12
Tukul Charejew kam nach Deutschland. Zwei Tage später. Maria saß gerade in einer Vernehmung, da riss Hubich die Tür auf, schwenkte ein Blatt Papier, wollte etwas sagen, doch Maria winkte wütend ab.
Sie hatte schon geglaubt, dass der Mann vor ihrem Schreibtisch endlich ein Geständnis ablegen würde. Ein unscheinbarer, schüchterner junger Mann, picklig, mit ungepflegtem Bart und ungepflegten Kleidern, kein Penner, er arbeitete in der Farbenfabrik, und das hatte ihn letztendlich zum Verdächtigen gestempelt. Unter den Fingernägeln des ermordeten Jungen hatte das Labor Faserreste gefunden und daran Mikrospuren eines Lösungsmittels, das in dieser Gegend nur in der Farbenfabrik benutzt wurde. Und jetzt war das Band zwischen Vernehmer und Verdächtigem, das Maria mit teilnahmsvollen Fragen nach seiner Kindheit und seiner Familie, nach Schulerlebnissen und Jugendfreunden, nach seinem Alltag und seinen Lebensträumen und mit geduldigem, verständnisvollem Zuhören geknüpft hatte, abgerissen. Der Verdächtige saß wieder in sich versunken da, die Hände kraftlos zwischen den Schenkeln, starrte ins Leere.
»Was gibt’s denn so Wichtiges?«, fragte Maria unwillig. »Sie wissen doch …«
»Ja, natürlich, Entschuldigung«, Hubich stotterte vor Verlegenheit, »aber – ein Fax aus Berlin. Sie haben Tukul Charejew! Er wurde auf dem Flughafen Schönefeld bei der Einreise festgehalten.«
»Also doch!«, meinte Maria triumphierend.
»Sie fragen, was sie mit ihm machen sollen.«
»Festhalten. Schicken Sie ein Fax zurück, dass wir Charejew morgen abholen.«
»Mach ich!« Hubich salutierte militärisch. »Tut mir leid, aber ich dachte, das sei wichtig genug …«
»Schon gut. War in Ordnung.«
Maria lehnte sich zurück, goss sich Tee ein, hielt die Kanne fragend über den Tisch, der Mann schüttelte den Kopf.
»Zigarette?« Er fingerte mit zitternder Hand eine Zigarette aus dem Päckchen, hatte Mühe, sie in die Flamme des Feuerzeugs zu halten. Maria nahm ihre Tasse in beide Hände und tat, als beschäftige sie im Augenblick nichts als die Festnahme Charejews.
»Bist also umsonst bis hinter den Kaukasus geflüchtet, Tukul«, sagte sie leise wie zu sich selbst, dabei beobachtete sie unter den Augenlidern hervor ihr Gegenüber. »Wir kriegen euch alle. Einen wie den anderen.« Sie blickte mit hochgerecktem Kopf zum Fenster hinaus, tat, als bemerke sie es nicht, als der Verdächtige hüstelte, reagierte nicht, als er mehrfach laut hustete.
»Bitte«, sagte er dann kaum vernehmlich.
»Ja?« Maria blickte ihn an.
»Ich kann nicht mehr«, sagte der Mann, ohne den Blick von der Schreibtischplatte zu heben. »Ich will ein Geständnis ablegen.«
»Das ist gut«, erwiderte Maria leise. »Sie werden merken, wie sehr es Sie erleichtert.«
Sie schob ihm Zigaretten und Feuerzeug zu, stand auf, reckte sich, stieß die Ellenbogen ein paarmal nach hinten. Müde. Zerschlagen. Wie jedes Mal, wenn die Anspannung des Verhörs plötzlich abbrach. Sie ging zur Tür, winkte Hubich zu sich. »Nehmen Sie das Geständnis auf, Manfred.«
»Sie haben ihn …?« Er schüttelte den Kopf. »Na ja, Ihnen kann auf Dauer keiner widerstehen.«
Maria verließ das Präsidium; auf dem Gang rief jemand sie an, sie drehte sich nicht um. Sie schlenderte durch den Park, setzte sich auf eine Bank, stand kurz darauf wieder auf und ging weiter. Sie fühlte keinen Triumph, dass sie dem Mann das Geständnis entlockt hatte. Nur Leere. Dann Hunger. Zum ersten Mal seit zwei Tagen lächelte sie wieder. Sie ging hinüber zu dem italienischen Restaurant, setzte sich an einen Fenstertisch, bestellte einen Viertelliter Frascati und einen großen Salat mit einer doppelten Portion Schafskäse. Sie ließ sich Zeit, sah zu, wie die Sonne tiefer sank und sich hinter Wolkenbänken versteckte – als wäre sie nur eine der Touristinnen, die sich an den Nebentischen von den Strapazen des Aufstiegs zur Wartburg erholten, Bayerl war noch da. Er nickte anerkennend, als Maria ihm berichtete, dass der Mörder gestanden hatte. Und als sie ihm sagte, dass sie am nächsten Morgen nach Berlin fahren wollte, um Charejew abzuholen, schlug er sich begeistert auf die Schenkel.
»Er ist wirklich zurückgekommen? Also, Ihre Ahnungen, Frau Kollegin – das sind ja schon Visionen! Ein Glück, dass Sie nicht katholisch sind, sonst wäre aus Ihnen am Ende statt einer Kriminalistin eine zweite Theresa von Konnersreuth geworden!«
Maria holte Richter um sechs Uhr ab, Richter war begeistert, dass sie mit dem Porsche nach Berlin fuhren.
»So gefällt mir das Leben«, erklärte er, »ein toller Wagen, eine schöne Frau am Steuer …«
»Und der erste Stau«, unterbrach Maria ihn. »Auf dem Rückweg müssen Sie allerdings hinten sitzen, Harry.«
»Ich?« Richter blickte sie entsetzt an.
»Na, Sie müssen doch Charejew im Auge haben – Sie haben Ihre Dienstwaffe bei sich, ja?«
»Immer. Sie wohl wieder nicht?«
Maria grinste nur. Es war bekannt, dass sie so gut wie nie eine Waffe trug. Hinter Erfurt löste sich der Stau auf, am Hermsdorfer Kreuz erwartete sie der nächste; es wurde Mittagszeit, bis sie in Schönefeld eintrafen. Maria wollte unbedingt mit den Beamten sprechen, die Charejew festgenommen hatten. Weil es immer gut ist und nichts kostet, danke schön zu sagen, wie sie Richter erklärte, der maulte, dass sie da wohl erst um Mitternacht zurück sein würden. Vor allem, weil sie erfahren wollte, wie Tukul Charejew sich verhalten hatte, als man ihn festnahm.
»Getobt hat er«, berichtete der Beamte, »um sich geschlagen, geschrien, dass alle in der Halle zusammenliefen, Freiheitsberaubung sei das, ein internationaler Skandal, er denke, Deutschland sei ein Rechtsstaat und so weiter. Spricht ausgezeichnet deutsch, das muss man ihm lassen.«
In dem kleinen Zimmer im Amtsgericht Schöneberg schien Tukul Charejew kein Wort Deutsch zu verstehen.
Er nahm schweigend hinter dem Tisch Platz, sah Maria stur ins Gesicht. Sie hatte nach dem Foto und den Beschreibungen einen schönen Mann erwartet, doch Tukul Charejew übertraf alle ihre Erwartungen. Ein ausgesprochen schönes Gesicht, sportlich schlanke Figur, breite Schultern und schmale Hüften, dazu elegant gekleidet, kein Fernfahrer, ein Dandy. Ein wirklich prächtiges Exemplar von Mann, dachte sie. Wenn du den unter anderen Umständen kennen gelernt hättest … Aber Marion Kugler hatte ihn abgewiesen.
»Ich habe Zeit«, erklärte Maria gelassen, als Charejew zum dritten Mal auf ihre Feststellung, dass er doch Tukul Charejew sei, schwieg. »Ich gebe Ihnen noch zehn Minuten, dann lasse ich Sie in die Zelle zurückbringen und komme morgen wieder. Und übermorgen und …«
»Sie haben kein Recht, mich festzuhalten«, sagte er. »Das ist Freiheitsberaubung. Ich bin Transitreisender. Ich verlange, auf der Stelle freigelassen zu werden!«
»Wenn Sie Transitreisender sind, hätten Sie nicht durch die Passkontrolle gemusst«, stellte Maria fest. »Warum haben Sie den Flughafen verlassen?«
»Warum, warum! Weil diese verdammte russische Maschine nicht weitergeflogen ist, weil man sie aus dem Verkehr gezogen hat. Ich musste nach Tegel, wie sollte ich sonst nach Paris kommen? Und dazu musste ich durch die Stadt.«
»Pech«, meinte Maria. »Hätten Sie doch gleich bei der Air France oder der Lufthansa gebucht.«
»Hätten Sie, hätten Sie!«, schrie Charejew zurück. »Trotzdem bin ich nur auf dem Transit. Ich verlange …«
»Zuerst müssen Sie ein paar Fragen beantworten«, unterbrach Maria.
»Ich beantworte keine einzige Frage«, empörte sich Charejew, »schon gar nicht ohne Rechtsanwalt. Wer weiß, was Sie mir anhängen wollen. Ich sage kein Wort mehr.«
»Ist das Ihr letztes Wort?«
»Ja.« Er kreuzte demonstrativ die Arme über der Brust.
»Führen Sie ihn wieder ab«, sagte Maria zu dem wartenden Justizwachtmeister. Sie ging in das Geschäftszimmer des Bereitschaftsgerichts.
»Ist das der Mann, den Sie zur Fahndung ausgeschrieben hatten?«, fragte der Richter. Maria nickte.
»Und, nehmen Sie ihn mit?«
»Nein, lassen Sie ihn laufen.«
Richter blickte sie erstaunt an. »Aber Frau Baron, Sie können doch nicht …« Maria brachte ihn mit einem wütenden Blick zum Schweigen.
»Lassen Sie ihn laufen«, wiederholte sie.