Kapitel 5

 

Vor zehn Minuten war Jürgen, Karls Kollege und Jacks zweiter Bewacher, losgezogen, um Emmas mysteriösen Kontakt ausfindig zu machen. Wer auch immer das war, er (oder sie) befand sich hier irgendwo auf dem Gelände und war offensichtlich im Besitz des Schlüssels, der in das ebenso mysteriöse Schloss passte.

Jack machte es sich auf dem angeschraubten Tisch bequem. Dann betrat ein älterer Herr den Raum. Als der Neuankömmling Jack auf dem historischen Artefakt sitzen sah, schnappte er schockiert nach Luft. Jack erkannte ihn, noch bevor Emma ihn vorstellte.

»Jack Reilly«, sagte sie, »Ich möchte dir Piotr Szymański vorstellen. Er ist nun seit fast 40 Jahren der Direktor des Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau«, dann lächelte sie Jack böse an, »und steht noch länger auf unserer Seite.«

»Sehr sympathisch«, erwiderte Jack und wippte mit den Beinen wie ein Kind vor und zurück.

»Muss er dort sitzen?«, fragte Piotr.

Jack zuckte mit den Schultern. »Ich würde mir ja einen Stuhl holen, wenn es welche gäbe.« Dann zog er eine Schnute. »Bist ein schlechter Gastgeber, Pete.«

Piotr hatte den gleichen Humor wie Emma und ihre Truppen: gar keinen. Dennoch wartete Jack geduldig, bis sie erklärte, warum der heimliche Nazi sie mit seiner Anwesenheit beehrte.

»Erzähl’s ihnen«, forderte Emma ihn auf.

Piotr nickte. »Mein Vater, Klaus Wagner, hat hier im Zweiten Weltkrieg als Schutzhaftlagerführer und rechte Hand des Lagerkommandanten gearbeitet. Eine große Ehre. Außerdem war er der Cousin desselben.«

»Warte mal, dein Vater hat von diesem Ort gewusst?«

Piotrs Gesicht entspannte sich. »Richtig. Aber meine Mutter hat seinen ganzen Besitz verbrannt, nachdem er uns verlassen hat. Wie du dir vorstellen kannst, war sie davon nicht sonderlich begeistert. Ich habe den Schlüssel erst nach ihrem Tod in einem Bankschließfach gefunden. Sie hat ihn nie erwähnt.«

Frau Szymańskis Wut auf Piotrs Vater erwies sich in Jacks Augen als wahrer Segen für die Menschheit. Sie hatte die Welt bis jetzt unwissentlich davor bewahrt, dass der Goldzug in die falschen Hände geriet, wie zum Beispiel in die ihres Sohnes.

»Deine Blutlinie ist genauso abstoßend wie die von Emma und Günther«, kommentierte Jack. Piotr verengte die Augen zu Schlitzen. »Sagt der Amerikaner, dessen Regierung ihre Nase ständig in fremde Angelegenheiten steckt.«

Jack hatte keine Lust auf politische Diskussionen. Also tat er das einzig Kluge und zuckte schweigend mit den Schultern. Sollte der Mann doch seinen kleinen Triumph genießen. Jack musste möglichst alle Informationen in Erfahrung bringen, denn wie so oft war Wissen auch in diesem Fall Macht. Je mehr Jack herausfand, desto unersetzbarer machte er sich.

»Also«, setzte er an, »wie kommt’s, dass du in all den Jahren nicht aufgeflogen bist? Ich nehme doch an, ein Mann in deiner Position wurde mehrfach eingehend geprüft.«

Er grinste. »Wer sagt, dass ich das nicht wurde?«

Richtig. Es gab sicher noch deutlich mehr Menschen wie Emma, die sich an kranke, veraltete Ideologien klammerten. Es sollte ihn nicht überraschen, dass jemand wie Piotr dazugehörte. Wie viele davon saßen wohl in den Regierungen? Es könnten Tausende – Millionen – sein, die nur auf eine Leitfigur wie Emma warteten.

»Und das Schloss?«, fragte Jack.

Piotr grinste und entblößte dabei seine gelben Zähne. »Dafür braucht man einen Schlüssel.« Vorsichtig hob er eine Kette über seinen Kopf. Am Ende einer einfachen Kordel baumelte ein eiserner Schlüssel. »Nach dem Verschwinden meines Vaters bin ich mit meiner Mutter nach Österreich geflohen. Dort haben wir unsere Namen geändert und uns als Flüchtlinge ausgegeben.«

»Als ich herausgefunden habe, wer Piotr wirklich ist, sind wir miteinander in Kontakt getreten.«

»Wie viel kriegst du von der Beute ab?«, fragte Jack. Sicher tat er das nicht nur aus Edelmut. Piotr wollte reich werden.

»Ein Prozent«, antwortete er.

Ein Prozent von 30 Milliarden war eine Menge Geld. Jack konnte sich kaum vorstellen, was er mit den 300 Millionen anfangen würde, die Piotr erwarteten. Der Museumsdirektor würde das Geld vermutlich seiner Familie hinterlassen und einen Teil davon in Emmas und sein gemeinsames Vorhaben investieren.

»Und du?«, fragte der Direktor im Gegenzug.

Jack lachte. »Oh Mann, Pete. Ein Comedian bist du auch noch!« Dann huschten seine Augen zu Emma. »Glaubst du ernsthaft, ich helfe diesem Abschaum freiwillig?«

»Hüte deine Zunge, Jack«, warnte sie ihn und hob die Pistole.

Jack zuckte nicht mit der Wimper. Stattdessen verdrehte er die Augen und hüpfte vom Tisch. »Komm schon, Pete, bringen wir’s hinter uns.«

Nervös übergab Piotr sein Familienerbstück an Emma, der die Ehre zuteilwurde, das Schloss zu öffnen.

»Warum hast du das nicht schon längst erledigt?«, fragte Jack, denn Piotr hatte den Schlüssel offensichtlich schon die ganze Zeit über in seinem Besitz.

Emma seufzte und schob Jack beiseite. Dann ging sie auf die Knie und legte sich wieder auf den Rücken. »Bedauerlicherweise haben wir erst spät herausgefunden, wer er wirklich war. Sonst hätten wir ihn schon früher kontaktiert.«

»Und du?«, fragte Jack.

»In meinem Alter bringe ich das nicht mehr allein fertig. Ich habe mir lange jemanden gewünscht, dem ich damit vertrauen kann.«

Pass auf, was du dir wünschst, Pete.

Jack nahm an, es gab nicht viele Menschen, die Emma nicht kaltblütig töten würde, sobald sie das als nötig erachtete.

Die nachfolgende Stille wurde von einem metallischen Krachen irgendwo hinter der Mauer zerrissen. Selbst nach allem, was Jack erlebt hatte, stellten sich seine Nackenhaare auf. Er war gespannt, was als Nächstes passieren würde.

Emma kroch unter dem Tisch hervor und stellte sich neben Jack. Günther tat es ihr gleich und hatte dabei das gleiche Funkeln in den Augen wie seine Schwester. Piotr hingegen hatte sich nicht bewegt, seit er ihr den Schlüssel übergeben hatte. Selbst jetzt stand er nur gebückt da und spielte nervös mit der nun schlüssellosen Kordel. Karl und Jürgen, die draußen gewartet hatten, standen nun im Türrahmen. Jeder wartete gespannt auf …

Nichts.

»Ähm«, sagte Jack und sah sich um.

Aber dann hörte er es, leiser als ein Flüstern. Von irgendwo aus der Wand drang ein gedämpftes Klicken. Es erinnerte Jack an eine Eieruhr, die man unter einem Kissenberg begraben hatte. Er umrundete den Tisch und drückte sein linkes Ohr an die Mauer, um zu lauschen.

Plötzlich glitt der Wandabschnitt vor ihm ohne Vorwarnung geradewegs in den Boden. Jack geriet aus dem Gleichgewicht und stürzte in den geheimen Raum – oder zumindest erwartete er das, tatsächlich führte dort aber eine stählerne Wendeltreppe in die Tiefe. Minutenlang taumelte er im Kreis abwärts, bis er nicht mehr wusste, wo oben und unten war, oder wie lange er schon fiel. Irgendwann kam der angeschlagene Park-Ranger zu einem abrupten Halt und landete mit der flachen Brust auf dem harten, staubigen Betonboden.

Alles war so schnell passiert, dass er nicht sah, was ihn noch hinter der falschen Wand erwartete. Offensichtlich hatten die Nazis unter Auschwitz ein geheimes Tunnelnetzwerk gegraben, das mit einer Art natürlichem Höhlensystem verbunden war. Seine Umgebung war allerdings zu dunkel, um seine Vermutung zu bestätigen. Zuerst einmal musste er wieder zu Atem kommen und darauf warten, dass der Schmerz nachließ.

Jack blieb liegen, bis die Schritte seiner Entführer lauter wurden. Dann rollte er sich stöhnend zur Seite und versuchte, seine Umgebung zu erfassen. Alles, was er sah, war der grelle Schein der Taschenlampe, die ihn von oben anstrahlte. Emma kam als Erste an, dicht gefolgt von ihrem Bruder, Karl und Jürgen.

Keiner von ihnen half Jack auf.

Die vier unterhielten sich auf Deutsch, während sie die Lampen durch den Raum schwenkten. Ihrer Aufregung nach schätzte Jack diesen als recht groß ein, denn sie hörten sich an wie bei einem Sommerschlussverkauf. Er hatte viel über die geheimen Nazibunker gelesen, die man an den Küsten der ehemaligen deutschen Besatzungszonen fand.

Mithilfe von Militäringenieuren und niederländischen Zwangsarbeitern hatte Hitler diese errichten lassen, um der Invasion der Alliierten standzuhalten. Die Küstenbatterien am Atlantikwall der Nordsee bezeichnete man damals als »Perlenschnur«, weil sie in einem Abstand von gut 20 Kilometern errichtet worden waren. Der gesamte Wall erstreckte sich über gut 2685 Kilometer, von Norwegen über die Niederlande bis hin nach Frankreich.

Jack drehte sich um und sah, wie Emma Günther umarmte. Die beiden freuten sich über irgendetwas, das Jack nicht sehen konnte. Das frustrierte ihn.

»Hey … wie wär’s mit etwas Hilfe?«

Statt einer Antwort nickte sie nur in seine Richtung. Karl und Jürgen folgten der stummen Anweisung und hoben ihn unvorsichtig hoch. Dann ließen sie ihn stehen, ohne zu überprüfen, ob er das überhaupt eigenständig konnte. Glücklicherweise fühlte es sich nicht so an, als wäre irgendetwas gebrochen, obwohl sein Körper an unzähligen Stellen schmerzte.

Sein Kopf tat am schlimmsten weh, und Jack spürte das warme Rinnsal, das ihm über die rechte Schläfe lief. Aber niemand aus Emmas Gruppe interessierte sich für seinen Zustand. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Bereich hinter Jack. Also drehte er sich um – und der Anblick raubte ihm den Atem.

Ganz wie in der Originalversion von Smokey and the Bandit gab er seine beste Sheriff-Buford-T.-Justice-Imitation zum Besten und rief: »Well, sumbitch!«

Jackie Gleason wäre stolz auf ihn gewesen.

Im Licht der vier strahlend hellen LED-Leuchten sah er ein unterirdisches Refugium ganz im Stil des Dritten Reichs. Die Architektur war unglaublich, ein Atomschutzbunker wie er im Buche stand. Kommunikationsgeräte nahmen den Großteil des Arbeitsbereiches vor ihm ein. Alles in allem war dieser Raum vielleicht drei Quadratmeter groß, aber dort waren noch mehr.

Die Anlage erinnerte ihn an das Videospiel Fallout 4.

Links und rechts von Jack befanden sich weitere Wohn- und Arbeitsbereiche. Die anderen Räume der Vault, wie sie im Spiel genannt wurde, erstreckten sich so weit wie der Lichtstrahl. Vermutlich lagen davon unter Auschwitz noch Dutzende versteckt. Jack wusste von den Fluchttunneln unter dem Konzentrationslager, aber seines Wissens reichte keiner davon auch nur ansatzweise an die Größe dieses Bunkers heran. Hitler musste dies als längerfristige Versteckmöglichkeit für seine hochrangigsten Untergebenen geplant haben.

»Hierher«, rief Jack und humpelte auf eine Tür links zu.

Nur Karl kam herüber.

Na, ganz toll.

Karl sorgte jedoch für das Licht, das Jack so dringend brauchte. Der Raum beinhaltete eine komplette Küche mit Wohnzimmer, die über Elektrizität und sogar einen Rauchabzug verfügte. Das noch eingeschweißte Essen und die Ausrüstungsgegenstände, die in einer Ecke des Zimmers gestapelt waren, bestätigten Jacks Verdacht, dass die Nazis hier eine ganze Weile untertauchen wollten, vielleicht sogar bis nach Kriegsende.

»Sieh dir das an«, sagte Emma, die nun auf der Türschwelle rechts vom Eingang stand.

Da er den Raum schon gründlich untersucht hatte, ging Jack zu ihr. Die anderen folgten ihm.

Waffen und Munition lagen überall hinter der Tür verstreut. Dutzende von Kisten standen hochgestapelt an den Wänden und nahmen einen Großteil des Raumes ein. Es schien, als hätten sie ihre Rückkehr mit Pauken und Trompeten geplant. Und mit deutlich mehr Toten.