Kapitel 10

 

Unter größter Anstrengung gelang es Jack, wieder auf den schmalen Vorsprung in der Gebetshalle zu klettern. Im Anschluss entzündete er ein neues Lagerfeuer, um Haut und Klamotten zu trocknen. Sobald ihm das einigermaßen gelungen war, probierte er den nächsten Tunnel aus. Dabei tastete er sich extrem behutsam vor, denn jeder Schritt konnte sein letzter sein.

Die zweite Tür, die dem Eingang direkt gegenüberlag, führte ihn noch weiter hinab, wenn das überhaupt möglich war. Er hatte keine Ahnung, wie tief er sich unter der Erdoberfläche befand. Seiner bisherigen Erfahrung nach verliefen die Hauptwege geradlinig und direkt auf das Ziel zu, was für die Fähigkeiten der Architekten sprach.

Nach einem zehnminütigen Fußmarsch ließ der Abhang langsam nach, der Boden wurde eben. Ab da hörte Jack ein leises, durchgängiges Geräusch. Je näher er kam, desto schneller schwoll es zu einem tosenden Rauschen an. Und dann betrat Jack einen weiteren unterirdischen Hohlraum. Diesmal war es eine gigantische, senkrechte Röhre, die ihn an ein Silo erinnerte und deren Wände irgendwo in der Dunkelheit verschwanden. Es gab weder Decke noch Boden, nur das Wasser, das darin aus allen möglichen Richtungen zusammenfloss wie in einem natürlichen Abwassersystem. Bei genauerer Betrachtung konnte er sechs Öffnungen in der Wand ausmachen, aus denen jeweils ein Wasserfall sprudelte.

Als er die schmale Treppe erspähte, die an der Wand der kreisrunden Kammer entlang verlief, ließ er die Schultern hängen, hatte aber einen Funken Hoffnung. Die Stufen fingen auf seiner Ebene an, was bedeutete, dass er sich am unteren Absatz der Treppe befand. Das wiederum bedeutete, dass es irgendwo über ihm einen Ausgang geben musste.

Seinen Berechnungen nach müsste er sechs Wasserfälle passieren. Die Steinstufen sahen extrem glatt und gefährlich aus.

»Tja«, seufzte Jack und spürte dabei bereits die ersten Tropfen im Gesicht, »so viel also dazu, nicht mehr nass zu werden.«

Glücklicherweise war die Treppe gut 60 Zentimeter breit, was Jack den Aufstieg erleichterte. Dennoch nahm er sich Zeit. Er bezweifelte, dass er diesen Sturz so leicht wie vorhin überleben würde, und diesmal gab es kein rettendes Ufer. Keinen atemberaubenden Ordenstempel. Falls Jack diesmal ausrutschte und stürzte, dann wäre er tot.

Der erste Wasserfall, den er passieren musste, fing fünf Meter über seinem Kopf an. Er floss an den Stufen vorbei, aber ein paar Tropfen landeten auf dem Stein. Jack zog den Jackenkragen höher, um den kalten Sprühnebel von der Haut fernzuhalten, und drückte sich mit dem Rücken eng zur Wand an der Flut vorbei. Die schiere Wassermenge, die sich in das gigantische Rohr ergoss, war nahezu absurd, unmöglich zu berechnen. Er umrundete den röhrenförmigen Abgrund zweimal, wobei er sich an fünf weiteren Wasserfällen vorbeikämpfen musste, bis die Treppe schließlich zu einer neuen Öffnung führte. Jack drehte sich um und leuchtete mit der Taschenlampe zu dem Eingang, durch den er gekommen war.

Der Tunnel dahinter setzte sich in dieselbe Richtung fort.

Folglich war die Planung der Templer nach wie vor sinnvoll. Die Passagen führten zu einem ganz bestimmten Ort, die Richtungen stimmten nicht zufällig miteinander überein. Sie waren absichtlich so angelegt worden.

»Wo führst du mich wohl hin?«, rief er in den Durchgang.

Dieser Tunnel unterschied sich allerdings irgendwie von den anderen, und Jack drehte den Lichtstrahl seiner Maglite breiter, um ihn genauer zu untersuchen. Er schnappte nach Luft. Diese Passage war ganz und gar nicht mit den anderen zu vergleichen. Sie war stark ornamental verziert, ähnlich wie die Hauptkammer der Gebetsstätte. Wundervoll gearbeitete Steinreliefs zeigten die Geschichte der Tempelritter. Auf ihnen waren sowohl gute Taten wie auch Kriege festgehalten.

Jack fing an zu joggen, blieb aber schon ein paar Minuten später schlitternd vor dem Tunnelausgang stehen. Als er sich vorwärts tastete, umfing ihn die Dunkelheit. Außerhalb des Tunnels gab es nichts außer gähnender Schwärze, gegen die seine Taschenlampe rein gar nichts ausrichten konnte. Als er den Lichtstrahl wieder fokussierte, flackerte er kurz auf und erlosch.

»Scheiße«, murmelte Jack und schüttelte die Lampe.

Aber sie ging nicht wieder an. Die kleine Maglite hatte sich zwar in ein nutzloses Stück Metall verwandelt, trotzdem würde er sie nicht wegwerfen. Jack steckte sie in eine Jackentasche, streckte die Hände aus und machte einen Schritt nach links, wo er schließlich wieder die Wand ertastete. Und dann glitten seine Fingerspitzen über irgendetwas Schleimiges.

»Igitt«, sagte er und nahm beide Hände hoch.

Da er in der Finsternis völlig blind war, versuchte er, mithilfe seiner anderen Sinne herauszufinden, was es war. Er roch daran und musste husten. Es roch grauenvoll und war zähflüssig und glatt. Jack konnte sich die Konsistenz nur mit Öl erklären.

»Warum sollte man hier unten Öl brauchen?«

Aber dann hatte er eine Eingebung und war froh, den Stein und das Messer bei sich zu haben. Er wischte sich die Hand an der Hose ab und tastete wieder nach der schmierigen Wand. Nach ein paar Versuchen sah er, wie ein einzelner Funken darauf landete, der sich schlagartig in einen Feuerball verwandelte. Die Flamme explodierte aufwärts und entfernte sich dann von Jack in einer Art Rille, die in die Höhlenwand gemeißelt war. Die Furche mit dem zähflüssigen Schleim war eine Lichtquelle.

Jack wartete geduldig ab, was ihn in der Dunkelheit erwartete. Er war vom Einfallsreichtum der Templer beeindruckt, genauso wie von der Tatsache, dass das System nach all den Jahren noch immer einwandfrei funktionierte. Schließlich endete die Feuerspur rechts neben dem Durchgang.

Die natürliche, wenn auch künstlich erweiterte Höhle, die sich ihm offenbarte, war so groß wie eine Konzerthalle und bis zum Anschlag mit glänzenden Kostbarkeiten gefüllt. Schmale Trampelpfade führten durch die Haufen von Gold, Juwelen und selbst Marmorstatuen, die nach Größe und Stil sortiert waren.

Das Transportmittel des Schatzes stand auf den eingelassenen Gleisen inmitten der gigantischen, trichterförmigen Halle. Die Schienenebene darunter sorgte dafür, dass die sechs Waggons des legendären Nazi-Goldzugs vom Erdgeschoss aus zugänglich waren, ganz wie bei einem modernen Güterbahnhof. Direkt hinter dem Dienstwagen lag der Eingang zu dem Tunnel, der zurück nach Auschwitz führte. Der zweite Tunnel links von Jack führte vermutlich nach Norden.

»Unglaublich!«

Dieser Schatz war deutlich mehr wert als 30 Millionen. Jack wusste nicht genau, wie viel, aber seiner Einschätzung nach sicher das Zehnfache seiner ursprünglichen Annahme. Hier war sowohl die Beute der Nazis als auch die der Templer versammelt.

Hitlers Handlanger hatten die ›Schatzkammer‹ offensichtlich entdeckt und beschlossen, ihre Reichtümer ebenfalls dort einzulagern. Allerdings war die NSDAP zerschlagen worden, bevor sie den Schatz woanders hinbringen konnte, den Spekulationen einiger Akademiker zufolge möglicherweise sogar ins Eulengebirge.

»Wie lange das wohl her ist?«, fragte sich Jack, während er den Schatz fasziniert anstarrte.

Hatten die Nazis den Schatz schon vor dem Aufbau des Konzentrationslagers entdeckt? Vielleicht sogar während der Erschließung des Geländes für den Bunker? Aber egal wann, Jack war sicher, hätte Hitler Zugang zu diesen Reichtümern gehabt, wäre der Krieg anders ausgegangen. Dann wären den Nazis nicht Geld und Vorräte ausgegangen. Vielleicht hätten sie sogar ganz Europa besetzt, Frankreich und Großbritannien eingeschlossen, die mit den Vereinigten Staaten zusammengearbeitet hatten.

Wer weiß, was dann passiert wäre?

Vielleicht hätten sie Japan mit Vorräten versorgt, um die Sowjetunion in die Knie zu zwingen. Die italienischen Streitkräfte, die von Benito Mussolini angeführt worden waren, wären dadurch wohl ebenfalls gestärkt worden. Die Vereinigten Staaten hätten einer Supermacht gegenüber gestanden, die sich vom Atlantischen Ozean über Europa und Asien bis hin zum Pazifik erstreckt hätte.

»Hitler muss gierig geworden sein«, schlussfolgerte Jack.

Hätte der Führer das Geld ausgegeben, statt es anzuhäufen, hätte er seine Chancen, den Krieg zu gewinnen, dramatisch erhöht. Offensichtlich hatten sie in letzter Minute versucht, den Schatz umzulagern, waren dabei aber auf Schwierigkeiten gestoßen. Der Zug war von Auschwitz hierher gebracht und beladen worden, dann musste ihn irgendetwas an der Weiterfahrt gehindert haben.

Jack nahm an, dabei handelte es sich um den Tod Hitlers am 30. April 1945. Sobald er sich in Berlin eine Kugel in den Kopf gejagt hatte, war die NSDAP dem Chaos anheimgefallen, bevor sie sich am 7. Mai offiziell ergeben hatte. Seitdem war das Versteck des Goldzugs durch Zeit und vergossenes Blut in Vergessenheit geraten.

Zumindest nahm Jack das an.

Vielleicht gab es auch eine Sekte innerhalb der NSDAP, die sich gegen Hitler als Führer wandte. Vielleicht hatten sie das alles vor ihm geheim gehalten? Eine Verschwörung innerhalb einer Legende, die wiederum Teil einer viel älteren Legende war.

Himmlers Tagebuch hatte offenbart, dass der Reichsführer der Schutzstaffel im Geheimen gearbeitet hatte, vielleicht sogar hinter Hitlers Rücken. Die Tatsache, dass er seine Aufzeichnungen Emmas Vorfahren und nicht dem Führer geschickt hatte, bewiesen das. Vielleicht war das eine Situation glaubhafter Abstreitbarkeit. Während Hitler seine nationalsozialistischen Ziele an der Oberfläche verwirklichte, agierte die geheime Organisation im Untergrund.

Jack ging nach links und folgte ein paar abfallenden Wegen, die den Ozean von Reichtümern durchzogen. Weniger als zwei Meter hinter dem Zentrum waren die größeren Schatzstücke untergebracht. Dicht an dicht standen dort Statuen von griechischen Gottheiten aus Bronze und poliertem Marmor, die minutiös ausgearbeitet waren. Jack zählte sieben. Bis auf die Staubschicht, die sich über all die Jahre gebildet hatte, waren sie alle in perfektem Zustand.

Das bedeutendste Stück der Sammlung stand auf der anderen Seite der Höhle: Es war eine neun Meter hohe Marmorstatue von Julius Cäsar. Jack konnte sich nicht erklären, wie man eine Statue mit solchen Ausmaßen hier herunterbekommen hatte. Der einzige denkbare Weg war, sie in Einzelteilen zu transportieren und dann wieder zusammenzusetzen. So gingen moderne Museen vor, um übergroße Ausstellungsstücke von A nach B zu schaffen.

Auf seiner Rechten, hinter einer niedrigen Trennwand aus Holz, lagen Waffen aus sämtlichen Epochen. Wie auch die Statuen waren sie perfekt erhalten. Er blieb neben einem persischen Krummsäbel mit ornamental verziertem Griffstück stehen. Behutsam hob Jack ihn auf, um ihn aus der Scheide zu ziehen. Die Klinge war makellos und leuchtete förmlich im orange-gelben Flammenschein der Kammer.

Er pfiff anerkennend.

Ihn wieder zurückzulegen war das einzig Richtige, und Jack wollte genau das tun, als er die aufgeregten Rufe aus dem Tunnel zu seiner Rechten hörte. Das eigentlich Schlimme war jedoch, dass die Stimmen Deutsch sprachen. Mit dem Schwert in der Hand duckte sich Jack gerade rechtzeitig, bevor Emma die Schatzkammer betrat. Günther, Karl und Jürgen waren ihr direkt auf den Fersen. Jack hatte gehofft, wenigstens einer der Mistkerle wäre inzwischen gestorben, aber nun standen seine Chancen wieder vier zu eins.

Mit Himmlers Tagebuch in der Hand vollführte Emma einen Luftsprung und fiel ihrem Bruder in dessen ausgestreckte Arme. Während sich die Schmidts freudig umarmten, wich Jack zurück, den Schwertgriff fest umklammert. Er war keine hilflose Geisel mehr.

Ironischerweise war Jack für den Angriff mit nichts weiter als einem einzigen bedeutenden historischen Artefakt ausgestattet, wenn man von seinem Grabendolch als Notfallwaffe einmal absah. Sein Blick fiel auf den Mann, der das Ende der Gruppe markierte. Als er Jürgens HK416 sah, musste er grinsen.

Sobald Jack ein solches Kaliber in die Finger bekäme – und eigentlich reichte dafür die deutsche Pistole schon aus – würden sich seine Überlebenschancen drastisch erhöhen. Nur wenige konnten mit Gewehr und Pistole besser umgehen als Jack, und er bezweifelte aufrichtig, dass Emmas Söldnertruppe ihn in dieser Hinsicht schlagen könnte, selbst an seinem schlechtesten Tag. Er hatte eine ruhige Hand und Adleraugen.

Mit frischem Kampfgeist arbeitete Jack seinen Angriffsplan aus.

Los geht’s.

 

Emma traute ihren Augen kaum. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich nie so glücklich gefühlt. Mit ihrem Bruder an der Seite hatte sie soeben ihren Zug gefunden. Sie ließ ihren Blick über den Raum schweifen und stellte fest, dass der Schatz aus mehr als nur Hitlers eingelagerten Reichtümern bestand.

Das ist zu viel, dachte sie, während sie entschlossen auf den Zug zustrebte.

Nichts in Himmlers Tagebuch hatte auf eine solche Sammlung schließen lassen.

Und wer hat die Feuer angemacht?

Emma blieb abrupt stehen. Günther stand direkt neben ihr, das Gewehr fest im Anschlag der rechten Schulter.

Sie beugte sich zu ihrem Bruder hinüber und flüsterte ihm zu: »Wir sind hier nicht allein.«

Günthers Augen verengten sich zu Schlitzen, dann machte er sich auf die Suche nach ihrem entlaufenen Gefangenen, Jack Reilly.

Emma war für den Schatz, nicht für die Menschen verantwortlich. Menschen – oder treffender, wie man sie tötet – waren Günthers, Karls und Jürgens Expertise. Sie waren die Soldaten, nicht Emma.

Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit, immer noch perplex, wieder ihrer Begierde zu. Die vollen Waggons hatte sie erwartet, nicht aber den Rest. Außerdem gab es hier Dinge, die Hitler niemals dokumentiert hatte. Das meiste stammte von den wohlhabenden Familien aus den Regionen, in die seine Soldaten einfielen. Die Artefakte hier waren allerdings Jahrhunderte älter.

Emma lief auf die vordere Kabine zu, blieb aber vorher stehen. Dort lag ein Schild, das sie nicht hier erwartet hatte. Die Form ähnelte einem länglichen Dreieck mit nach außen gewölbten Seiten, dessen längste Spitze nach unten zeigte. Darauf prangte ein rotes Kreuz.

»Die Templer …«, flüsterte sie ehrfürchtig. »Unmöglich.«

Emma joggte auf den Zugmotor zu und kletterte zügig die Metallleiter empor. Sobald sie es an Bord geschafft hatte, sah sie, dass der einzige Insasse mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Der Mann war vor langer Zeit gestorben, aber seine Uniform war noch immer top in Schuss. Sein einfarbiger Overall verriet ihr, dass er der Schaffner gewesen sein musste.

Neben ihm lagen zwei Patronenhülsen.

Wie die Soldaten, die sie auf dem Weg hierher gefunden hatte, war scheinbar auch dieser Mann ermordet worden. Es sah aus, als hätte er wegzulaufen versucht, bevor er von hinten erschossen worden war.

Emma hatte genug gesehen und widmete sich wieder ihrer Entdeckung. Ein breites Grinsen schlich sich in ihr Gesicht. Sie hatte nicht nur den Goldzug, sondern auch den verlorenen Schatz der Tempelritter gefunden. Im Vergleich dazu wirkte Hitlers Beute wie ein kleines Taschengeld.