Der Raum beinhaltete vier Öfen, die in Zweierpaaren nebeneinander standen und von oben betrachtet ein Gleichheitszeichen ergaben, mit einem Durchgang in der Mitte. Hinter einem davon versteckte sich Emma, während Jack auf den Schützen wartete. Seine schlurfenden Schritte klangen in der bunkerähnlichen Struktur so laut wie Schüsse. Sie waren das einzige Geräusch.
Jacks Geduld zahlte sich aus, als endlich der Lauf eines Sturmgewehrs in der Öffnung zu seiner Rechten auftauchte. Sofort erkannte er die deutsche Waffe, eine Heckler & Koch HK416. Dieses Gewehr war ein wahres Monstrum.
Die Kerle hier sind Profis, dachte Jack.
Ein einfacher Aktivist wäre sicher nicht so schwer bewaffnet.
Sobald die Waffe ins Sichtfeld kam, sprang er darauf zu und trat den Lauf weg. Jack stand seinem Feind nun in einer Linie gegenüber. Dann näherte er sich dem Deutschen mit einem schnellen Seitenschritt und versetzte seinem Jochbein einen vernichtenden Schlag mit dem Ellenbogen. Anschließend hob er sein linkes Knie in dessen Schritt, woraufhin der Mann in die Knie ging und die Waffe fallen ließ.
Jack hob sie auf, wich zurück und nahm sie in den Anschlag, wie er das von früher gewohnt war. Als sie das einschüchternde Gewehr in den Händen ihres Retters sah, kam Emma aus ihrem Versteck und stellte sich neben Jack.
»Wer sind Sie?«, fragte Jack. »Was wollen Sie hier?«
Der Mann trug eine taktische Maske über der unteren Gesichtshälfte. Jack konnte nur die Haare und seinen hasserfüllten Blick ausmachen.
Jack ging einen Schritt näher heran und zischte durch zusammengebissene Zähne: »Wer sind Sie?«
Emma trat ebenfalls nach vorn und stellte die gleiche Frage in perfektem Deutsch.
Verwirrt sah Jack sie an.
»Ich hatte drei Jahre Deutsch im Gymnasium und ein paar Privatstunden, als ich nach Bonn gezogen bin«, erklärte sie.
Der Entwaffnete musterte sie für eine Weile, dann sprach er. Emma übersetzte für Jack.
»Wir sind hier, um zu holen, was uns gehört«, sagte sie.
Jack hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Hier in Auschwitz gab es nichts außer schlechten Erinnerungen.
»Und was genau soll das sein?«, fragte er.
Die Wangenmuskulatur des Terroristen verspannte sich unter der Stoffmaske. Er grinste. »Der Schatz des Führers.«
Jack hob die rechte Braue und sah fragend Emma an, die nur ratlos mit den Schultern zuckte.
»Welcher Schatz?«
Der Deutsche verengte seine Augen zu Schlitzen. »Der verschollene.«
Es folgte eine hastige Erklärung, die Emma so gut wie möglich übersetzte.
»Er behauptet, es gäbe einen geheimen Schatz irgendwo zwischen hier und den Bergen im Nordwesten, und dass er hier auf weitere Anweisungen seines Kommandanten wartet.«
»Warte mal«, sagte Jack, der sich an etwas erinnerte, das er vor Jahren gelesen hatte. »Er meint doch nicht etwa den Goldzug?«
Emma fragte nach.
»Doch«, antwortete der Söldner und nickte.
Jack brach in Gelächter aus. »Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, Hans, aber den gibt’s nicht. Danach suchen die Leute schon seit Jahrzehnten, ohne auch nur den Hauch einer Spur zu finden. Hab sogar selbst ein wenig recherchiert, weil es interessant klang. Hat Spaß gemacht, das war’s aber auch schon. Komplette Zeitverschwendung.«
Der Mann lachte frech zurück.
»Was ist daran so witzig?«
Dann beruhigte er sich und wandte sich Emma auf Deutsch zu. Es störte Jack nicht, dass sie auf Deutsch miteinander sprachen. Was ihm Probleme bereitete, war der freundliche Unterton, als würden sich die beiden kennen.
Scheiße.
Das Gewehr, das er dem Mann abgenommen hatte, fühlte sich plötzlich tonnenschwer an. Er war an der Nase herumgeführt worden. Also entspannte sich Jack und drehte langsam den Kopf. Die Pistole war nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt.
»Emma?«
Die Frau grinste. »Sorry, Herr Reilly.«
Jetzt klang ihre Betonung plötzlich sehr deutsch.
Der Mann stand auf. Er war so groß wie Jack, ungefähr ein Meter neunzig, aber breiter, vielleicht an die 100 Kilo. Wütend riss er Jack das Gewehr aus der Hand und richtete es auf ihn.
»Aber wie mein Bruder schon erwähnt hat, wartet er auf den Kommandanten.«
»Moment mal …« Jack war schockiert. »Du führst diesen Trupp an?«
Langsam hob er die Hände und trat einen Schritt zurück.
Sie grinste wie ein Hai. »Ja.«
»Und warum?«
»Günthers und mein Urgroßvater, Elias Schmidt, arbeitete eng mit Heinrich Himmler, dem Anführer der Schutzstaffel, zusammen. Als Himmlers rechte Hand wusste er alles, was der Reichsführer-SS auch wusste.«
Während Jack das Gesagte verarbeitete, ließ er sich gegen die Wand drücken und mit Kabelbindern fesseln. Er würde mitspielen, bis sich eine gute Gelegenheit ergab. Solange er am Leben blieb, hatte er eine Chance, genauso wie die Leute dort draußen.
Während Emma weiterhin die Pistole auf ihn richtete, tastete Günther ihn gründlich ab, fand aber nichts außer Mietautoschlüssel, Geldbeutel, Reisepass und Hotelkarte. Er nahm alles an sich.
Jack seufzte.
Scheiße.
Dann packte Emmas Bruder Jack am hinteren Hemdkragen und bugsierte ihn in den vorderen Teil des Krematoriums. Er riss die Tür auf und schubste ihn ins Freie. Stolpernd blieb Jack inmitten einer Gruppe aus vier uniformierten Männern stehen. Mit den schwarzen Masken und Kampfanzügen sahen sie Günther zum Verwechseln ähnlich. Nichts gab ihre Identität preis. Emma war die Einzige, die sich von ihnen abhob und deren Identität nicht verschleiert wurde.
»Da hab ich dich wohl falsch eingeschätzt«, bemerkte Jack, der nun auf die Knie gezwungen wurde. »Ich hab dich für cool gehalten.«
Emma stand mit geholsterter Pistole vor ihm, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Und jetzt?«, fragte sie unbeeindruckt.
Jack wagte einen Rundumblick auf die Umstehenden.
»Jetzt finde ich, du bist ein Miststück.«
Günther donnerte Jack den Gewehrschaft gegen den Kopf, woraufhin dieser zu Boden ging und vor Schmerzen stöhnte. Während er die Punkte vor den Augen wegblinzelte, entschied er, dass es wohl am besten war, einfach unten zu bleiben. Falls er am Leben blieb, würde er sich einfach tragen lassen.
Während er in den sonnigen Himmel blickte, lachte Jack. »Meine Güte, du haust ja zu wie deine Schwester.«
Günther stellte sich über ihn und verdeckte mit seinem breiten Kreuz die Sonne. Dann hob er wieder das Gewehr. Als er Jack zum zweiten Mal schlagen wollte, wurde er aufgehalten.
»Halt!«
Günther hielt das Gewehr weiterhin auf ihn gerichtet, wandte den Kopf aber nach links, wütend auf Emma, die ihn unterbrochen hatte. Jack war dankbar, hatte aber nicht vor, das der Hexe mitzuteilen. Emma stellte sich neben ihren Bruder. Gemeinsam sahen sie wie zwei Geier aus, die über ihm kreisten. Dann warf sie ihrem Bruder einen Blick zu, der in Jack ein mulmiges Gefühl erzeugte.
»Wir dürfen ihn nicht verletzen.« Sie stützte sich auf die Knie. »Jack wird uns dabei helfen, den Zug ausfindig zu machen.«
Da konnte sich Jack nicht länger beherrschen und brach zum zweiten Mal in Gelächter aus, allerdings nur, bis Günther ihm die Stiefelspitze in die Rippen bohrte. Er ächzte und krümmte sich vor Schmerz. Dann atmete er ein paar Mal tief ein und lachte erneut.
»Scheiße, Hans, sind das etwa Stahlkappen? Ihr seid ja richtige Klischee-Nazis!«
»Lach du nur, Jack«, erwiderte Emma ernst, »aber du wirst uns helfen.«
Er schnaubte. »Träum weiter.«
Sie wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und steckte sie hinter ihr linkes Ohr. »Bisher bin ich großzügig gewesen, Jack. Noch gibt es keine Toten. Aber wenn du uns nicht hilfst, dann bringe ich eine Geisel nach der anderen um, angefangen bei den Frauen und Kindern.«
»Hoch mit ihm!«, schrie Emma.
Zwei der Neuankömmlinge legten sich den Gurt ihrer Heckler & Koch über die Schultern und zogen Jack nach oben. Selbstbewusst schritt Emma auf ihn zu, bis sie nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt stand.
Dann durchbohrte sie ihn mit ihren stechend blauen Augen. »Willkommen, Jack Reilly. Du wirst den Anfang des Vierten Reichs live miterleben.« Zärtlich strich sie ihm über die Wange. »Ich freue mich, dich als meinen Projektleiter dabei zu haben.« Sie grinste. »Du siehst aus wie einer, der dem Job gewachsen ist. Und wenn nicht, dann denk daran …«
Jack wusste, wann er sich geschlagen geben musste. »Wenn ich dir helfe, wie garantierst du mir, niemanden zu verletzen?«
»Gar nicht. Aber du bist gerade nicht in der Position, irgendwelche Forderungen zu stellen.«
Jetzt grinste Jack. »Das kommt ganz drauf an, wie sehr ihr meine Hilfe wollt.«
Günther rammte ihm den Gewehrschaft in den Bauch, woraufhin er erneut auf die Knie ging. Der Schlag war so heftig, dass er nicht atmen konnte. Vergeblich schnappte Jack nach Luft. Gerade, als er seine Atmung langsam wieder in den Griff bekam, gab Emma einen weiteren Befehl auf Deutsch und jemand schlug Jack auf den Hinterkopf.
Dann drehten sich seine Augen nach innen und er verlor das Bewusstsein.
Jack fühlte sich, als wäre er mit einem Vorschlaghammer verprügelt worden. Einer von Emmas Backstage-Tänzern hatte ihm von hinten den Pistolengriff übergezogen. Jetzt wünschte er sich gerade nichts sehnlicher, als den Gefallen zu erwidern, aber das schien gerade aussichtslos.
Erschöpft öffnete er langsam die Augen und zuckte vor dem Licht der grellen Nachmittagssonne zurück. Die kühle Brise bestätigte seine Vermutung, dass er noch immer im Freien war.
Er stöhnte. »Wer hat mich geschlagen?«
»Das wäre dann wohl Karl«, antwortete Emma, die irgendwo hinter ihm stand. »Er kann dich nicht sonderlich leiden.«
»Karl? Gut, der steht jetzt ganz oben auf meiner Abschussliste.«
»Ich dachte, das wäre ich?«, fragte Günther lächelnd und ging vor Jack in die Hocke.
Er sah zu Günther hinauf und kniff in der Sonne die Augen zusammen. »Nein, du bist einfach nur ein mieses Stück Scheiße.«
Günther blickte ihn finster an und hob die Faust.
»Nicht, Brüderchen«, schritt Emma ein, »wir brauchen Jack für unser kleines Abenteuer.«
»Hör lieber auf Gretel, Hänsel. Sie ist der Boss, stimmt’s?«
Günther seufzte genervt und stand auf. Dann stapfte er aus Jacks eingeschränktem Sichtfeld.
Durch den Nebel des pochenden Kopfschmerzes musterte Jack seine Umgebung. Sie hatten ihn von Krematorium I zum Ladebereich der Häftlingsküche verschleppt, in der sie gerade die Geiseln festhielten. Sie umzingelten den Bereich.
»Hoch mit ihm!«
Emmas Befehl wurde von zwei Leuten ausgeführt, die Jack noch nie zuvor gesehen hatte und die nicht zum Team gehörten. Die beiden, die Jack aufhalfen, waren Kinder. Sie schnieften und schluchzten, genauso wie die Frau zu seiner Rechten. Sie musste ihre Mutter sein, krank vor Sorge um ihre Kinder.
Die Situation war ausweglos. Sie hatten das Leben dieser Menschen in der Hand. Falls seine Mission erfolgreich war, vielleicht, nur vielleicht, würden sie verschont. Emma war ehrgeizig, aber Jack hielt sie nicht für blutrünstig. Sie versuchte nur, ihn einzuschüchtern, was ihr durchaus gelang.
Er dachte an seine letzte Mission mit Operation Delta zurück – an den kleinen Jungen, der sich in die Luft gesprengt hatte, um Jack zu töten. Selbst nach einem halben Jahrzehnt suchten ihn diese Bilder noch immer heim. Das würde er nie abschütteln können.
»War das nötig?«, fragte Jack an Emma gewandt.
Sie trug nun das gleiche Outfit wie ihre Männer, eine Kevlarweste über einem schwarzen Kampfanzug. Aber sie hatte weder eine HK416 noch Rucksack oder Maske. Ihre einzige Waffe war die Pistole in ihrem Holster, die sie Jack schon in Krematorium I an den Kopf gehalten hatte.
»Aber es hat funktioniert, nicht?«, antwortete sie und verschränkte die Arme.
Anschließend entfernten sie sich mit ihm von der Gruppe. Hier waren sicher rund 300 Menschen anwesend, Emmas Männer nicht mit eingerechnet.
»Falls du’s genau wissen willst«, sagte sie und zeigte auf die Dächer der einstöckigen Gebäude, »ich habe sechs Männer hier stationiert. Und noch ein paar, die über das Gelände patrouillieren. Sie haben nur eine einzige Aufgabe: Die Geiseln um jeden Preis festzuhalten.« Dann wandte sie sich den Zivilisten zu und rief: »Eine falsche Bewegung und ich eröffne das Feuer.« Dann sah sie Jack an, sprach dabei aber noch immer zur Menge. »Und meine Männer werden erst aufhören, wenn ihnen die Munition ausgeht.«
Jack nickte ihr kurz zu, um zu signalisieren, dass er sie verstanden hatte. Falls er irgendetwas Dummes anstellte, klebte Blut an seinen Händen.
Sie wollte sich gerade umdrehen, aber er hielt sie auf. »Emma?«
»Was?«
»Welches dieser Arschlöcher ist Karl?«
Ein grober Kerl mit ergrauenden Koteletten reckte die Brust heraus, marschierte auf Jack zu und blieb weniger als 30 Zentimeter vor ihm stehen. Dann beugte er sich zu ihm vor und knurrte: »Ich bin Karl.«
»Mach Platz, Großer«, sagte Jack und wich vor dem schwarz gekleideten Gorilla zurück. Noch immer gefesselt, täuschte er Nervosität vor, woraufhin sich Karl wieder entspannte. Dann sprang Jack plötzlich auf ihn zu und rammte ihm den Schädel ins Gesicht. Zufrieden sah er, wie der Mann zu Boden ging und sich die blutige, gebrochene Nase hielt.
»Platz, hab ich gesagt.«
Günther verzog das Gesicht und ging einen Schritt auf Jack zu.
»Schluss damit!«, schrie Emma und zog ihre Pistole, die sie nun auf eines der Kinder richtete, das Jack aufgeholfen hatte. Das Mädchen konnte nicht älter als 13 sein. Der Anblick der Schusswaffe war zu viel des Guten, und sie rannte kreischend weg. Sie hatte ihre Mutter schon fast erreicht, als einer von Emmas Männern sie am Arm packte und vor Jacks Füße warf.
»Hey«, sagte er sanft zu ihr, »alles wird gut.«
Schniefend nickte sie und wischte sich die Tränen ab.
Dann wandte sich Jack mit zusammengebissenen Zähnen wieder Emma zu.
»Also, wann fangen wir an?«