Über dieses Buch

 

Papst Franziskus und die sieben Fragen

In Erbsünde gehe ich sieben konkreten Fragen nach, die in meiner nunmehr zehnjährigen Arbeit als investigativer Journalist noch offen geblieben sind, und runde damit eine Recherche ab, deren Ergebnisse ich mit Vatikan AG, Seine Heiligkeit und Alles muss ans Licht schon vorlegen konnte.

Wurde Johannes Paul I. ermordet? Wer hat Emanuela Orlandi entführt? Wenn das Mädchen, wie Papst Franziskus versichert, längst »im Himmel ist«, trägt der Vatikan an ihrer Ermordung zweifellos eine Mitschuld, aber inwiefern? Warum bleiben alle Reformen, mit denen erst Papst Benedikt XVI. und nun Papst Franziskus für eine transparentere Kurie sorgen wollten, unweigerlich auf halbem Wege stecken oder scheitern zur Gänze? Was steht einer Veränderung im Wege? Bestimmen die Händler im Tempel, die beim Rücktritt von Benedikt XVI. eine Rolle spielten, noch immer die Geschicke der katholischen Kirche? Und schließlich die entscheidende Frage: Gibt es außerhalb und innerhalb des Vatikans Personen, die Papst Franziskus nicht wollen, die sein Reformwerk deshalb behindern und die für den aktuellen Reformstillstand verantwortlich sind?

 

Wie der Richter Giovanni Falcone bin ich zur Beantwortung dieser Fragen der Spur des Geldes gefolgt, und bin dabei, wie immer, wenn es um die Ränkespiele der Macht geht, auf Geschichten um Tod und Sex gestoßen. Im Vatikan sind diese drei roten Fäden zu einem dichten Netz aus undurchsichtigen Interessen, Gewalt, Lügen und Erpressung verknüpft, das jede Veränderung im Keim erstickt und die Glaubenskrise – wie Benedikt XVI. es nannte – der katholischen Kirche unweigerlich verstärkt. Das tödliche Spinnennetz hat sich schon während des Pontifikats von Paul VI. ausgebreitet, als die Welt vom Kalten Krieg zerrissen und Italien durch Arbeiterunruhen, Terrorismus und geheime Machtzentren destabilisiert wurde. Letztere konnten sich ausgerechnet im Vatikan machtvoll entfalten. Darum müssen die Nachforschungen genau hier einsetzen und sich vor allem auf den Präsidenten der Vatikanbank IOR, Erzbischof Paul Casimir Marcinkus, konzentrieren, auf dessen befremdliche Beziehungen zum einen bis in die Papstgemächer hinein und zum anderen zu den Offshore-Oasen Amerikas mit ihren Kartellen, Militärputschen und Kokaingeschäften.

Marcinkus saß an einem Schalthebel der Macht, wie sich heute anhand des unveröffentlichten Archivs der Vatikanbank mit seinen unzähligen bisher unbekannten Akten rekonstruieren lässt. Wie Buchungsunterlagen, Notizen und Zahlungsbelegen zu entnehmen ist, wiesen manche Bankkonten überraschend hohe Einlagen auf: etwa das von Pasquale Macchi, dem berühmten Privatsekretär von Paul VI., oder überraschenderweise das des Schauspielers Eduardo De Filippo oder von Mutter Teresa, die man in den abgelegensten Räumen der Bank ehrfürchtig empfing. Die Unterlagen über die beschämenden Begehrlichkeiten von Priestern und Kardinälen, etwa über den An- und Verkauf von Gold, Dollars und Palladium, erklären auch, warum das Pontifikat von Johannes Paul I. nur dreiunddreißig Tage dauern konnte und warum Marcinkus’ Nachfolger in den neunziger Jahren diese Praxis nahtlos fortführten und die Finanzen des Vatikans damit weiterhin bestimmten. Und zwar bis in die heutige Zeit hinein. Als unter dem Pontifikat von Benedikt XVI. Reformen vorbereitet werden, die damit ein für alle Mal Schluss machen sollen, obliegt deren Umsetzung Geistlichen und Laien, die der Papst selbst ausgewählt hat. Doch über kurz oder lang werden alle unweigerlich »abgeschossen«. Auf den folgenden Seiten werde ich – auf Grundlage von Interviews, die ich mit Schlüsselfiguren geführt habe, und unveröffentlichten Dokumenten – die raffinierte Strategie erläutern, mit der Reformwillige gekündigt, demontiert oder entmachtet werden.

Wann Benedikt XVI. seinen Rücktritt geplant hat

Als Benedikt XVI. sein Pontifikat untergraben sieht, denkt er an Rücktritt. Wie die in diesem Buch erstmals enthüllten Fakten zu den Hintergründen und raffinierten Ränkespielen zeigen, hat der Papst seinen spektakulären Rücktritt vom Februar 2013 bereits im Winter 2011 geplant und detailliert vorbereitet. Und genau in diese Zeit fallen auch die heftigsten Auseinandersetzungen im Vatikan, von denen bislang noch nichts an die Öffentlichkeit gedrungen ist: Konkrete Handlungsanweisungen von Benedikt XVI., mit denen die riesigen Probleme gelöst und dem Nachfolger Steine aus dem Weg geräumt werden sollen, werden von anderen durch ausgefeilte Manöver torpediert, die jede Veränderung vereiteln. Unter Papst Franziskus wiederholt sich dann dasselbe. Die Massen jubeln ihm zu, die Menge auf den Plätzen unterstützt ihn, die Gläubigen in aller Welt sind begeistert. Aber die katholische Kirche wird von der Kurie verwaltet, und obwohl der kleine Stadtstaat Vatikan nur dank der Spenden der Gläubigen existieren kann, weiß man bis heute kaum, wofür das Geld ausgegeben wird.

Es sind die zwei Gesichter ein und derselben Welt: Im Vatikan werden der Papst und seine Reformen von den einen unterstützt und von den anderen boykottiert. »Wenn alles bleiben soll, wie es ist«, schrieb Giuseppe Tomasi di Lampedusa in Der Gattopardo, »muss sich alles ändern.« Nicht zufällig kommt es ausgerechnet jetzt zu Anzeigen und Vorwürfen wegen angeblicher Schikanen und angeblichem sexuellen Missbrauch hinter den Mauern des Vatikans. Von Horrornächten berichten diejenigen, die dabei waren. Zum Schutz der Opfer aber auch des angeblichen Täters habe ich die Namen der Beteiligten geändert und hoffe nun, dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt. Eins der ersten gedruckten Exemplare wurde jedenfalls gleich den Richtern im Vatikan vorgelegt.

Vor allem musste ich bei der Spur des Blutes ansetzen, nämlich bei Emanuela Orlandi, der fünfzehnjährigen Tochter eines Bediensteten im Vatikan, die am 22. Juni 1983 auf rätselhafte Weise in Rom verschwand. Unter Benedikt XVI. wurde der Vermisstenfall auf beklemmende Weise erneut hochaktuell; er ist keine alte Geschichte und auch heute noch nicht abgeschlossen. Emanuela ist und bleibt ein Stachel im Fleisch des Vatikans, eine offene Wunde. Auch unter Papst Franziskus. Der Geist des auf rätselhafte Weise verschwundenen Mädchens geht im Vatikan um, beharrlich auf ein furchtbares Geheimnis verweisend, das für Mitwisser zum Macht- und Erpressungsinstrument geworden ist.

Für dieses Buch konnte ich auf Unterlagen und die Aussagen von Zeugen zurückgreifen, die erstmals aus der Deckung kamen und erzählten, was sie gehört und gesehen haben. Aus meinen Recherchen ergibt sich, dass die Wahrheit über Emanuelas Verschwinden tatsächlich im Vatikan zu finden ist. Die Geschichte muss in ihren geheimsten, skandalösesten Verwicklungen allerdings noch geschrieben werden. Jedenfalls hat der Vermisstenfall Papst Benedikt XVI. so tief beunruhigt, dass er den Heiligen Stuhl in seinen beiden letzten Papstjahren zu »Verhandlungen« mit der römischen Staatsanwaltschaft bewogen hat. Und Papst Franziskus interessiert sich ebenfalls dafür und hat seinen ersten Mitarbeiter, Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin, gebeten, der Sache nachzugehen. Es besteht also berechtigte Hoffnung, dass diese neuen Erkenntnisse dazu beitragen können, Emanuela, ihren Angehörigen und allen, denen sie am Herzen liegt, endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Papst Franziskus hatte seine Mitarbeiter mehrfach aufgefordert, Licht ins Dunkel all der Geschichten der letzten Jahrzehnte zu bringen, die von Gewalt, Verschwendung, Privilegien und Machtmissbrauch im kleinen Staat hinter den Bernini-Kolonnaden handeln. Dieses Buch hat bei seinem Erscheinen in Italien daher einiges Aufsehen erregt und manchen in Erklärungsnöte gebracht. Plötzlich war eine Reaktion auf die zahlreichen Missstände erforderlich, die auf den folgenden Buchseiten offengelegt werden. Es gab Anzeigen, Staat und Kirche leiteten Ermittlungen ein. Kurzum: Man war gezwungen, den verwickelten Geschichten nachzugehen, über die in Erbsünde berichtet wird.

 

Die Familie der verschwundenen Emanuela Orlandi hat bei der Staatsanwaltschaft des Vatikanstaats Anzeige erstattet, als sie durch dieses Buch von dem Deal zwischen der damaligen römischen Staatsanwaltschaft, die im Fall der Entführung und mutmaßlichen Ermordung des jungen Mädchens ermittelte, und Geistlichen des Vatikans erfuhr. Mutter, Schwestern und Bruder wollen, dass hinsichtlich der Treffen zwischen dem damaligen Chefermittler Giancarlo Capaldo und kirchlichen Würdenträgern ermittelt wird. Die Familie ist davon überzeugt, dass man der Wahrheit damit endlich auf die Spur kommen kann. Und das ist nicht die einzige Anzeige, die nach Erscheinen des Buchs beim Vatikan eingegangen ist. Auch der Ministrant des Papstes, der angibt, im vatikanischen Präseminar St. Pius X. mehrfach missbraucht worden zu sein, hat Anzeige erstattet. Derzeit werden Zeugen und Freunde gerade angehört. Und es gibt neue Zeugenaussagen: Weitere Opfer haben in bekannten italienischen Fernsehsendungen (von Quarto Grado bis zu Le Iene) von sexuellem Missbrauch berichtet – ausgerechnet in den Schlafräumen des Seminars, in dem sich junge Menschen aus ganz Europa darüber klar werden sollen, ob sie sich mit ganzem Herzen dem Weinberg des Herrn verschreiben wollen.

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