PERSPEKTIVE – SCHWIERIG, SCHWIERIG?

Außer Architektinnen und Architekten mag sie fast niemand (und vielleicht noch nicht mal die). Und da ich nicht möchte, dass du »Laaaangweilig!« rufst und dieses Buch in die Ecke schmeißt, habe ich hier nur vier klitzekleine Regeln, die du dir ganz leicht merken und vor allem auch gleich umsetzen kannst.

Vier einfache Regeln

Erste Regel: Ob Mensch, Tier oder Objekt was nah dran ist, erscheint dir größer als weiter Entferntes. Eine Binsenweisheit, oder? Jetzt brauchst du sie nur noch in deinen Zeichnungen anzuwenden, und schon hast du für Räumlichkeit gesorgt.

Probiere es gleich auf einem Zettel aus! Skizziere aus dem Kopf eine Stadtansicht und füge im Vordergrund eine Person, ein Tier oder einen Gegenstand ein. Zum Beispiel so:

Durch die Größendifferenz nehmen wir die Figur im Vordergrund näher wahr, als die Häuser im Hintergrund. Sie bildet aufgrund ihrer Größe auch gleichzeitig den Schwerpunkt des Bildes.

Ganz anders sieht die Sache aus, wenn dieselben Häuser und die Figur auf einer Ebene in dieser Relation abgebildet werden.

Nun liegt der Fokus aufgrund der Größenverhältnisse auf den Gebäuden.

Ich nehme dich jetzt mit an eine große Straßenkreuzung in Düsseldorf mit Menschen, Ampeln und Schildern. (Die Autos habe ich weggelassen.) Und einem großen Blumenkübel.

Mit einer Bleistiftskizze habe ich mir zunächst Klarheit über die Proportionen verschafft. Das Schild vorne (auch noch wunderbar schief ) und der bepflanzte Topf sind um einiges größer als zum Beispiel die Litfaßsäule. Genau so wollte ich es haben, um vorne und hinten zu definieren. Anschließend habe ich das Ganze koloriert.

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Dabei ist meine erste Frage immer: Woher kommt das Licht? Dort spare ich Farbe aus. Um den Vordergrund zu betonen, habe ich kräftigere Farbtöne gewählt als für den Hintergrund und auch häufiger lasiert. Das Grün der Pflanze und das Blau für das Parkhaus-Symbol fallen sofort auf, während alles auf der anderen Straßenseite blasser und weiter entfernt scheint.

TIPP

Auch durch den Einsatz mehr oder weniger intensiver Farbtöne können wir perspektivisch arbeiten. Objekte in der Nähe gestalten wir mit kräftigen Farbtönen, entferntere Motive mit helleren, die wir beim Aquarellieren auch entsprechend mit mehr Wasser anmischen können.

Mir ist aufgefallen, dass Straßenschilder und ähnliches Verkehrszubehör als Zeichnung viel spannender rüberkommen als auf Fotos. Woran liegt das wohl?

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Hier noch ein Beispiel aus Stein am Rhein mit dem dekorativen Schild einer Goldschmiede im Vordergrund. Es zeigt einen Vogel mit Ring im Schnabel und ist etwa so hoch wie das Rathaus im Hintergrund. Natürlich nicht wirklich, aber in meiner Zeichnung. Und damit merken wir sofort, das Schild ist vorn, die Häuser sind weiter entfernt von uns.

1. Ich habe direkt mit dem Füller begonnen und zuerst das Schild gezeichnet. Damit konnte ich die anderen Details gut einpassen. Es kostet dich vielleicht Überwindung, die Häuser so klein zu zeichnen, aber es funktioniert, oder?

Winzige Details, die Spaß machen, sind das Kind auf seinem Fahrrad, eine Person, die über den Platz läuft, sowie Tische und Stühle der Restaurants. Auch diese verdeutlichen nochmals die Größendimensionen. Vor allem aber machen sie unser Bild lebendig und interessant.

2. Ich kann nicht sagen, dass das Rathaus einen türkisfarbenen Anstrich hatte, aber es hat mir in den Fingern gejuckt, mit Farben zu spielen. Türkis bringt immer Frische rein und ergibt einen guten Kontrast zum Gelb der Schirme und des Kirchturms.

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3. Weitere Lasuren und das Ultramarin am Rathaus bringen die Zeichnung zum Leuchten. Im ersten Moment überkam mich ein kleiner Schrecken, das Bild könnte zu bunt sein. Andererseits ist die Zeichnung so zart und kleinteilig bei gleichzeitig viel freier Fläche. Von überladen konnte nun auch nicht die Rede sein.

Wenn du genau hinschaust, siehst du weitere winzige Details wie zum Beispiel eine Lichterkette, die quer über den Platz gespannt ist. Oder wolkige Stuckelemente und Pünktchen und Schraffuren, die zwar nicht auf den ersten Blick ins Auge springen, das Motiv aber dennoch mitgestalten.

4. Also: Wenn schon Farbe, dann richtig. Und so kam auch noch ein türkisfarbener Himmel dazu, der sich entlang der Skyline entfaltet, aber auch ein wenig an den Häusern entlang schlängelt bis hinunter auf den Marktplatz. Damit fasst das Türkis alle Bildelemente zu einer Einheit zusammen.

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Zweite Regel: Deine Augenhöhe entspricht deiner Horizontlinie.

Wenn du stehst, liegen die Köpfe stehender oder gehender Personen, die ähnlich groß sind wie du, alle mehr oder weniger auf dieser (gedachten) Waagerechten. Ausgenommen sind sehr große Menschen, Kinder und Sitzende. Voraussetzung ist auch, alle Personen befinden sich auf derselben Ebene, stehen also nicht auf einer Anhöhe oder Treppe.

Diese Regel hat ihre Gültigkeit, ganz egal wie weit entfernt die Personen zu dir sind.

In meiner Skizze wird das deutlich. Je weiter vorn eine Figur ist, umso größer ist sie gezeichnet und desto näher wirkt sie. Und umgekehrt: Je kleiner sie ist, umso weiter entfernt von uns scheint sie zu sein.

Was passiert, wenn wir sitzen, anstatt zu stehen? Diese Situation haben wir beim Urban Sketching sehr häufig, wenn wir zeichnen. Dann blicken wir zu stehenden Menschen auf. Wir beobachten aus der sogenannten Froschperspektive.

Da wir am Anfang besprochen hatten, unsere Augenhöhe entspricht unserer Horizontlinie, befindet sich diese nun weiter unten und variiert mit der Sitzhöhe. In jedem Fall liegt sie tiefer, als in unserem ersten Beispiel. Ich habe sie mit meiner Bleistiftlinie etwas unterhalb der Körpermitte der Figuren angesetzt.

Schau, was nun passiert. Die Köpfe liegen nicht mehr auf einer Linie, sondern oberhalb der Horizontlinie. Je näher eine Person zu uns steht, desto größer erscheint sie uns nicht nur. Ihr Kopf ist auch umso weiter von dieser Linie entfernt.

Das dritte Beispiel veranschaulicht dir die Perspektive, die du hast, wenn du erhöht stehst – etwa auf einer Brücke, Treppe oder auf einem Berg. Ich spreche von der Vogelperspektive, mit der du auf die Menschen von oben herabschaust. Jetzt sind fast alle Figuren unterhalb der Horizontlinie angesiedelt. Diejenigen, die am dichtesten zu dir stehen, sind von dieser Linie am weitesten entfernt.

Gemeinsam haben alle drei Beispiele, dass Personen umso größer erscheinen, je geringer die Distanz zu dir ist. Dies lässt sich natürlich auch im weitesten Sinne auf andere Motive wie Bäume, Häuser etc. übertragen. Allerdings mit dem Unterschied, dass diese untereinander stark unterschiedliche Höhen haben können.

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Dritte Regel: Mache dir bewusst, ob du auf etwas drauf oder drunter schaust.

Zum Beispiel bei Dächern. Unser Gehirn kann uns da ab und an einen Streich spielen und es besser wissen wollen. Dann zeichnen wir, was wir kennen, und nicht, was wir sehen. In diesem Fall ist also ein wenig Beobachtung die bessere Wahl.

Für die rechte Skizze habe ich auf einer Anhöhe gestanden und auf Bagni di Lucca, eine kleine Stadt in der Toskana, geblickt. Folglich sah ich die Dächer von oben, also auf die Dachflächen, und habe sie entsprechend gezeichnet.

Ganz anders sieht es bei der Skizze links aus. Dort habe ich von unten hoch zu den Dächern geblickt. Damit konnte ich die Ziegel also nicht sehen, sondern schaute unter die Dachkante. Das kann uns das trügerische Gefühl geben, die Häuser seien oben »abgeschnitten« und würden in unserer Zeichnung einen komischen Eindruck vermitteln. Aber genauso ist es richtig.

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Vierte Regel: Messe mit deinem Stift.

Ich würde es vielleicht eher eine Empfehlung als eine Regel nennen. Du hast das bestimmt schon gesehen: Daumen oder Stift in die Luft haltend, ein Auge zugekniffen – so nehmen Künstler und Künstlerinnen Maß für ihre Zeichnungen. Denn es ist eine sehr hilfreiche Technik. Vor allem Winkel bzw. auf- oder absteigende Linien können wir uns auf diese Weise sehr gut vergegenwärtigen. Auf einmal siehst du, dass diese eine Linie, die du für abfallend hieltest, schräg nach oben verläuft – verrückt! Unsere Augen stellen uns manchmal ein Bein.

Am besten probierst du es gleich aus. Vergegenwärtige dir Neigungen und Winkel eines Objektes mithilfe eines Stiftes und lege diesen in unveränderter Handhaltung auf ein Blatt Papier. Schon weißt du, wie eine entsprechende Schräge verläuft.

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Zeichne, was du siehst

Wie du gemerkt hast, fußen alle vier genannten Regeln auf Logik und bewusster Beobachtung: Was ich von unten betrachte, kann ich nicht gleichzeitig von oben sehen. Die Diagonale eines Motivs im 40 Grad Winkel behält ihren Winkel in dieser einen Perspektive. Und so weiter, und so weiter.

Alle vier Regeln lassen sich in einem Satz ganz einfach zusammenfassen:

»ZEICHNE, WAS DU SIEHST.«

Zugegeben, dafür braucht es etwas Übung, aber ist das nicht bei allem so? Immerhin müssen wir dafür keine komplizierten Formeln und Theorien auswendig lernen und können uns schnell wieder dem Zeichnen zuwenden. Und für alle, denen selbst das ein bisschen lästig ist, habe ich bereits die passende Entschuldigung. »Zeichne, was du siehst«, funktioniert immer und auch ohne diese Regeln. Wer weiß denn schon, was du gesehen hast oder abbilden wolltest? Manch »widersprüchliche« Zeichnung ist oft interessanter als die exakt vermessene Architekturdarstellung oder das Foto, das schon Tausende vor uns gemacht haben (und noch nach uns machen werden).

Deine Zeichnung ist es etwas Hochindividuelles und sehr Persönliches. Sie ist einzigartig, ein Unikat mit deiner Handschrift. Das solltest du stets anerkennen und schätzen.