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Maria hätte die neue Entwicklung zu gern mit Bayerl diskutiert, doch der hielt sich noch für ein paar Tage in Wiesbaden auf, und Staatsanwalt Brückner steckte in einem Prozess vor dem Landesgericht. Als Richter sich gegen zehn bei ihr abmelden wollte, hielt es sie nicht länger im Büro. Sie bat ihn, sie bei der Saale-Chemie abzusetzen; ihren Citroen hatte sie früh beim Fahrdienst abgestellt und gebeten, den Scheibenwischer am Heckfenster in Ordnung zu bringen; irgendein Rowdy hatte ihn in der Nacht verbogen, und es war nicht damit getan, den Wischerarm auszuwechseln.

Mohrgartens Sekretärin sah sie pikiert an, sie hätte sich schon anmelden müssen. Als Maria sagte, dann wolle sie erst mit Doktor Weber oder mit Herrn Bartolucci sprechen, ging die Sekretärin doch in das Zimmer ihres Chefs und bat dann um ein paar Minuten Geduld. Ohne den Chef läuft hier wohl nichts, dachte Maria belustigt.

Mohrgarten begrüßte sie wieder äußerst freundlich, war aber doch nicht nur neugierig, sondern äußerte auch ein wenig ungehalten, was denn die Polizei schon wieder in seinem Unternehmen wolle.

»Sie wissen sicher, dass wir Herrn Charejew festgenommen haben«, sagte Maria.

»Selbstverständlich, er hat mich doch um Hilfe gebeten; ich habe ihm einen Anwalt besorgt – wird er endlich freigelassen? Ich halte diese Festnahme vom rechtsstaatlichen Standpunkt für, nun sagen wir, sehr bedenklich. Immerhin war er doch wohl auf dem Weg nach Paris.«

»Ich möchte das nicht mit Ihnen diskutieren«, sagte Maria. »Charejew hat sich der Festnahme entzogen, dummerweise, muss man sagen, denn der Haftrichter hätte ihn bestimmt freigelassen, doch er ist geflohen, und gestern hat man ihn wiedergefunden – tot.«

»Tukul ist tot?« Mohrgarten war sichtlich entsetzt. Oder ein sehr guter Schauspieler. »Wie denn?«

Maria informierte ihn kurz. »Hatte er sich in den letzten Tagen wieder bei Ihnen gemeldet?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Nun, Sie haben ihm, wie Sie eben selbst sagten, doch schon einmal geholfen.«

»Nein, er hat sich nicht bei mir gemeldet.«

»Mit wem hatte er Kontakt hier in der Saale-Chemie? Sie werden verstehen …«

»Charejew?« Mohrgarten überlegte. »Wohl nur mit Bartolucci, unserem Fahrdienstleiter. Er hat sich wenig im Betrieb aufgehalten. Nun ja, nach der langen, anstrengenden Fahrt durch den wilden Osten – er hatte das Recht, sich auszuspannen, bevor er zurückfuhr, im Grunde war er nur formal bei uns angestellt. Sicher, er hat sich darum gekümmert, dass sein Lastzug wieder tipptopp in Ordnung gebracht wurde, aber …« Mohrgarten sah sie an, lächelte dann. »Meistens war er über die Mittagszeit hier, fing Weber und Marion Kugler ab, um mit ihnen in die Kantine zu gehen. Sie wissen doch, dass er ein Faible für Fräulein Kugler hatte.«

»Haben Sie schon Ersatz für ihn gefunden?«

»Das macht der Charejew-Clan. Ja, sie haben jemanden. Ich erwarte den Lastzug heute oder morgen.« Er blickte sie an. »Wenn wieder Seide dabei ist – wollen Sie sich einen Stoff oder einen Schal aussuchen?«

»Ja, warum nicht. Einen Schal?«

»Sie sind wirklich wunderbar.«

»Kommen wir auf unser Thema zurück, Herr Mohrgarten. Doktor Weber, Herr Bartolucci und Sie – sie waren alle Kontaktpersonen von Charejew?«

»Ich?« Mohrgarten breitete lächelnd seine Hände aus. »Also Kontaktperson, das halte ich doch für übertrieben.«

»Trotzdem muss ich Sie fragen, wo Sie sich vorgestern Nacht aufgehalten haben.«

Mohrgarten lachte laut auf.

»Wollen Sie mich verdächtigen, Charejew umgebracht zu haben? Sehe ich wie ein Messerstecher aus?«

»Nein.« Maria lächelte zurück. »Aber die Routine …« »Ich habe ein Alibi«, sagte Mohrgarten, »ich war auf einer Tagung der Handelskammer in Erfurt, ein Dutzend Zeugen wird das bestätigen.«

»Danke, das genügt mir«, sagte Maria. »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber zwei Ermordete in Ihrem Betrieb – da muss ich schon die wenigen, die beide gekannt haben, befragen. Übrigens, ich habe mir einen Rüffel vom Staatsanwalt eingefangen, weil ich nicht die Alibis für die Nacht, in der Marion Kugler ermordet wurde, abgefragt habe. – Sie haben da doch sicher eins?«

»Lassen Sie mich nachdenken.« Mohrgarten zog seinen Kalender zu Rate. »Zum Abendessen war ich mit dem Stadtrat für Finanzen, Herrn Eggebrecht, aber danach – zu Hause. Und allein. Ist das wirklich wichtig?«

»Ich glaube nicht«, sagte Maria. »Es kann trotzdem sein, dass ich Sie und die anderen noch aufs Amt bitten muss, um das ordnungsgemäß zu protokollieren.«

»O ja«, rief Mohrgarten, »der deutsche Amtsschimmel!«

»Darf ich heute zu Doktor Weber, oder …?«

»Haben Sie heute einen Durchsuchungsbefehl?«, gab Mohrgarten lächelnd zurück.

»Ich würde mir gerne den Schrank von Marion Kugler ansehen«, sagte Maria, »vielleicht, dass ich da …«

»Aber den Schrank hat Doktor Weber doch gleich damals ausgeräumt und die Sachen ihrem Kollegen übergeben.«

»Ach ja«, sagte Maria.

»Bitte verstehen Sie mich auch nicht falsch, Frau Ba-

ron – so war doch Ihr Name? –, aber es ist wirklich kreuzgefährlich in unserem Labor.« Mohrgarten drückte auf einen Knopf seiner Sprechanlage. »Bitten Sie Doktor Weber zu mir, Frau Hempel.«

»Vielleicht kann ich inzwischen mit Herrn Bartolucci sprechen.« Maria lächelte. »Der Fahrdienst wird ja wohl weniger giftig sein.«

Maria musste Richter recht geben, Bartolucci wirkte nicht wie ein doch vergleichsweise unbedeutender Fahrdienstleiter und Lagerchef eines zurzeit nicht sonderlich großen Unternehmens; er sprach ein fehler- und fast akzentfreies Deutsch, trug unter dem blütenweißen Kittel ein Seidenhemd und eine fast schon schreiend bunte Krawatte, die Füße steckten in teueren italienischen Schuhen. Aber wahrscheinlich legt er wie fast alle kleinen, viereckigen Männer übertriebenen Wert auf seine Kleidung, dachte sie. Oder sein Mutterkonzern hatte ihn als eine Art informeller Mitarbeiter nach Eisenach geschickt. Wenn man keinen Chemiker zur Hand hat oder keinen zweiten Direktor einsetzen will, war Bartoluccis Position wohl am ehesten geeignet, Mohrgarten auf die Finger zu schauen.

Maria fragte ihn, wann er Charejew zum letzten Mal gesehen hatte, und er antwortete, an jenem Donnerstag vor seiner letzten Fahrt nach Georgien. Und danach habe er nie wieder von ihm gehört, nur, dass er in Berlin festgenommen worden sei. »Er war geflüchtet«, informierte sie Bartolucci. »Jetzt wurde er tot aufgefunden. Von hinten erstochen, auf dem Grundstück einer Kneipe. Und weder der Wirt vom Schwarzen Adler noch die Gäste haben irgendetwas gesehen oder gehört.«

»Und da führen Sie die Ermittlungen?«, fragte Bartolucci erstaunt. »Halle-Neustadt liegt doch wohl in Sachsen, oder?«

»Sachsen-Anhalt«, korrigierte Maria. »Die Kollegen haben uns um Amtshilfe gebeten, da wir ohnehin in der Saale-Chemie zu tun haben.«

»Und was um Himmels willen habe ich damit zu tun?«

»Sie sind offensichtlich einer der wenigen, die ihn genauer kannten.«

»Ach, wissen Sie, wir mochten uns nicht besonders.« Bartolucci lächelte. »Vielleicht, weil er sich in Marion verliebt hatte und mitbekam, wie ich ihr nachsah?«

»Sie kannten Marion Kugler?«

»Nicht besser als alle anderen. Ja, sie ist mir natürlich ins Auge gefallen, eine solche Frau! Ich gestehe, ich hätte sie gerne näher kennen gelernt, aber …«

Maria musste schmunzeln, als sie sich Bartolucci neben der einen Kopf größeren Marion vorstellte.

»Wissen Sie, mit wem Charejew privat Umgang hatte?«

»Nein. Wir haben kein Wort mehr als notwendig miteinander gewechselt. Vielleicht weiß es seine Wirtin?«

»Ich muss Sie nun fragen, wo Sie sich vorgestern Nacht aufgehalten haben. Reine Routine«, fügte Maria hinzu.

»Ich brauche ein Alibi?« Bartolucci lachte. »Da war ich mit Landsleuten zusammen. Wir haben hier eine kleine italienische Kolonie, wir haben einen Geburtstag gefeiert.« Er lächelte amüsiert. »Und bevor Sie mich fragen: In der Nacht, in der Marion Kugler starb, saß ich an der Grenze fest, ein Unfall, in den ich verwickelt war. Ihre österreichischen Kollegen werden das sicher bestätigen.«

»Wenn es nötig sein würde«, sagte Maria. »Vielen Dank, das war es schon.«

Doktor Weber wartete bereits in Mohrgartens Vorzimmer, er schien ziemlich wütend über die Störung und bat, sie solle es kurz machen, er würde dringend im Labor gebraucht. Maria stellte ihm die gleichen Fragen wie seinem Chef und Bartolucci und erhielt die gleichen Antworten: Charejew hatte sich nicht bei ihm gemeldet, und er hatte keine Ahnung, mit wem er privat verkehrt haben könnte.

»Und ist Ihnen zu Marion Kugler noch etwas eingefallen?«

»Nein, nichts. Und jetzt entschuldigen Sie mich wohl.«

Als Maria sich von der Sekretärin erklären ließ, wo und wann der Bus in die Stadt fuhr, kam Mohrgarten dazu.

»Ich muss ohnehin in die Stadt«, sagte er. »Wenn Sie fünf Minuten warten, nehme ich Sie mit. Was ist denn mit Ihrem Porsche?«

»Ach, das ist eine lange Geschichte«, sagte Maria. »Vielleicht erzähle ich Sie Ihnen mal.«