20
Warten, darin waren Maria und Kommissar Naumann, genannt Sitte, sich einig, war eine der Negativseiten ihres Berufes. Die beiden hatten die einzelnen Gruppen in das Waldgebiet geführt, Sitte hatte noch die Kette des BGS kontrolliert, sich überzeugt, dass das Gelände wirklich hermetisch abgeschlossen war. Bis auf die Straße zur Disko. Die Besucher, die mit ihren Autos zum Waldschlösschen fuhren, durften ungehindert passieren, bis die Aktion anlief. Jetzt hieß es warten, dass der Alte den Befehl zum Losschlagen gab.
Sie standen neben dem Stabswagen von Bayerl und sahen in die Baumwipfel; Bayerl hatte sie dazu eingeteilt, zusammen mit einem Kommando des Bundesgrenzschutzes den Keller zu stürmen. Sitte erzählte, wie er als junger Kriminalwachtmeister einmal vierzehn Tage vor einem Haus gewartet hatte, um das Kommen und Gehen in der Villa eines Waffenschiebers zu beobachten. Maria hätte ihm erzählen können, wie lang auch schon eine Viertelstunde sein konnte, doch sie verkniff es sich lieber. Dummheiten soll man so schnell wie möglich aufarbeiten und dann vergessen. Sitte kam auf das Thema.
»Warum«, fragte er, »haben Sie mich nicht angerufen? Ich habe Ihnen doch versprochen, Sie zu begleiten.«
»Habe ich ja«, erwiderte Maria, »aber ich habe nur Ihren Anrufbeantworter erwischt.«
»Ja? Da war kein Anruf von Ihnen.«
»Als ich den Blechkameraden hörte, war ich schon bedient. Ich weiß, manchmal sind diese Apparate ja praktisch, doch ich kann sie nun mal nicht leiden. Man freut sich auf ein Gespräch, und was bekommt man? Ich bin im Augenblick leider nicht zu erreichen …«
»So, Sie haben sich also gefreut? Freut mich. Versprechen Sie mir wenigstens …? Wann gehen wir nun tanzen?«
»Ich werde nie mehr ohne Sie in diese Disko gehen, Peter«, versprach Maria lachend. »Heute zum Beispiel …«
»Aber wir werden kaum zum Tanzen kommen. Nächstes Wochenende?«
»Okay.« So viel Hartnäckigkeit musste wohl echtes Interesse bedeuten, dachte Maria. Sie hatte sich unter einem Vorwand seine Personalakte angesehen, Sitte war unverheiratet und lebte in einem möblierten Zimmer; zu einer Wohnung zu kommen, war in Eisenach ein schier unlösbares Problem.
»Ihren Charejew werden Sie wohl nie wiedersehen«, meinte Sitte. »Wenn er, wie ich annehme, im Rauschgiftschmuggel verstrickt ist, dann hat er genügend Helfer, die ihn über die grüne Grenze ins Ausland bringen und mit neuen Papieren ausstatten.«
»Das wäre nicht einmal nötig«, sagte Maria. »Wenn wir keine besseren Beweise finden als bisher, würde die französische Polizei ihn nicht ausliefern.«
Die Tür des Kommandowagens wurde geöffnet; Bayerl winkte die beiden zu sich heran. »Es geht los«, erklärte er, »gehen Sie mit Ihrem Trupp vorsichtig in Ausgangsstellung. Um zweiundzwanzig Uhr schlagen wir los. Heute haben Sie hoffentlich Ihre Waffe bei sich?« Maria öffnete ihre Jeansjacke und zeigte das Holster.
Sie winkten dem Leiter des Bundesgrenzschutz-Kommandos, schlichen zum Parkplatz, der Trupp der BGS-Leute schloss sich an, und sie huschten zu dem Hinterausgang des Kellers. Maria sah auf die Uhr. Noch drei Minuten. Jetzt wurde die Straße gesperrt und der Ring enger gezogen. Einer der BGS-Männer robbte zur Tür, probierte, ob sie verschlossen war, hantierte dann in der Dunkelheit herum, robbte zurück.
»Eine kleine Sprengladung«, flüsterte der BGS-Kommandeur Maria zu, »Tür aufsprengen, Blitzlichtbombe hinein und dann mit Karacho.«
Noch eine Minute. Sitte und der BGS-Kommandeur zählten die letzten Sekunden mit wie beim Countdown eines Raketenstarts, der Kommandeur hielt die gespreizte Hand in die Luft, klappte einen Finger nach dem anderen ein … Drei, zwei, eins, los! Die Sprengladung an der Tür explodierte, ein BGS-Mann stürmte fast gleichzeitig vor, schleuderte etwas durch die Tür, ein greller Blitz zuckte auf. Sie stürmten los, gleichzeitig rasten Bereitschaftswagen über den Parkplatz zu den Pavillons des Motels, weiße und grüne Signalraketen flammten auf, tauchten das ganze Gelände in grelles Licht; von der anderen Seite des Gebäudes, wo der Haupteingang war, tönten Polizeisirenen. Krach machen, den Gegner verwirren, schocken, hatte der BGS-Chef erklärt, so hat man es am leichtesten. Seine Leute machten Krach.
Sie schrien wie eine Horde Steinzeitmenschen beim Angriff mit dem Faustkeil, als sie nun den Kellergang entlanghasteten, die Türen aufrissen, kurz ihre MPs hineinhielten, jederzeit bereit loszuschießen, doch sie fanden nirgends jemand. Der Keller war leer.
Maria und Sitte liefen hinter ihnen her. Maria kam sich albern vor mit der Waffe in der Hand. Wenn die schwerbewaffneten Grenzschützer sie nicht beschützen konnten, dann gelang ihr das bestimmt auch nicht. Im Vorbeilaufen warf sie einen Blick in den ersten Kellerraum, in dem der Boxer oder ein anderer hätte Wache halten und sie aufhalten sollen; kein Stuhl, kein Tisch, nur leere Kartons. Die Räume mit den alten Möbeln, die Maria für Filmdekorationen gehalten hatte, waren noch voll, doch das Schwimmbad sah trostlos aus, kahl, verlassen, als wäre es seit Jahren nicht mehr benutzt, nur ein paar kleine Rinnsale in den Fugen zwischen den Bodenkacheln verrieten, dass es noch vor kurzem voller Wasser gewesen war. Maria ging enttäuscht nach draußen, zum Haupteingang.
Bayerl stand auf der Treppe des Waldschlösschens und verhandelte mit einigen seriös aussehenden Männern, deren Sprecher gerade zum dritten Mal erklärte, wie er lauthals verkündete, dass sie wirklich nur Gäste der Disko seien, eine Gruppe von Gewerkschaftlern aus Wiesbaden, die in Erfurt zu einem Erfahrungsaustausch weilten, man müsse sie auf der Stelle ziehen lassen, die Personalien habe man doch.
»Aber eine Leibesvisitation kann ich den Herren beim besten Willen nicht ersparen«, sagte Bayerl. »Untersuchen lassen müssen sich alle. Ohne Ansehen der Person.«
»Das wird noch ein Nachspiel haben«, erklärte der Erfurter, »ich werde mich beim Innenminister beschweren.«
»Tun Sie das«, erwiderte Bayerl ungerührt. »Ich weiß gar nicht, worüber Sie sich aufregen. Wenn die Herren eine reine Weste und saubere Taschen haben, dürfen sie sofort gehen.« Der Erfurter zog wütend ab.
Bayerl drehte sich vergnügt zu Maria. »In den Pavillons haben wir ein halbes Dutzend Kreistagsabgeordnete aus dem Sauerland gefunden, die offensichtlich den thüringischen Damen Anschauungsunterricht in Freiheit der Person geben wollten. Freiheit von allen Kleidern. Bis auf die Strumpfbänder, schwarze Strümpfe und hochhackige Pumps.«
»Also können wir Pohlmann schon mal wegen Begünstigung der Prostitution rankriegen«, sagte Maria.
»Wird schwer halten«, meinte Bayerl. »Die Herren sind aus Meiningen gekommen und hatten Zimmer vorbestellt; weisen Sie Pohlmann mal nach, dass er gewusst hat, dass sie Nutten mitbringen. In der Disko wollen sie gar nicht gewesen sein.«
Maria berichtete Bayerl von dem enttäuschenden Ergebnis ihrer Durchsuchung des Kellers.
»Ja, die Bazis haben zu viel Zeit gehabt«, meinte Bayerl. »Ihre beiden Spezies, Boxer und Ringo, scheinen uns auch durch die Lappen gegangen zu sein.«
»Und wie sieht es mit Rauschgift aus?«, erkundigte sich Maria.
»Nichts. Hier und da ein paar Gramm Haschisch, eine Prise Kokain, im Klo zwei Einwegspritzen – offensichtlich nichts als Eigenbedarf einiger Disko-Besucher. Scheint, als ob Pohlmann in Bezug auf Rauschgift eine reine Weste hat. Nolte lässt das Haus gerade von seinen Spürhunden absuchen. Da kommt er ja!«
Nolte hob die leeren Hände zum Himmel. »Und ich hätte geschworen …«, erklärte er.
»Einen Meineid, wenn ich Ihre sauertöpfische Miene richtig interpretiere«, sagte Bayerl. »Nicht aufgeben, nicht aufgeben, am Ende finden Sie doch etwas in den Nebengebäuden oder im Motel.«
Einer der BGS-Leute baute sich vor Maria auf, der Kommandeur bitte sie, zu ihm zu kommen.
»Na, vielleicht werden Sie doch noch fündig«, sagte Bayerl. »Zu wünschen wär’s. Ich habe keine Lust, mich bei dem sauberen Herrn Pohlmann am Ende noch entschuldigen zu müssen.«
Einem der BGS-Leute war eine Verfärbung auf den Fußbodenfliesen aufgefallen, als seien dort häufig Leute entlanggelaufen, doch die Spur führte nur zu einem hölzernen Wandschrank, dessen Fächer gänzlich leer waren. Während er überlegte, was wohl in diesem Schrank aufbewahrt gewesen sein konnte und die Fächer untersuchte, war der ganze Schrank in den Raum geschwenkt und hatte eine Eisentür in der Wand preisgegeben. Man hatte die Tür gleich sprengen wollen, doch Sitte hatte darauf bestanden, erst Maria zu befragen.
»Kennen Sie das? Waren Sie hier auch?«, fragte der BGS-Kommandeur. Maria schüttelte den Kopf. »Na, dann werden wir uns mal Zugang verschaffen.« Er wies einen seiner Leute an, eine Sprengladung an der Tür zu befestigen.
Sie gingen hinaus auf den Flur und pressten sich an die Wand. Eine Detonation, dann eine dünne Staubwolke unter der Flurtür, der Kommandeur winkte Maria und Sitte mit dem Kopf heran.
Nicht ein Keller wie all die anderen verbarg sich hinter dieser Tür, sondern ein ganzer Trakt von Gängen und Räumen, der sich bis weit unter den Parkplatz hinzog. Weiß der Teufel, wozu die Stasi den mal angelegt hat, dachte Maria, vielleicht ein Überlebenssystem für den Fall eines Atomkrieges? Dicke und dünne Rohre und Kabelbündel zogen sich an den Wänden der Gänge entlang, dann wieder eine Tür, nicht abgeschlossen, dahinter fast schon ein Saal, und dieser Keller war nicht leergeräumt. Ein paar Fernseher standen da, davor Stühle, Tische, Mikrofongestelle und Notenständer.
»Sieht fast wie ein Synchronstudio aus«, meinte Sitte.
Dann standen sie in einem Raum voller moderner Geräte, die Maria nicht identifizieren konnte.
»Wissen Sie, was das hier ist?«, fragte Sitte.
Maria und der Kommandeur schüttelten zugleich den Kopf.
»Nicht den Schimmer einer Ahnung«, sagte sie.
»Das ist eine Anlage für Video-Massenkopien. Da werden von einer Videokassette gleich ein Dutzend andere, nein …«, er zählte nach, »zwei Dutzend Kassetten überspielt. Sollte mich wundern, wenn Pohlmann das Gewerbe angemeldet hat. Da konnten die gleich hier Massenkopien von ihren Pornos ziehen. Ziemlich teure Anlage. Ja, die hat er wohl nicht so schnell abbauen können. Oder er hat sich darauf verlassen, dass niemand sie finden wird.«
Sitte setzte sich vor die Gerätewand, studierte die Anlagen, hantierte an den Schaltern, einer der Monitore leuchtete auf, ein Bild erschien, Maria schloss unwillkürlich die Augen. Dann drehte sie sich ab; sie wollte nicht zusehen, wie der maskierte nackte Mann auf dem Bildschirm die an einen Pfahl gefesselte Frau auspeitschte. Die beiden BGS-Männer, die als erste den Raum betreten hatten und nun wartend an der Tür standen, taten so, als blickten sie nicht zu dem Bildschirm hinüber.
»Hab schon ausgeschaltet«, meldete sich Sitte. »Scheint ein Russenporno zu sein, ich denke, ich habe den Kerl schon auf anderen Videos gesehen. Und dann ist das da draußen tatsächlich so etwas wie ein Synchronstudio.«
»Ich würde gerne wissen, ob hier irgendwo ein Video mit Marion Kugler ist«, sagte Maria.
Der Kommandeur öffnete die Wandschränke, überall nur Leere.
»Scheint so, als hätte man diese Kassette übersehen«, meinte Sitte. »Na, so haben wir wenigstens einen Beweis, dass die Anlage noch jetzt in Betrieb war.«
Als sie über den Parkplatz zum Haupteingang gingen, kam ein BGS-Mann und machte dem Kommandeur Meldung, dass an einer der Sperren ein VW-Transporter aufgehalten worden war, der etliche Kartons mit Video-Kassetten geladen hatte, alle unbeschriftet, aber offensichtlich schon bespielt, da die üblichen Verpackungsfolien fehlten.
»Na, das wird ein schlimmes Stück Arbeit«, stöhnte Sitte. »Hoffentlich sind das meiste nur Kopien, da brauchen wir uns nur den Anfang anzusehen, die Russen können wir ja sofort beiseitelegen, relevant sind im Moment nur Pornos mit Kindern und Halbwüchsigen, trotzdem …« Er kratzte sich am Scheitel. »Scheißarbeit, buchstäblich.«
»Und Sie denken an …«
»Vergesse ich nicht«, versprach Sitte. »Jeder meiner Leute bekommt ein Foto von ihr neben seinen Monitor.«
»Ich stelle Richter zu Ihrer Unterstützung ab«, sagte Maria.
Richter hatte sein Büro in einem Mannschaftswagen eingerichtet; er nahm die Personalien der Disko-Besucher auf, nachdem die aus dem nebenstehenden Wagen von der Leibesvisitation kamen.
»Ich leihe Sie für ein oder zwei Tage an Naumann aus«, erklärte Maria, »ein scheußlicher Job, Pornos durchsehen, aber wir müssen ja wissen, ob Marion Kugler da mitgewirkt hat.«
»Allemal besser als das hier«, sagte Richter. »Das ist geradezu vorsintflutlich, als hätte man die Fotokopie noch nicht erfunden; kein Schwein hat an einen Kopierer gedacht, um die Ausweise abzulichten, so muss ich alles mit der Hand abschreiben.«
Hubich kam angelaufen, seufzte erleichtert, als er Maria erblickte.
»Ich suche Sie schon überall. Sie sollen zum Alten kommen«, keuchte er. »Er will Sie Pohlmann gegenüberstellen.«
»O ja«, sagte Maria grimmig.