26
Maria bummelte über eine andere Landstraße zurück nach Norden, die Dämmerung setzte bereits ein. Es war unverkennbar, dass der Herbst heranzog, ein paar Kastanien lagen auf der Straße, erste bunte Blätter leuchteten in den Baumkronen. Marienbach schien ihr ein angemessener Ort für sie. Der Dorfgasthof gefiel ihr. Zimmer mit alten Möbeln und modernem Sanitärtrakt, eine gemütliche Gaststube, handfeste bäuerliche Gerichte auf der Speisenkarte. Sie war der einzige Gast, aber am Wochenende, sagte die Wirtin, sei es proppenvoll, seit einiger Zeit hätten die Städter die Schönheit ihrer Landschaft und die Gemütlichkeit traditioneller Bewirtung wieder entdeckt.
Als Maria von einem langen Spaziergang auf dem Weg zwischen Waldrand und Feldern zurückkam, saßen ein paar Einheimische an dem runden Tisch und spielten Doppelkopf. Maria überlegte, wie lange es her war, dass sie Doppelkopf gespielt hatte und ob sie die Regeln überhaupt noch kannte. Sie blätterte lustlos in den Zeitschriften und Zeitungen, die am Tresen auslagen, schließlich fragte sie, ob sie den Kartenspielern zusehen dürfe. Sie durfte sogar mitspielen, einer der Bauern wollte schon längst nach Hause, mochte aber seine Mitspieler nicht sitzenlassen. Maria fühlte sich schnell heimisch in der Runde, obwohl sie Schwierigkeiten hatte, die Sprache der Bauern immer zu verstehen, sie bestellte sich auch das dunkle heimische Bier, und als sie einen Damensolo haushoch gewann, durfte sie eine Runde spendieren.
Lag es an dem ungewohnt vielen Bier, an der ungewohnt harten Matratze – Maria war schon bei Morgengrauen wach, wälzte sich von einer Seite auf die andere, schließlich stand sie auf und duschte lange, zog sich langsam an, packte ihre Siebensachen ein, entschlossen, nicht noch einen Tag freizumachen, sondern gleich nach dem Frühstück zurückzufahren; der Brief von Marion Kugler hatte die Situation völlig verändert.
Als sie auf den Hof der Inspektion fuhr, wollte Richter gerade in den Dienstwagen einsteigen.
»Ein Anruf aus Halle«, sagte er, »die Kollegen haben wahrscheinlich Charejew gefunden. Zumindest eine Leiche, die unserer Beschreibung entspricht.«
»Ich gehe nur schnell zum Alten«, sagte Maria, »dann komme ich mit.«
»Den Weg können Sie sich sparen, Bayerl ist in Wiesbaden zu einer Tagung, kommt erst übermorgen wieder.« Richter blickte sie lauernd an. »Wollen Sie nicht alleine nach Halle fahren? Mir passt es gar nicht, ich habe den Schreibtisch so voll, ich weiß gar nicht …«
»Einverstanden.«
Arzt und Spurensicherung hatten ihre Arbeit so gut wie beendet, als Maria im Schwarzen Adler eintraf. Der Schwarze Adler, eine Kneipe an der Peripherie des Neubaugebiets, war als Treffpunkt der Rechten und Skins berüchtigt; was, zum Teufel, hatte Tukul Charejew hier zu suchen gehabt?
Man hatte ihn hinter einem baufälligen Schuppen am Rande des Grundstücks gefunden, in einer Ecke, in die sich nur selten jemand verirrte. Und er sah bei weitem nicht so schön und elegant aus, wie Maria ihn im Traum gesehen. Das Gesicht verquollen, als sei er geschlagen worden, der Anzug zerrissen und verdreckt, die Hände zu Tatzen verkrallt.
»Von hinten erstochen«, erklärte ihr Wendland, der Hallenser Kollege, »ein gezielter Stich ins Herz mit einer breiten Klinge. Muss von einem kräftigen Täter verübt worden sein, und wenn es nicht Zufall war, hat der Täter sehr genau gewusst, wie man jemanden mit dem Messer umbringt. Der Tod ist zwischen Mitternacht und fünf, höchstens sechs Uhr eingetreten.«
»Hat die Kneipe so lange auf?«
»Fragen wir den Wirt.«
Die Kneipe war noch geschlossen, die Stühle standen auf den Tischen, im hinteren Zimmer wurde gerade aufgewischt, eine alte Frau wusch die Gläser ab und polierte sie sorgfältig, bevor sie sie wegstellte.
»Ja, Sauberkeit und Ordnung«, sagte der Wirt stolz, als er Marias erstaunten Blick bemerkte, »der Schwarze Adler ist eine ordentliche deutsche Gaststätte.« Dass es offensichtlich Russinnen oder Polinnen waren, die da putzten, schien ihn nicht zu stören.
»Bis wann hatten Sie gestern geöffnet?«, erkundigte sich Wendland.
»Bis eins. Ich hab immer bis eins auf. Darf ich. Soll ich es Ihnen zeigen?« Wendland winkte ab. »Aber gestern war hier überhaupt nichts los. Tote Hose, total tote Hose.«
»Und die Schlägerei?«
»Was denn für ’ne Schlägerei? Keine Schlägerei.«
»Und draußen?«
»Auch nicht. Ganz bestimmt nicht. So ruhig, wie es gestern war, hätten wir es mitbekommen. Ich kann Ihnen da ein halbes Dutzend Zeugen nennen, keine Schlägerei, nicht mal ’n bisschen Krawall.«
»Und wenn sich da draußen hinter dem Schuppen welche geprügelt hätten – hätten Sie das mitbekommen?«
»Nein, dann nicht.«
»Danke.« Wendland winkte Maria nach draußen. »Ich wollte mich nur vergewissern«, erklärte er. »Wir sind sicher, dass der Fundort nicht gleich Tatort ist. Wahrscheinlich hat man den Toten hier nur abgeladen, damit wir denken sollen, es sei eine der vielen Auseinandersetzungen zwischen Skins und Ausländern gewesen, wäre ja nicht der erste Tote, der so …«
»Und was macht Sie sicher, dass er nicht hier gestorben ist?«
»Der Schmutz unter seinen Fingernägeln, das ist roter Mergel, den gibt es hier nirgends. Wahrscheinlich hat er auf dem Boden gelegen, als er getötet wurde, hat die Finger in die Erde gekrallt.« Wendland sah sie an. »Sie haben ihn doch zur Fahndung ausgeschrieben, haben Sie eine Vermutung, wer ihn getötet haben könnte und warum?«
»Im Moment nicht.« Maria erzählte dem Kollegen, warum sie Tukul Charejew suchten. »Ich informiere Sie natürlich, sobald ich etwas habe«, versprach sie.
»Und ich rufe Sie an, sobald wir die Ergebnisse der Untersuchungen haben«, sagte Wendland. »Vielleicht kommen wir über die Bodenproben weiter. Zum Glück gibt es ja noch den Katalog aus der DDR-Zeit, die Stasi hatte darauf gedrungen, dass der Katalog äußerst gründlich war. Wenn wir unter den Fingernägeln irgendetwas Außergewöhnliches finden, haben wir höchstwahrscheinlich den Ort, an dem der Mann umgebracht wurde.« Auf der Rückfahrt nach Eisenach grübelte Maria, wie das alles zusammenpassen könne. Tukul Charejew wird von seiner Familie für immer aus Eisenach abberufen, bringt zum Abschied Marion Kugler doch noch dazu, mit ihm zu schlafen, er fährt mit ihr in den Ahlberger Wald, tötet sie dort mit einer Überdosis Heroin, die sie sich, wie es den Anschein hatte, auch noch freiwillig verpassen lässt. – Dass er Marion Kugler selbst mit ihrem Wagen in den Ahlberger Forst gefahren hatte, war nach der Aussage seiner Wirtin offensichtlich, aber hatte sie wirklich freiwillig mit ihm geschlafen? Ließ sich das Fehlen von Gewaltanzeichen nicht auch anders erklären: eine betäubte Marion, die sich dann auch nicht wehren konnte, als er zur Spritze griff …
Aber Charejew hatte nicht den Eindruck gemacht, als würde er Vergnügen daran finden, mit einer betäubten, willen- und wehrlosen Frau zu schlafen. Er war doch alles andere als ein mühsam gezähmter wilder Vorderasiat, eher ein gebildeter junger Europäer. Und warum sollte er sie überhaupt töten? Die Frau, die er, wenn man ihm und den Zeugen glauben wollte, leidenschaftlich liebte? Nur damit sie nach ihm keinen anderem Mann gehören sollte? Und schon gar nicht Paula Meyer?
Dass er geflohen war, schien Maria verständlich. Vielleicht hatte er gelesen oder gehört, wie lange man auch als Unschuldiger in Deutschland in Untersuchungshaft sitzen konnte; in Frankreich wurde er erwartet, sollte studieren, konnte bei dem Einfluss und dem Reichtum seiner Familie sicher ein sorgloses Leben führen, und sein Anwalt hatte ihm gewiss verraten, dass er bei dieser Faktenlage nie eine Auslieferung befürchten müsse. Warum aber Halle? Warum nicht die viel näher liegenden Grenzen zu Bayern oder der Tschechischen Republik?
Hatte Charejew hier oder auf einem Fluchtweg, der Halle berührte, Freunde, Helfer? Und warum wurde er umgebracht? Ein Zufall? Warum mit einem Dolch? Hier gab es inzwischen dank der ruhmreichen Sowjetarmee weiß der Henker genug Schusswaffen. Musste der Mord lautlos erfolgen? War es eine Affekthandlung gewesen, und jemand hatte zum Brotmesser gegriffen? Oder sollte das Messer absichtlich auf einen Gelegenheitstäter und eine Affekthandlung hinweisen, und was sollte dann auf diese Weise verschleiert werden? War Charejews Tod eine neue Spur im Fall Marion Kugler, oder war er das Ende aller Spuren?