Kapitel 6

 

Mit leuchtenden Augen betraten Emma und Günther das Waffenlager zuerst. Jack kannte diesen Blick, denn genau so hatte er selbst als Kind auf den riesigen Geschenkeberg am Weihnachtsmorgen reagiert. Die Vorfreude der Geschwister war irgendwie verständlich, und selbst Jack war von ihrem Fund beeindruckt: Eine längst vergessene unterirdische Nazi-Festung, nach der sich jeder Historiker die Finger lecken würde, und die außerdem perfekt erhalten, ja fast neuwertig war.

Er erinnerte sich an den Luftzug, den er bei seinem Treppensturz gespürt hatte. Bis dahin musste der Bunker luftdicht verschlossen gewesen sein. Der Sauerstoffmangel hatte alles innerhalb der unterirdischen Zuflucht konserviert.

Der Waffenschrank war von großen Metallkisten umgeben, zwischen denen schmale Gänge hindurchführten und die ein regelrechtes Labyrinth ergaben. Jack entschloss sich zu einer kleinen Erkundungstour, während er noch die Nachwirkungen des Sturzes abschüttelte, und beschritt einen davon. Unter Karls wachsamem Blick spazierte er durch den Gang zu seiner Linken. Weit würde er allerdings nicht kommen, denn er war nach wie vor gefesselt und hatte keine Chance, sich im finsteren Bunker zurechtzufinden.

Jack lächelte. Er hatte sich den richtigen Gang ausgesucht. Auf einem Ecktisch lag eine Sammlung historischer deutscher Grabendolche. Die waren einiges wert, aber davon abgesehen boten sie Jack eine exzellente Verteidigungsmöglichkeit.

Er vermied hastige Bewegungen und drehte den Messern den Rücken zu. Karl beobachtete ihn misstrauisch, konnte aber nicht erkennen, womit er hinter seinem Rücken hantierte. In einer fließenden Bewegung legte Jack die Finger um das erste Messer in Griffweite und entfernte sich damit vom Tisch, während er es in seinen rechten Jackenärmel schob. Dabei tat er so, als untersuche er etwas anderes. Etwas später würde er versuchten, seine Fesseln durchzuschneiden. Immerhin war er nun im Besitz einer effektiveren Waffe als sein Schädel.

Im Schein der anderen Taschenlampen fiel Jack eine Öffnung zu seiner Linken auf. Als er sich darauf zubewegte, sah er etwas, das ihm ganz und gar nicht gefiel. Dort auf dem Boden des nächsten Raumes erschien ein Stiefel im Lichtkegel, der an einem Bein hing.

»Hierher!«, rief Jack und winkte Emma mit einer Kopfbewegung herbei.

Sie folgte der Aufforderung und leuchtete in seine Richtung. Drei Schritte weiter verharrte der Lichtstrahl direkt vor Jack auf dem Boden. Emma flüsterte ihrem Team irgendetwas zu, worauf sich alle um ihre Entdeckung versammelten. Wie nicht anders zu erwarten, handelte es sich dabei um die mumifizierten Überreste eines deutschen Soldaten. Die Uniform des Mannes verriet, dass er schon seit dem Zweiten Weltkrieg hier unten liegen musste.

Aber wie lange hat er gelebt?

War es möglich, dass eine Gruppe Nationalsozialisten die ersten Nachkriegsjahre unter Auschwitz ausgesessen hatte? Und falls ja, wie lange genau? Der erste Raum, der wohl vorwiegend der Kommunikation gedient hatte, war wenig aufschlussreich, aber falls sie wirklich Monate, vielleicht sogar Jahre hier unten zugebracht hatten, sollte das deutlich mehr Spuren hinterlassen haben. Stattdessen war nichts, nicht einmal das Essen, ausgepackt worden.

Nein, diese Theorie war unwahrscheinlich. Der Mann war kein Bestandteil des ursprünglichen Planes.

Emma leuchtete erst sein Namensschild, dann sein Gesicht an. Das Loch in seiner Stirn verriet sofort, was passiert war.

»Er wurde hingerichtet«, stellte Jack fest. »Aber warum?«

»Die Russen müssen von diesem Ort gewusst haben«, warf Günther ein.

»Nein«, erwiderte Jack, »das ergibt keinen Sinn. Die hätten den Bunker sofort leergeräumt.« Er blickte nach unten. »Die Waffen wären dann wohl, genau wie unser Freund da, nicht mehr hier.«

Er schielte zu Emma, die tief einatmete und seufzte. Wie auch Jack hatte sie das Rätsel gelöst. »Er wurde verraten.«

»Aber von wem?«, fragte Günther, der sich nun neben seinen politischen Vorgänger kniete.

»Also, ich würde sagen … wahrscheinlich von jemandem, der diesen Ort geheim halten wollte«, antwortete Jack.

Vorsichtig trat Emma über die Schwelle. »Der Mörder muss genau gewusst haben, was hier unten versteckt ist, und hat jeden zum Schweigen gebracht, der ebenfalls davon wusste.«

Ächzend stand Günther auf. »Was bedeutet, dass wir hier noch mehr Leichen finden werden.«

Jack war sich dessen nicht so sicher, aber er würde nicht widersprechen, bis ihre Theorie widerlegt wäre. Vielleicht war hier unten tatsächlich ein Schatz versteckt. Oder zumindest in der Nähe. Aber Jack bezweifelte, dass das unterirdische System unter Auschwitz auch nur ansatzweise groß genug war, um einen ganzen Bahnhof zu beherbergen.

Dennoch stand er hier immerhin in einem streng geheimen Nazibunker.

»Wie tief, glaubt ihr, ist das hier?«, fragte Jack.

Emma zuckte mit den Schultern. »Ich würde schätzen, wir befinden uns gut 20 Meter unterhalb des Kellergeschosses.«

Könnte hinkommen .

Der Sturz auf der harten Metalltreppe hatte sich wie sechs ganze Stockwerke angefühlt.

»Wie kommt’s, dass niemand bisher diesen Ort entdeckt hat?«

»Weil das Konzentrationslager darüber die perfekte Ablenkung ist. Niemand würde so etwas vermuten. Außerdem bietet Oświęcim nicht viel, außer ein wenig historisches Sightseeing.«

»Die Stadt ist klein«, fügte Günther hinzu. »Hat weniger als 40.000 Einwohner. Und sie ist alt, aber davon abgesehen gibt es hier nicht viel zu sehen.«

Stimmt, dachte Jack, der perfekte Ort, um so etwas zu verstecken.

Nur Geschichtsnerds, die sich intensiv mit dem Zweiten Weltkrieg befassten, kamen hierher. Diejenigen, die hinter dem Goldzug her waren, suchten im gut 260 Kilometer entfernten Eulengebirge danach. Außerdem war der Museumsdirektor ein Nazi, und dann waren da noch die Schmidts mit ihrem Hintergrundwissen. Hier kam alles zusammen.

Nachdem sie den Raum gründlich untersucht hatten, folgte Jack Emma in den nächsten. Er war doppelt so groß wie die Waffenkammer und beinhaltete drei Reihen stählerner Stockbetten. Jacks Zählung nach hatten hier 72 Menschen Platz.

Als er das erste Etagenbett unter die Lupe nahm, bemerkte er die Truhen an beiden Enden einer jeden Schlafstatt – eine für jeden Bewohner. Jack öffnete die erste davon mit der Stiefelspitze. Der Inhalt war alles, was man für den Einzug brauchte, aber die betreffende Person war scheinbar nie dazu gekommen. Jack blickte über seine Schulter zu der Leiche dahinter.

72 Männer.

Er dachte wieder über das nach, was Günther gesagt hatte.

»Ich glaube, du könntest recht haben«, sagte Jack dann zu Emmas Bruder. Die Geschwister traten an ihn heran, verblüfft von seinem Fund. »Ich glaube, wir finden hier noch mehr Leichen.«

»Was?«, erwiderte Emma und nahm ein gerahmtes Bild aus der Truhe. Darauf war eine Familie zu sehen, die vor dem Hintergrund eines Parks in die Kamera lächelte. Ein Mann in deutscher Uniform, daneben seine Frau und drei Kinder.

Günther öffnete die nächste Truhe. Genauso wie die vorherige war sie voll mit Kleidung, persönlichen Gegenständen und sogar Briefen. Zitternd nahm Emma einen davon heraus, öffnete ihn und las.

Sobald sie damit fertig war, glitzerten Tränen in ihrem sonst so gleichgültigen Gesicht.

»Dieser Mann«, erklärte sie und hielt kurz inne, um sich wieder zu fangen, »hat seine Familie verlassen, um dem Führer zu dienen.« Sie sah ihren Bruder an. »Er hat seine Frau und seine Kinder zurückgelassen, um hier zu sein.« Peinlich berührt von dem emotionalen Ausbruch wischte sie sich die Tränen aus den Augen. »Am Ende schreibt er, dass er sie liebt und sich darauf freut, sie wiederzusehen.« Dabei sah sie Jack in die Augen. »In zwei Jahren.«

Dann verfielen sie wieder in Schweigen.

Die schwüle Stille im Bunker verursachte Jack eine Gänsehaut. Die einzigen Geräusche in der isolierten Umgebung waren das Atmen und die Schritte der Gruppe. Leise verließen sie den Schlafsaal und betraten das Zimmer zu ihrer Linken. Ein Trainingsraum. Außer sechs Hantelbänken gab es aber nichts Interessantes, also führten Jack und Emma die Gruppe in den nächsten Raum.

»Ein Kino?«, bemerkte Jack, als er den veralteten Projektor im hinteren Teil des Raumes erspähte.

Vor einer kahlen Wand standen zehn aufgereihte Klappstühle. Für Unterhaltung hatten sie während des langen Aufenthalts scheinbar bestens gesorgt.

»Warum Filme?«, fragte Günther.

»Um für gute Stimmung zu sorgen«, erklärte Jack. »Stell dir mal vor, wie solche Leute durchdrehen würden, wenn es keine Entspannungsmöglichkeiten gäbe.«

Karl trat nach vorn. »Was meinst du mit ›solche Leute‹?«

Jack zuckte mit den Schultern. »Na ja, Nazis, verstehst du? Abschaum eben …«

»Gehen wir«, sagte Emma, die Karl und Jack keinerlei Beachtung schenkte. Jack eilte hinter den Schmidts her, bevor Karl zu einem physischen Gegenschlag ausholen konnte.

Außer einer Luke an der Rückwand, die an ein U-Boot erinnerte, gab es nicht viel zu sehen. Mit seinen Fesseln war Jack den anderen beim Öffnen keine Hilfe, aber mit vereinten Kräften gelang es Karl und Jürgen, das Rad an der Tür zu bewegen. Nach ein paar Umdrehungen öffnete sich das Schloss und die beiden korpulenten Männer zogen die Luke auf. Es gab kein Geräusch, nicht einmal einen Windzug wie den vorhin. Der Raum dahinter verfügte also über eine Sauerstoffzufuhr.

Während die Luke nach innen aufschwang, bemerkte Jack, wie Emma an irgendetwas an der rechten Wand herumfingerte. Günther ging zu ihr, um zu helfen, und die beiden versperrten Jack die Sicht auf ihre Entdeckung. Geduldig wartete er, bis sie weggingen und die Sicht freigaben. Als das geschah, war Jack aufrichtig beeindruckt vom Erfindergeist, der sich ihm offenbarte.

An der Wand war ein elektrischer Hebel angebracht, der in Jack sofort die lebhafte Vorstellung eines verrückten Wissenschaftlers weckte, der den Schalter betätigte, um eine seiner grauenvollen Erfindungen zum Leben zu erwecken. Genau das tat Günther gerade. Er betätigte den Hebel, woraufhin nach einem Knall und ein paar Knirschgeräuschen im nächsten Raum die Lichter angingen. Wie durch ein Wunder funktionierte der Strom in diesem Komplex noch.

Jack ging als Letzter durch die Luke. Seine Augen brauchten eine Weile, um sich an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen – als er aber wieder sehen konnte, wagte er es nicht, zu blinzeln: Was sich dort verbarg, war schier unglaublich. Die Höhle war gigantisch.

»Heilige Scheiße«, murmelte Jack. »Es existiert tatsächlich!«