Vereinfachen hört sich gut an, oder? Vielleicht kommen dir direkt Kinderzeichnungen in den Kopf, denn Kinder bringen das für sie Wesentliche aufs Papier, ohne Schnickschnack. So machen wir das jetzt auch. Suchen wir uns ein Objekt, das uns interessiert und zeichnen es, ohne uns darum zu kümmern, ob es so »richtig« ist. Das ist übrigens auch eine prima Übung zum Reinkommen und Warmwerden.
Beim Einkaufen entdeckte ich vor einem Geschäft ein Schaukelpferd. Ich habe mit Fineliner den Umriss gezeichnet, Proportionen spielten keine Rolle. Stattdessen habe ich mich darum gekümmert, was mir Spaß macht, was mich interessiert. Zum Beispiel habe ich den unteren Teil, also die Schaukelautomatik, weggelassen. Und da du das Original nicht siehst, kannst du meine Zeichnungen nur danach beurteilen, wie sie dir gefallen. Und nicht, wie realistisch sie sind. (Na gut, wenn der Pferdekopf jetzt doppelt so groß wäre wie der Körper … Aber dann kann es auch gewollt gewesen sein, künstlerische Freiheit.)
Das gilt übrigens für alle Zeichnungen in diesem Buch und auch für deine. Lass dir von niemandem etwas einreden. Neulich las ich, es sei albern von Anfänger:innen, ihre Werke in den sozialen Medien zu posten. Das gehöre in den Privatbereich und müsse nicht gezeigt werden. Wie bitte?! Solche Sprüche brauchen wir nicht. Sie tragen mit dazu bei, dass Menschen gehemmt sind und glauben, schon vor dem Erlernen perfekt in etwas sein zu müssen.
Du hast es gemerkt: Ich möchte dich ein Stück entlasten. Zeichne, was du siehst und wie du etwas wahrnimmst. Es spielt keine Rolle, wie realistisch das Ganze wird oder wie perfekt. Und wie andere das beurteilen.
1. Zurück zum Schaukelpferd. Nach einigen Skizzen fertigte ich eine Bleistiftzeichnung an, die ich anschließend koloriert und im letzten Schritt mit Fineliner vollendet habe. Zum Glück hatte ich meinen kleinen Aquarellkasten dabei. Ich zeige dir hier die einzelnen Schritte. Du siehst, ich habe auch Linien stehen lassen, die nicht gleich »saßen«. Für mich macht das Zeichnungen lebendig. Außerdem achte ich darauf, sie nicht überall komplett zu schließen und variiere gerne den Druck auf meinen Bleistift. Das macht die Strichstärke abwechslungsreich und erzeugt einen dynamischeren Eindruck.
2. Das Kolorieren macht mir immer richtig Spaß, weil es noch einmal ganz viel aus meiner Zeichnung rausholen kann. Der Pferdekörper selbst war weiß. Deshalb habe ich die Schatten lasierend in Hellgrau und Hellgrün gesetzt, um diesen Weiß-Eindruck zu behalten. Rot, Gelb und Blau (die Primärfarben) verstärken den Eindruck eines Kinderspielzeugs.
Ich habe dabei die Stellen ausgespart, auf die das Licht fällt. Du siehst das besonders gut bei dem blauen Untergestell oder dem roten Sattel. Damit erspare ich mir das Anmischen einer extra Schattenfarbe, mit der ich meine Bilder schnell voll malen könnte. Stattdessen setze ich die gewünschte Farbe schwerpunktmäßig dort ein, wo Schatten liegt, und erhalte mir dadurch die typische Leichtigkeit von Aquarellbildern. Diese entsteht auch durch ein Über-die-Linie-Hinausmalen. Damit vermeidest du deine Zeichnung wie ein Ausmalbild wirken zu lassen.
3. Den letzten Schliff erhält meine Zeichnung mit dem Fineliner. Damit habe ich Konturen nachgezogen und für klar abgetrennte Partien gesorgt. Auch großzügig aquarellierte Bereiche lassen sich nachträglich in Form bringen, zum Beispiel beim Schweif, den Nüstern oder Hufen.
Die Bleistiftlinien – auch die »falschen« – sind immer noch sichtbar und sogar durch die Aquarellfarbe wischfest gemacht. Mir gefällt das sehr gut. Wenn du anderer Meinung bist, empfehle ich dir, diese Linien vor dem Aquarellieren auszuradieren. Ist erst einmal die Farbe darüber, ist es nicht mehr möglich.
»Der sympathische Roller«, so habe ich diese Zeichnung genannt. Sie macht mir noch im Nachhinein gute Laune. Mit wenigen Fineliner-Strichen hat auch der Roller für mich etwas von Kinderspielzeug, denn seine Darstellung ist einfach. Dazu ist er nicht perfekt, da sich Linien unkorrigiert überschneiden und teilweise schief sind. Das hat mich nicht gekümmert – ganz im Gegenteil. Und deshalb bekam er auch noch einen winzigen Farbanstrich. Wenige Lasuren, die über die Linien reichen, plus ein kleines Herz als Kennzeichen. Ein Roller zum Liebhaben!
Wenn du mein Buch »Porträtzeichnen ganz einfach« kennst, weißt du bereits, ich mag kleine zeichnerische Spielereien. Dazu gehört es auch, meine Motive – mehr oder weniger stark – zu abstrahieren. Aus einer Stadtansicht kann damit zum Beispiel eine Ansammlung kleiner bunter Klötzchen werden, aus einer Restaurant-Szene ein Gewusel von Formen und Farben.
Doch wie geht das?
Wir alle kennen Sprüche über Kunst wie »Das kann mein Kind auch«. In meinen Kursen höre ich allerdings auch öfter den Satz »Macht Spaß, ist aber gar nicht so einfach«. Aha, ja was denn nun?
Beim Ausprobieren wirst du merken, mit dem locker-flockigen Aufs-Papier-Werfen ist das so eine Sache. Mal sieht es einfach nur chaotisch aus, mal interessant oder auch langweilig. Deshalb möchte ich dir ein wenig Hilfestellung geben, damit es gut klappt.
Gehen wir dazu doch unter eine Düsseldorfer Brücke, wo sich ein Kiosk befindet. Dort gibt es interessante Ecken und Winkel – schöne Elemente für eine leicht abstrakte Skizze mit dem Fokus auf die Farbigkeit.
1. Ich beginne mit einer Bleistiftzeichnung. Dabei entdecke ich interessante Formen wie Dreiecke und Rechtecke, Parallelen und Zylinder.
2. Es folgt eine erste Kolorierung mit Aquarellfarbe, wobei ich neben Lasuren auch die Nass-in-Nass-Technik einsetze (zum Beispiel beim blauen Himmel, beim Treppenaufgang und der angrenzenden Wand). Der Ort ist eigentlich grau in grau, ziemlich düster. Was mich dazu verleitet hat, erst recht bunt zu werden. Die pinkfarbene Wand ist ein interessanter Eyecatcher, oder?
3. Linien machen die Zeichnung interessanter. Ich habe auf die Wand gekritzelt und willkürlich ein paar Striche beim Absatz darüber gesetzt und das Geländer ganz oben angedeutet. Dazu kam noch ein grünes Rechteck für das Schild an der Säule. Für mehr Lebendigkeit achte ich darauf, meine Strichstärke zu variieren.
4. Den letzten Schliff gibt es durch einige Fineliner-Linien. Nicht zu viel, es soll nicht »eingerahmt« wirken. Aber du siehst sicherlich, wie das Motiv als Ganzes noch mal eindrücklicher wird.
Wahrscheinlich bist du es gewohnt, deine Zeichnungen mit einer Linie zu beginnen. Nichts anderes bedeutet Zeichnen: Wir setzen Linien aufs Papier. Wie wäre es, zur Abwechslung mit einer Fläche zu starten, also ins Malerische zu wechseln? Dafür erfassen wir die Form als Gesamtes, aber zunächst ohne Details, wie in dem Beispiel oben. Am besten verwendest du für diese Technik einen breiten Pinsel. Unser Schwertpinsel Stärke 10 ist dafür bestens geeignet.
Mein beliebtestes Beispiel dazu ist ein Schloss mit vielen Türmen. Da kann einem schon schwummerig werden bei der Überlegung, das aufs Papier zu bringen. Konzentrieren wir uns dagegen auf das große Ganze, vereinfachen wir wieder und machen es uns leichter.
Hilfreich kann dabei auch sein, in Analogien zu denken. Beim Schloss fällt mir witzigerweise immer eine Geburtstagstorte ein. Das Bauwerk ist die mehrstöckige Torte, die Türme sind die Kerzen. Das klingt schon weniger schwierig.
Hast du Lust, das mit mir auszuprobieren? Wir erfinden ein Schloss komplett freihändig aus dem Gedächtnis.
1. Dafür habe ich zunächst mit breiten, waagerechten Pinselstrichen das Grundgerüst gemalt. Nach dem Trocknen kamen die senkrechten Türme als Lasuren hinzu.
2. Und dann beginnt der Spaß! Nach und nach kannst du dein Schloss nun mit dem Zeichenstift (Fineliner, Bleistift, Buntstift – was immer du magst) um Türme, Fenster, Zinnen und kleine Details ergänzen. Ich habe auf einmal Gesichter erkannt und einige Türme bewusst menschlich gestaltet. Bei den Dächern war mir Abwechslung in Form und Muster wichtig. Und zwei kleine Vögel und ein Blumentopf sorgen für einen Schuss Lebendigkeit.
Für viele meiner Kursteilnehmenden ist das Beginnen mit der Fläche ein Aha-Erlebnis, denn es erleichtert das Einfangen eines Motives. Besonders, wenn es sehr komplex ist, wie eben ein Gebäude mit Erkern und Türmchen.
Ich habe das hier für dich anhand des Gebäudes der Bezirksregierung Düsseldorf ausprobiert, einem neobarocken Bau am Rheinpark.
1. Vereinfacht ausgedrückt besteht der Teil des Gebäudes, den ich gezeichnet habe, aus einem querliegenden Rechteck mit drei Erhöhungen. Anstatt sich mit komplizierten Begriffen zu belasten, macht diese neutrale Beschreibung das Zeichnen leichter. Denn ein Rechteck ist schnell aufs Papier gebracht. Und genauso habe ich das mit Aquarellfarbe auf meinem Blatt festgehalten.
2. Im zweiten Schritt habe ich Details mit meinem Fineliner in die Fläche gezeichnet. Die drei erhabenen Stellen waren dabei eine gute Orientierungshilfe, mehr aber auch nicht. Ich strebe keine architektonisch genaue Zeichnung an, sondern möchte auf lockere Art den Charakter des Gebäudes wiedergeben. Dafür muss ich weder Säulen noch Fenster abzählen.
3. Du siehst, hier wächst die Zeichnung immer mehr und verdichtet sich durch das Hinzufügen weiterer Details, vor allem der Fenster.
Diese sollten in einer Flucht liegen, müssen aber nicht einzeln genauestens ausgestaltet werden. Du darfst auch ruhig hin und wieder eins auslassen!
Weil wir oben drüber sprachen zwei kurze Anmerkungen zur Perspektive: Ich habe aus der Entfernung auf die Dächer schauen können, aber unter das Dach der sogenannten »Laterne« mit dem Preußischen Adler. Der Baum im Vordergrund verortet das Gebäude und schafft Räumlichkeit. Solche Kleinigkeiten zu berücksichtigen, machen deine Zeichnung stimmig.
4. Jetzt aber noch mal der Griff zur Farbe, um für Kontraste zu sorgen. Die dunklen Dächer, die Schatten zwischen den Säulen und die rötlichen Streifen auf der Fassade zur Andeutung des Baumaterials sorgen für mehr Auffälligkeit. Die kupferne »Laterne« hat das typische Grüntürkis erhalten, das sich auch im Himmel wiederfindet.
Sicherlich hast du es erkannt: Der Himmel wurde laviert, also nass in nass aquarelliert. Dagegen habe ich beim Gebäude die Lasurtechnik angewandt.
5. Bäm! Jetzt strahlen die Farben um die Wette! Es war zwar Winter und der Baum unbelaubt. Das war mir aber doch etwas zu trostlos. Deshalb kam das frische Maigrün hinzu und für die Gebäudefassade weitere Lasuren an Violett und Orange. Das Türkis in der oberen linken Ecke ergibt zusammen mit dem knalligen Grün einen schönen Gegensatz zu den ansonsten eher gedeckten Farben.
6. Huch, jetzt hat sich auch noch ein Hund ins Bild geschoben!
Ich habe ihn nachträglich ins Bild montiert, was sofort eine andere Wirkung erzeugt. Nun steht der Hund im Mittelpunkt anstatt des Bauwerkes. Gleichzeitig entstehen weitere Bildebenen: vorn der Hund, im mittleren Bereich der Baum und hinten das Gebäude.
Damit meine ich Zeichnungen, die aus einer (schwarzen) Outline, also einer Umrandung, bestehen. Du kennst das sicherlich aus Comics. Bei dieser Technik kommt es darauf an, den Strich bewusst zu setzen, ohne viel zu stricheln. (Solltest du noch nicht geübt sein, zeichnest du vielleicht dünn mit Bleistift vor.)
Wenn wir ganz minimalistisch nur mit einem Stift unterwegs sind, kann so eine Zeichnung auch gut für sich stehen. Schatten und Akzente lassen sich gut schraffieren oder – je nach Gegebenheit des Stiftes – mit Wasser vermalen. Aber natürlich kannst du auch mit Farbstiften oder deinem Aquarellkasten kolorieren.
Bei mir um die Ecke ist ein kleiner Hafen. Dorthin nehme ich dich jetzt mit zum Booteskizzieren.
Für diese Zeichnung habe ich einen Fineliner verwendet und mit den vorderen Booten begonnen, jeweils mit der äußeren Form. Im zweiten Schritt kamen Details dazu wie Fenster, Fender, Leuchten etc. Zum Schluss habe ich den Steg eingezeichnet.
Auf die gleiche Art bin ich mit der hinteren Reihe Booten verfahren, nur dass ich sie mit weniger Einzelheiten ausgestattet habe. Es folgten die Häuschen im Hintergrund, der Treppenaufgang und ein paar angedeutete Büsche.
Im Grunde stand diese Zeichnung gut für sich. Eine schöne Abwechslung auch zwischen meinen bunten Skizzenbuchseiten. Gleichzeitig interessierte mich aber auch, wie die Zeichnung wohl koloriert aussehen könnte. Das habe ich dann einfach ausprobiert.
Bist du dir vor so einem Schritt unsicher, kannst du deine Zeichnung auf Aquarellpapier (am besten per Einzelblatteinzug) ausdrucken und weiterbearbeiten. So gehst du kein Risiko ein, deine Zeichnung im Zweifel zu verderben.
Auf der linken Seite siehst du das Ergebnis.
Bootskörper sind meistens weiß. Das kommt der Aquarelltechnik sehr entgegen, denn dort lassen wir einfach das Papier für mehr Leichtigkeit stehen. Die Boote in der ersten Reihe haben ein paar Farbakzente bekommen, die in der hinteren Reihe bewusst nicht. So lassen sich wunderbar Schwerpunkte im Bild setzen. Die Büsche im Hintergrund sind wieder farbig und bilden nach oben hin einen rahmenden Abschluss.
Und nicht zu vergessen das Wasser. Ich habe es rund um die Boote angedeutet und mit dunklerer Lasur die Spiegelung des Bootskörpers verdeutlicht. In der Mitte habe ich das Papier stehen lassen. Ich finde, der Eindruck von Wasser funktioniert so sehr gut.
Zur Verdeutlichung dieser Technik stell dir bitte kurz eine Spirale vor. Eine ganz simple, deren Kreise sich immer weiter nach außen bewegen. Genau das ist das Prinzip der Spiraltechnik: Wir beginnen mit einem Motiv und bewegen uns zeichnerisch immer weiter ergänzend drumherum. Dabei spielt es keine Rolle, ob du mittig im Bild anfängst oder eher in einer Ecke. Vor allem planst du deine Zeichnung nicht sehr weit im Voraus, sondern beginnst an einem Punkt, der dich interessierst und schaust, wie sich das Ganze entwickelt.
Bist du gewohnt, deine Motive vorab mit Bleistift zu skizzieren, um alles ordentlich an Ort und Stelle zu haben, wäre dies eine gute Möglichkeit, deine Komfortzone zu verlassen. Sieh es als lockeres Experiment für eine neue Zeichenerfahrung.
Du könntest dich auf einen belebten Platz setzen und ein erstes interessantes Motiv – zum Beispiel einen Kiosk ins Auge fassen. Mit diesem fängst du an und arbeitetest ihn aus. Bist du fertig damit, gehst du über zum nächsten Motiv – einem Baum? – und verbindest die beiden, indem du Pflastersteine, Rasen oder dergleichen ergänzt. Und so arbeitest du dich durch dein Bild voran.
Ich demonstriere dir das hier beim Blick in das Schaufenster eines Antiquitätenladens. Die Fülle und Verschiedenheit an ausgestellten Dingen ist ein reizvolles Motiv, oder? Dabei hat die Spiraltechnik auch den Charme, jederzeit das Bild beenden zu können – zum Beispiel, um noch etwas Text einzufügen. Oder einfach, weil uns die Komposition, so wie sie ist, gefällt.
Der Antiquitätenladen, vor dem ich stand, hatte eine überwältigende Auslage. Mit überwältigend meine ich viel. Eine Fülle von Dingen in verschiedenen Größen, thematisch gruppiert, aber dennoch teilweise auch wieder überhaupt nicht zusammenpassend. Also ideal, um mit dem Zeichnen zu beginnen.
1. Ich begann mit einer kleinen Skulptur, Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm darstellend. Dazu habe ich meinen Füller mit wasserfester Tusche eingesetzt.
2. Es folgte ein Tisch mit Weihnachtsfiguren sowie einem Elch und einem Vogel aus Porzellan. Hier habe ich ein bisschen mit Bleistift vorgearbeitet. Du siehst auf Details wie Gesichter wurde teilweise bewusst verzichtet. Das werde ich später durch Kolorierung auflösen.
3. Um das Ensemble komplett zu machen, kamen das Besteck, ein Kerzenleuchter und ein wenig Geschirr dazu. In der Auslage standen noch viel mehr Dinge. Teilweise waren sie durch die Spiegelung der Fensterscheibe oder spärliches Licht nicht gut zu erkennen. Dann habe ich sie weggelassen und das Prinzip der Vereinfachung angewandt. Entscheidend war, den Eindruck der »Dekorationsdichte« wiederzugeben.
4. Dies gelingt im nächsten Schritt auch noch einmal verstärkt durch den Einsatz von Aquarellfarbe.
5. Hier siehst du im Rückblick noch einmal anhand der eingezeichneten Spirale den Entstehungsprozess der Zeichnung.
6. Kommen wir also zur farblichen Gestaltung. Wieder habe ich mich, wie immer bei der ersten Lasur, auf die dunklen Stellen konzentriert, unter Aussparung der belichteten. (Du weißt bereits, so vermeiden wir, in den Ausmal-Modus zu verfallen.) Ich achte außerdem auf die stärksten Kontraste – hier zum Beispiel ist es der Raum unter dem Tisch, der stark verschattet ist.
Bis zum Endergebnis folgen weitere Lasuren. Ab und zu habe ich Farbe auch mal verlaufen lassen und laviert. Du erkennst das beim Weinglas, Vogel oder Elch.
Ein wenig Struktur ist immer ein Gewinn für dein Bild und macht es interessanter. Vielleicht hast du die Pünktchen auf dem Tischtuch bemerkt, auf dem das Besteck liegt. Oder die Zeichnung auf dem Vogelkörper oder Baumstamm. Das sind kleine Effekte mit großer Wirkung. Genauso das Muster auf dem Weinglas, die Streifen auf den Sektflöten oder die Ornamente auf der Porzellandose.
Stell dir vor, du sitzt an einer langen gedeckten Tafel und möchtest sehen, welche leckeren Gerichte dort links und rechts von dir stehen. Ohne den Kopf seitlich hin und her zu drehen, wird dir das nicht gelingen, denn dein Sichtfeld hat natürliche Grenzen.
Deshalb imaginieren wir nun zeichnerisch eine Perspektive, die den gesamten Raum vor dir abbildet und um dich herum krümmt entweder von der Mitte oder aus einer Randposition heraus. Ganz nach Lust und Laune, denn hier geht es schon einmal gar nicht um perspektivische Genauigkeit. Übertreibungen sind durchaus erwünscht! Was kein Kameraobjektiv der Welt kann, machen wir möglich!
Ich nehme dich dafür mit in ein wunderschönes Café. Es verfügt neben einem langen Tresen, der sich gut für unser Vorhaben eignet, über Regale voll mit Flaschen, dazu Barhocker, Tische, Stühle und einiges an Deko.
1. Ich beginne mit Fineliner den Tresen zu zeichnen und lasse ihn sich in seiner Krümmung von rechts nach links verbreitern. Die Decke gestalte ich als Kuppel, in deren Innern sich die Regale und Schränke nach außen wölben. Die Bestuhlung und den Tisch lege ich ebenfalls an. Alles darf ein wenig schief sein. Wie gesagt, wir arbeiten hier mit einer imaginierten Perspektive, bei der nichts korrekt sein muss.
2. Volle Regale, ein von der Decke baumelnder Kronleuchter, Speisekarten und ein bisschen Barzubehör auf dem Tresen. Dazu Ornamente als Wand- und Deckenbemalung – jetzt sind wir mittendrin im Café. Ich habe nicht jede einzelne Flasche studiert und auch nicht ihre Anzahl geprüft, sondern einfach mit verschiedenen Formen losgelegt und sie in den Regalen platziert.
3. Der Farbschwerpunkt liegt als Gestaltungsmittel auf der rechten Seite und läuft nach links aus. Das Gelb der Decke ist eine Lavur (Nass-in-Nass-Technik), ebenso die Koloration rechts in den Regalen. An den Stühlen erkennst du besonders gut die Lasuren des Indigoblau, die die Form der Polster modellieren.
4. Um das Mobiliar im vorderen Bereich besser zu verankern, habe ich im letzten Schritt einige Bodenfliesen mit einer hellen Lasur angedeutet. Mit dunklerer Farbe und wenigen Strichen ist ein diagonal verlaufendes, einem Schachbrett ähnelndem Muster zu erkennen, damit der Boden optisch Halt findet.
Picasso soll das gesagt haben.
Am Anfang des Buches hatte ich dir bereits eine minimalistische Ausstattung ans Herz gelegt, aber glaube mir, es geht immer noch ein bisschen weniger. Limitierung kann deine Kreativität befeuern, auch beim Zeichnen. Denn wenn wir keine Möglichkeit haben, noch auf dieses oder jenes zurückzugreifen, sind wir gefordert, uns Alternativen zu überlegen.
Ich vergleiche es mit dem Kochen. Du hast dir ein neues Rezept ausgesucht, aber beim Einkaufen eine Zutat vergessen. Sofern du nicht noch einmal zum Supermarkt gehst, wird sich der Geschmack deines geplanten Gerichtes also verändern. Aber muss das schlecht sein? Es ist ein neues Rezept, von dem du nicht weißt, wie es schmecken soll. Es gibt also keine Referenz, nach der du dich richten könntest.
Ich neige in solchen Fällen zu einer kreativen Lösung und habe zwei Vorschläge für dich: Du schaust in deinen Vorrat, was du stattdessen verwenden möchtest. Oder: Du bereitest deine Mahlzeit einfach ohne diese Zutat zu, streichst sie ersatzlos und lässt dich vom Ergebnis überraschen. Ich weiß, es gibt Menschen, die können das schlecht aushalten. Meine Familie reagiert regelmäßig gereizt, wenn ich mich nicht an die Rezeptvorgaben halte und herumexperimentiere.
Bist du bereit, beide Varianten – Ersetzen und Weglassen – beim Zeichnen auszuprobieren? Statt deines Aquarellkastens nimmst du beispielsweise nur zwei Buntstifte mit nach draußen. Und anstatt den Himmel blau zu malen, lässt du die Farbe einfach ganz weg. Kein Blau, aber auch kein Violett, Rot oder sonst irgendetwas – du lässt das Papier an der Stelle frei. Was du vielleicht niemals ausprobiert hättest, wenn dein Blau mit dabei gewesen wäre.
Hier habe ich ein typisches Düsseldorfer Büdchen gezeichnet. Dort trifft man sich auf ein Alt (das Düsseldorfer Bier) und steht ein bisschen rum und quatscht. Wie du siehst, besteht meine Zeichnung aus nur zwei Farben: Grau und Rot. Denn ich hatte einfach nur einen Bleistift und einen wasservermalbaren Buntstift dabei.
Bei den Kontrasten habe ich mich auf den Vordergrund – den Kiosk samt Menschen, Fahrrädern und Mülltonne – konzentriert. Baum und Verkehrsschild sind lediglich als Silhouette angedeutet. Mit diesem kleinen Kniff geben wir Betrachtenden den Hinweis, unser Motiv befindet sich in einer städtischen Umgebung.
Das leuchtende Rot zieht das Auge Richtung Bildmitte ins Zentrum des Geschehens. Die Menschen sind angedeutet, aber ihre Körper- und insbesondere ihre Kopfhaltung verrät etwas über sie. Der Mann rechts schaut in die Ferne, während er sein Bier trinkt. Die Herren neben der Mülltonne sind in ihre Unterhaltung vertieft. Der Radfahrer kommt gerade von seiner Tour zurück und ist im Begriff, sich hinter dem Paar, das seine Bestellung aufgibt, anzustellen.
Vermisst du den Himmel in dieser Zeichnung? Ich denke, die Komposition funktioniert auch ohne. Angenommen, der Baum wäre nicht im Bild, könnte ich mir angedeutete Vögel am Himmel vorstellen oder eine zarte Wolke als Bleistiftumriss. So aber wären mir weitere Linien oder Flächen zu viel.