Hamburger Flughafens. Sie ist klar erkennbar: Hannah Schiller. Bingo.