22

D er Keller hatte keine Fenster, und ohne eine Uhr war es schwer, das Verstreichen der Zeit abzuschätzen. Der Lärm aus dem Stockwerk darüber wurde immer deutlicher, und schließlich wurde die Tür in den Keller geöffnet. Eine Frau in einem billigen Hosenanzug kam herein, sprach mit dem Wärter am Tisch und folgte dann dem Beamten zur Tür der Zelle. Der Wärter nahm Handschellen von einem Haken an der Wand und zeigte auf Isabella.

„Du“, sagte die Frau. „Herkommen.“

Isabella stand auf und ging zur Tür. Der Wärter befahl ihr, die Hände durch den Schlitz zu stecken, was sie auch tat. Die Schellen wurden um ihre Handgelenke gelegt und zusammengedrückt, bis die Verriegelung einrastete. Die Tür wurde geöffnet und Isabella mit einer Geste aufgefordert herauszukommen.

Die Frau im Anzug packte ihren Ellbogen und führte sie zum Ausgang. Isabella stieg die Stufen zum Erdgeschoss des Gebäudes hinauf und wurde dann in einen Verhörraum gebracht. Dort standen ein Tisch, zwei Stühle und auf dem Tisch ein digitales Aufzeichnungsgerät. Auf einem der Stühle lag eine Papiertüte.

„Setzen“, kommandierte die Frau und zeigte dabei auf den leeren Stuhl.

Isabella setzte sich und wartete, während die Frau die Handschelle um ein Handgelenk öffnete und sie an einem Metallring befestigte, der in die Wand eingelassen worden war. Während die Frau noch damit beschäftigt war, sich zu vergewissern, dass die Handschelle sicher saß, schaute sie sich im Raum um. Die Farbe an den Wänden blätterte ab, Botschaften waren in die Ziegel und die Tischplatte geritzt worden, auf dem Boden gab es braune Flecken und in den Ecken wucherte Schimmel.

Die Frau trat auf die andere Seite des Tischs und setzte sich. „Möchtest du lieber auf Englisch reden?“

„Bitte“, sagte Isabella.

„Ich bin Detective del Castillo. Mein Vorname ist Salma. Du kannst mich so nennen, wenn du magst. Ist mein Englisch okay?“

„Schon okay, ja.“

„Ich habe in El Paso gewohnt“, sagte sie. „Ich erinnere mich noch gut. Also … du bist Isabella?“

„Ja.“

„Isabella Rose. Und du bist sechzehn Jahre alt, Isabella – ist das richtig?“

„Ja.“

„Wo sind deine Eltern?“

„Ich hab keine.“

„Nein?“

„Sie sind schon lange tot.“

„Aber du solltest nicht ohne einen Erwachsenen hier sein. Es sind sehr ernste Dinge, über die wir sprechen werden. Gibt es jemanden, den ich anrufen könnte?“

„Nein. Ich bin allein.“

„Einen Anwalt, vielleicht?“

„Sie müssen mich nicht wie ein kleines Kind behandeln. Ich komm schon klar.“

Die Detective sah sie fragend an. „Du brauchst einen Anwalt.“

Isabella wich ihrem Blick nicht aus. „Ich komm klar.“

„Du hast kein Geld?“

„Nicht viel.“

„Wir können dir einen Pflichtverteidiger stellen, wenn du dir selbst keinen leisten kannst.“

„Nein“, wiederholte Isabella. „Kein Anwalt. Ich brauche keinen.“

„Hast du Hunger?“ Del Castillo wartete Isabellas Antwort nicht ab; es war fast, als hätte Isabellas Gleichgültigkeit sie unvorbereitet erwischt. „Wir reden jetzt, und dann sorge ich dafür, dass du ein Frühstück bekommst. Das Essen hier ist nichts Besonderes, aber du bekommst etwas in den Bauch. Ein Burrito, vielleicht. Magst du Burritos?“

„Klar“, sagte Isabella, die sich sehr wohl bewusst war, dass die Detective beabsichtigte, ihr Vertrauen zu gewinnen, indem sie die mütterliche Karte ausspielte. Isabella war es egal. Sie würde nicht lange genug hier sein, dass es von Bedeutung wäre, zu ihr eine Beziehung aufzubauen. Außerdem wollte sie diese Unterhaltung lieber abkürzen, indem sie die Erwartungen der Beamtin durcheinanderkegelte.

„Hast du in Mexiko gelebt, Isabella?“

„Bin herumgereist.“

Del Castillo lächelte geduldig. „Wirklich? Wo?“

„Den Winter über war ich in San Miguel de Allende.“

„Hat es dir da gefallen?“

„Es war nett.“

„Wohin wolltest du als Nächstes?“

„Amerika.“

„Aber du hast etwas sehr Dummes gemacht.“

Isabella zuckte die Achseln.

Schließlich runzelte Del Castillo verärgert die Stirn. „Dir ist bewusst, dass du in ziemlichen Schwierigkeiten steckst, ja?“

„Ja.“

„Dann schalt mal ein bisschen runter – okay?“

Isabella zuckte mit den Achseln und lehnte sich auf dem Stuhl zurück.

Del Castillo nahm einen Beweismittelbeutel aus der Papiertüte und legte diesen auf den Tisch. In dem Beutel lag die Beretta. Die Detective nahm einen zweiten Beutel aus der Tüte und legte den neben die Pistole. Darin befand sich der kleine Geldbetrag, den Isabella aus dem Laden mitgenommen hatte.

„Lass mich dir erklären, was wir haben, Isabella. Wir haben Aufnahmen der Videokamera, die dich im Laden zeigen. Wir haben eine Identifikation durch den Mann, den du überfallen hast – wir haben ihm das Foto gezeigt, das man letzte Nacht hier von dir gemacht hat, und er hat bestätigt, dass du es warst. Die Beamten, die dich festgenommen haben, haben bei dir diese Waffe und dieses Geld sichergestellt. Wir haben eine abgefeuerte Neun-Millimeter-Patronenhülse im Laden gefunden. Wir werden es noch prüfen – aber ich gehe jede Wette ein, sie passt zu dieser Waffe hier. Die Beweislage in diesem Fall ist eindeutig, Isabella. Man wird dich wegen bewaffnetem Raubüberfall und Besitz einer unerlaubten Schusswaffe schuldig sprechen, und dafür wirst du ins Gefängnis gehen. Aber du bist noch so jung. Sechzehn ist kein Alter, besonders nicht für jemanden in einem mexikanischen Gefängnis. Ich würde dir gern helfen. Aber bevor ich das tun kann, musst du mir helfen. Ich muss verstehen, warum du es getan hast. Vielleicht kann ich dann bei dem Richter ein Wort für dich einlegen. Wenn es einen Grund dafür gibt, warum du getan hast, was du getan hast, dann …“ Sie ließ den Satz unvollständig verklingen.

„Ich hab’s getan“, sagte Isabella. „Es war dumm von mir, aber ich hab’s getan.“

„Warum?“

„Ich brauchte das Geld.“ Sie zuckte die Achseln. „Ich war pleite, und ich brauchte mehr. Was soll ich sonst noch sagen?“

„Was ist los mit dir? Willst du ins Gefängnis?“

Isabella ignorierte die Frage und stellte eine eigene. „Was passiert als Nächstes?“

Del Castillo schüttelte den Kopf, als ob es keinen Sinn ergeben würde, was sie da hörte. „Verstehst du das, Isabella? Du wirst ins Gefängnis gehen. Nicht für eine Woche oder einen Monat. Nicht mal für ein paar Monate. Für Jahre. Vielleicht sechs oder sieben Jahre. Du wirst keine sechzehn mehr sein, wenn du wieder rauskommst, und du wirst ein anderer Mensch sein. Darüber solltest du mal nachdenken. Es ist eine sehr ernste Angelegenheit.“

Isabella hob die Hände. „Ich sehe nicht, wozu das gut sein soll. Ich hab’s getan – Sie haben gesagt, Sie können es beweisen, also, was soll ich hier groß diskutieren? Ich gestehe. Und jetzt?“

Del Castillo starrte sie an, rieb über ihre Wange und atmete dann durch die Nase aus. Die Herzlichkeit in ihrer Stimme war fort, als sie wieder sprach. „Schön. Wir haben bewiesen, dass eine Straftat begangen wurde, also werden wir deinen Fall an das Ministerio Público überweisen. Der agente wird entscheiden, ob es ausreicht, um den Fall vor Gericht zu bringen. Er wird mehr als genug dafür vorfinden. Du wirst einem Haftrichter zugewiesen, und dann wird es innerhalb von achtundvierzig Stunden eine Anhörung geben. Der Richter entscheidet, ob er dich laufen lässt oder dich gerichtlich belangt. Ich denke, in diesem Fall wird er strafrechtlich gegen dich vorgehen. Bis zu deinem Prozess bleibst du in Haft. Es wird keine Kaution geben. Und du bist schuldig, sofern du nicht deine Unschuld beweisen kannst. Hast du das verstanden?“

Isabella nickte. „Wann sehe ich den Richter? Jetzt?“

„Nein“, sagte del Castillo. „Nicht jetzt. Ich fühle mich nicht wohl bei dieser Sache. Ich glaube nicht, dass dir klar ist, wie ernst das hier für dich werden könnte. Du musst mit jemand anderem sprechen, bevor wir überlegen, was wir als Nächstes tun.“ Sie stand auf. „Du hast gesagt, du willst telefonieren. Ich denke, das ist klug. Vielleicht bekomme ich etwas Besseres zustande. Ich werde mit deiner Botschaft reden. Die werden jemanden schicken, der mit dir spricht. Vielleicht können die dich ja zur Vernunft bringen.“

„Danke“, sagte Isabella. „Können Sie denen sagen, ich muss mit Vivian Bloom sprechen?“

„Wer ist das?“

„Sagen Sie denen einfach, sie müssen ihm sagen, dass ich hier bin.“

„Vivian Bloom“, wiederholte die Detective. „Arbeitet der in der Botschaft?“

„Nein“, sagte Isabella. „Er arbeitet in London. Bitten Sie die, sie sollen ihm etwas ausrichten.“

„Was soll ich denn sagen?“

„Sie sollen ihm sagen, dass ich hier bin. Sie sollen ihm meinen Namen geben. Und er muss wissen, dass ich über Prometheus reden will. Und Maia.“

„Wer ist Maia?“

„Das werden die schon wissen. Die müssen Bloom sagen, dass ich weiß, wo sie ist.“