23
Maria nahm Hubich mit, und sie steckte ihre Dienstwaffe ein. Ein ziemlich heruntergekommenes Haus in einer reichlich verwahrlosten Straße der Altstadt. Hubich sah sich erst lange um, wo er das Tandem am besten abstellen und sichern konnte, die Straßenlaterne schien ihm noch der geeignetste Ort. Frau Wegener, Charejews Wirtin, öffnete erst, nachdem sie durch den Spion die Dienstausweise von Maria und Hubich gesehen hatte.
»Das müssen Sie verstehen«, sagte sie. »Man hört so viel Schlimmes. Erst gestern ist zwei Häuser weiter wieder ein Rentner ausgeraubt worden.«
»Vorsicht ist nur zu loben«, sagte Maria. »Wir hätten viel weniger Arbeit, wenn alle so handelten wie Sie, Frau Wegener. Weshalb wir kommen – war Herr Charejew bei Ihnen?«
»Ist er denn wieder hier?«, fragte sie erstaunt zurück. »Mir hat Tukul gesagt, dass er für immer zurück nach Georgien muss, seine Familie, verstehen Sie? Die sind da wohl noch ein wenig rückständig, finden Sie nicht? Ein ausgewachsener Mann, und dann sagt die Familie, was er tun und wen er heiraten muss.«
»Hat er gesagt, dass er heiraten wollte?«
»Wollte? Bestimmt nicht. Er hatte Angst davor, solange ich ihn kenne. Mutter Wegener – er hat immer Mutter Wegener zu mir gesagt –, Mutter Wegener, sagte er, ich bin doch kein richtiger Georgier mehr, ich bin doch Mitteleuropäer. War ein feiner Kerl. Immer schnieke. Und großzügig. Er hat mir jedes Mal etwas mitgebracht, jedes Mal, Tee, Kognak, einen Seidenschal.« Ihre Augen leuchteten. »Den zeig ich Ihnen mal, der ist – unbeschreiblich; dass es so was Schönes noch gibt! Für ’ne alte Frau!« Sie kicherte. »Ich sei doch noch nicht alt, hat er gesagt und mich geküsst. Er hat mich immer mit Handkuss begrüßt, wenn er von seiner Tour zurückkam. Das hier wäre sein richtiges Zuhause. Ich hätte nichts dagegen, wenn er wiederkommt, das Zimmer hat er ja noch. Er hat mir zwar gesagt, ich soll es weitervermieten – er hat immer für den Monat vorausbezahlt, müssen Sie wissen, und sich partout geweigert, von mir Geld zurückzunehmen, obwohl der Monat doch gerade erst angefangen hatte, als er das Zimmer aufgab.«
»Das kam wohl überraschend?«, erkundigte sich Maria.
»Von einem Tag auf den anderen. Donnerstag früh hat er es mir gesagt.« Sie seufzte enttäuscht. »Den Sonntag, müssen Sie wissen, hatte ich Geburtstag, meinen sechzigsten, und ich hatte mich schon so darauf gefreut, Tukul meinen Freundinnen vorzuführen. Kennen Sie ihn? So ein Bild von einem Mann und so charmant und witzig, da träumt doch jede Frau von, nicht wahr? Aber dann musste er weg. Die Familie! Meine Freundinnen waren vielleicht enttäuscht, kann ich Ihnen sagen. Er hat mir zum Abschied noch ’nen Hunderter geschenkt, soll ich mir was Schönes für kaufen; weil er doch keine Zeit mehr hatte, selbst was zu besorgen. Und seine ganzen Bücher hat er mir dagelassen, die stehen noch in dem Zimmer; ich warte lieber, bis ich wieder einen netten Herrn finde, verstehen Sie? Man will ja nicht jeden als Untermieter nehmen. Man muss sich die Leute ganz genau ansehen, vor allem heutzutage, na, stimmt doch, was da für ein Gesocks in der Stadt ist. Für ’nen Wessi ist es ja nicht gut genug, ist zwar groß und sonnig, aber mit Klo auf der halben Treppe.«
»Kann ich das Zimmer mal sehen?«, fragte Maria.
»Aber bitte! Suchen Sie nicht ein Zimmer? Oder haben Sie einen netten Kollegen, der eine Bleibe sucht? Also, ein Polizist, das wäre mir sehr recht. Da fühlt man sich doch gleich sicherer, wenn man einen Polizisten in der Wohnung hat, nicht wahr?«
Es war offensichtlich, dass Charejew das Zimmer für immer ausgeräumt hatte; bis auf die Bücher im Regal hatte er nichts zurückgelassen. Maria sah in alle Schränke; als sie den Papierkorb inspizierte, erklärte Frau Wegener, dass sie natürlich alles gründlich sauber gemacht habe. »Sauberkeit und Ordnung, das sind doch die deutschen Tugenden, nicht wahr?«
»Dann haben Sie ihn am Donnerstag früh zum letzten Mal gesehen?«, erkundigte sich Maria.
»Ich habe ihm noch mal ein richtiges Frühstück gemacht«, sagte Frau Wegener, »so, wie er es mochte, zwei Eier im Glas – ich habe da ein altes Kristallglas, das liebte er über alles.« Sie seufzte. »Ich hätte es ihm schenken sollen zum Abschied, aber in dem Augenblick bin ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, und als es mir dann einfiel, war es zu spät – und Sesambrötchen und Mehrkornbrötchen, ich bin noch schnell zum Bäcker gelaufen, und Knoblauchkäse und Schinken habe ich auch noch mitgebracht.« Sie sah Maria entschuldigend an. »Ich war so durcheinander, dass ich gar nicht daran gedacht habe, dass er ja kein Schweinefleisch isst! Wer weiß, was er zu Hause zum Frühstück bekommt!«
»Na, er stammt wohl aus einer begüterten Familie, in der es selbst jetzt bestimmt reichlich zu essen gibt.«
»Aber Sesambrötchen und echten Camembert und echten Emmentaler? Nee, also das …«
»Und bei diesem Frühstück haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen? Er ist nicht noch einmal gekommen, um seine Sachen abzuholen?«
»Nein. Aber …« Sie blickte Maria verlegen an. »Ich dachte ja, ich hätte ihn abends noch mal gesehen. Wissen Sie, mein Nachbar, der ist bei der freiwilligen Bürgerhilfe, die bringen abends alte Leute irgendwohin und holen sie auch wieder ab, wegen der Sicherheit, verstehen Sie. Und als der mich vom Bibelkreis abholte, da dachte ich plötzlich: Charlotte, das ist doch Tukul! Wir mussten an einer Kreuzung halten, das war – fällt mir gerade nicht ein –, und da stand ein Auto neben uns, und der Mann am Steuer, aber das konnte er ja nicht gewesen sein. Aussehen tat er wie mein Tukul, aber der hätte mich doch gegrüßt, nicht wahr?«
»War der Mann alleine?«, fragte Hubich.
»Nein, mit so ’ner Blondine. Also, ’ne richtige Schönheit, kann ich Ihnen sagen. Die hätte ich meinem Tukul gegönnt, wer weiß, wen er jetzt heiraten muss.«
Hubich hatte das Foto von Marion Kugler aus der Tasche geholt. »Könnte es die hier gewesen sein?«
»Ja, die war es! Genau die. Oder doch nicht? Sie hatte ja ihren Kopf auf seine Schulter gelegt.«
»Und sie meinen, der Fahrer könnte Tukul Charejew gewesen sein?«
»Vom Aussehen, ja, aber … Er saß ja auch hinter der Blondine, von mir aus gesehen, und dann war noch mein Nachbar dazwischen.«
»Können Sie sich an die Zeit erinnern, Frau Wegener?«
»Also, der Bibelkreis ist so gegen neun, halb zehn zu Ende, nee, warten Sie, wir waren kurz nach zehn zu Hause, also etwa drei Viertel.«
»Und das Auto?«, fragte Maria. »Ein Peugeot? Kennen Sie sich da ein bisschen aus?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Oder ein Mercedes, ein alter grüner?«, fragte Hubich.
»Ein Mercedes? Nein. Das war ein Golf, mein Mann hat auch mal so einen gehabt, ein roter Golf, und deshalb kann es auch gar nicht Tukul gewesen sein, der war doch ein Autonarr, der würde doch nicht mit einem alten Golf fahren, der hatte doch einen Alfa Romeo. Warum fragen Sie, hat der Mann …? Wollen Sie nicht doch eine Tasse Kaffee? Oder Sie, junger Mann?«
»Nein, danke«, sagte Hubich. »Diese Blondine, die war nie hier bei Herrn Charejew?«
»Nein, das wüsste ich!«
Marias Piepser meldete sich: Bitte anrufen, hieß das. »Haben Sie Telefon, Frau Wegener?«, fragte sie.
»Nein.« Sie lachte bitter. »Das hat mein Mann noch beantragt, und der ist schon Jahre tot, aber …«
»Tut mir leid«, sagte Maria, »dann müssen wir gleich los. Der Dienst, verstehen Sie? Ich muss Sie bitten, sich morgen bei uns im Präsidium zu melden, irgendwann am Vormittag am besten. Wir müssen ein Protokoll machen.« Sie gab Frau Wegener ihre Karte.
»Verstehe«, sagte die, »verstehe. Und Sie denken mal dran – wenn jemand ein Zimmer braucht?«
»Bestimmt«, versprach Maria, »ich höre mich mal um.«
Richter erwartete sie im Büro. »Nichts ist«, erklärte er, »auf den Videos sind nur, wie Sitte sie nennt, Russenpornos. Also …«, er blickte Maria missbilligend an, »mal ein Porno, okay, aber so zu Dutzenden und dann so ein Schweinkram …«
»Schweinkram?«, fragte Maria belustigt zurück. »Fast nur Sadomaso; soll ich es Ihnen erzählen, oder wollen Sie sich selbst überzeugen?«
»Weder das eine noch das andere«, sagte Maria. »Ihr fachmännisches Urteil genügt mir.«
»Nee, danke«, sagte Richter. »Das ist ja nicht mal im Schnellgang zu ertragen. Das nächste Mal setzen sie Hubich ran, ja?«
»Wir wollen doch seine unschuldige Seele nicht versauen.«