Kapitel 12

 

Jack war schockiert, wie sie die Sache angingen. Er hatte erwartet, sie würden wenigstens versuchen, den altertümlichen Zug in Bewegung zu setzen. Er wusste nicht, ob die fast 100 Jahre alte Maschine das Gewicht überhaupt ziehen konnte, und es sah nicht so aus, als würde Emma ihre Zeit mit einem Versuch verschwenden.

Sie schlagen hier ihr Lager auf.

Ein mutiger Schachzug, so viel stand fest. Es war nie Emmas Plan gewesen, hier einzufallen, eine Handvoll Gold abzugreifen und dann gleich wieder abzuhauen. Sie plante langfristig. Sie würden den Bunker direkt unter Auschwitz bewohnen, so wie es die Nazis vor all den Jahren geplant hatten. Das ermöglichte ihnen, in aller Ruhe nach einem Zugang zur Oberfläche zu suchen. Und sobald sie diesen fanden, würden sie ihren Plan vollenden und beide Schätze an den Höchstbietenden verkaufen.

Das hieß außerdem, dass Jack den Ort in nächster Zeit nicht verlassen könnte.

»Ganz toll«, schnaubte er und lehnte sich gegen die Waggonwand.

»Da muss ich meinen Friseurtermin wohl absagen.«

Je mehr Jack darüber nachdachte, desto mehr kam er zu dem Schluss, dass es schlichtweg genial war, den Schatz nicht sofort zu bewegen. Im Anbetracht der Tatsache, dass Auschwitz erst vor ein paar Stunden von einer bewaffneten Gruppierung in Beschlag genommen wurde, wäre das definitiv nicht ratsam gewesen, denn so zöge das Konzentrationslager zu viel Aufmerksamkeit auf sich. Dazu noch das Rätsel um die verschwundenen Söldner, und schon hätte man …

»Piotr«, sagte Jack und begriff, was als Nächstes geschehen würde.

Der alte Mann, der offensichtlich seinen Schlüssel zurückerhalten hatte, würde Emma so lange wie nötig Rückendeckung geben. Seit fast vier Jahrzehnten war er der angesehene Direktor des Museums. Niemand würde ihn als Spitzel verdächtigen. Niemand würde an seinen Worten zweifeln. Er musste lediglich die Bürowand unter dem Todesblock wieder verschließen und so weiterleben wie zuvor.

Emmas Käufer stehen vermutlich schon in den Startlöchern, dachte Jack.

Sobald sie mit einer Tasche voller Gold auftauchte, würden sie sofort anfangen, den Schatz stückweise zu verkaufen. Außerdem war das Gebirge der perfekte Ort für eine solche Operation. Da es fast 200 Kilometer entfernt lag, könnten sich Emmas Leute zwischen hier und dort frei bewegen, ohne dass jemand etwas davon mitbekam. Dann, wenn der Schatz zur Neige ging, könnten sie den Bunker schnellstmöglich und mit prall gefüllten Bankkonten verlassen. Jack wurde gerade Zeuge eines einzigartigen und äußerst dreisten Raubüberfalls. Sie stahlen und verkauften einen Schatz, von dessen Existenz niemand wusste.

Niemand außer Jack, dessen Chancen sich bald noch weiter verschlechtern würden. Wenn er jetzt zuschlüge, müsste er sich nur mit Emma, Günther und einem angeschlagenen Jürgen auseinandersetzen. Karl müsste er so oder so einholen – vorzugsweise bevor er seine Kameraden an der Oberfläche erreichte. Das war das einzige Zeitfenster, das Jack blieb, um an die Oberfläche zu gelangen. Er musste jemanden warnen. Wenn Emmas Team hierherkäme, ohne dass er Hilfe anfordern konnte, wäre die Sache so gut wie erledigt. Den einzigen Ausweg zu versperren war problematisch.

Sobald Jack also entschieden hatte, den Schatz zugunsten einer dringlicheren Angelegenheit zurückzulassen, legte er den Schalter um und setzte sich in Bewegung. Leise nahm er seinen Säbel und schlich sich aus dem Waggon zur leeren Hälfte des Bahnsteigs. Er konnte noch immer Emmas und Günthers Stimmen hören, dazu noch eine dritte Person. Müsste Jack raten, dann würde er sagen, Jürgen erzählte, was bei den Büchern vorgefallen war.

Jack kletterte auf die Gleise und blieb geduckt, bis er außer Sichtweite und in Tunnelnähe war. Er konzentrierte sich auf das Einzige, was ihm noch im Weg stand: Karl. Mit ausgeschalteter Taschenlampe schlich er in die Dunkelheit hinein. Die Schienen unter seinen Füßen wiesen ihm den Weg, aber er bewegte sich langsam, schließlich durfte er keinen Mucks machen – andernfalls musste Karl lediglich ins Dunkel hinter sich schießen. Höchstwahrscheinlich würde er Jack verfehlen, dabei aber garantiert Emma und die anderen alarmieren.

Keine Schüsse, entschied Jack.

Er steckte sich die gestohlene Glock in den Hosenbund und nahm den persischen Krummsäbel in beide Hände, womit er sich wie ein zeitreisender Krieger aus ferner Vergangenheit fühlte. Schwert gegen Kugel. Diesen Kampf würde er mit Sicherheit verlieren, sollte er bemerkt werden.

Kommt mit ’nem Messer zu ’ner Schießerei, meldete sich Jim Malone aus Die Unbestechlichen in seinem Kopf zu Wort.

Na, genaugenommen mit ’nem Schwert, korrigierte er sich und kniff die Augen zusammen.

Jack wäre fast von der Schiene gerutscht und verdrehte sich das Knie. Er war gedanklich zu weit in der Zukunft, beim bevorstehenden Konflikt, statt sich auf sein gegenwärtiges Dilemma zu konzentrieren. Er konnte rein gar nichts sehen. Abgesehen davon war er mehr als nur erschöpft, sein ganzer Körper schmerzte. Karl, der ihm vorhin eine ordentliche Abreibung verpasst hatte, war irgendwo vor ihm, und diesmal würde er mehr als nur Jacks Stirn ins Gesicht bekommen.

Er umklammerte den Säbelgriff fester und konzentrierte sich auf das Geräusch der Schritte und des bröckelnden Steins. Als plötzlich ein Lichtstrahl durch den Tunnel schwenkte, blieb Jack stehen und duckte sich. Ihm blieb nur, auf die Knie zu gehen und seinen Kopf so weit wie möglich einzuziehen. Hoffentlich war er mit seinem dunklen Haar und der schwarzen Jacke gut genug getarnt.

Jack wartete auf den Schuss, und als dieser ausblieb, blickte er auf und bemerkte, dass das Licht unregelmäßig, nicht zielgerichtet war. Es schwenkte einfach unkontrolliert hin und her. Außerdem befand es sich in einiger Entfernung über seinem Kopf. Im chaotisch flackernden Lichtschein zeichnete sich eine Silhouette ab, die auf einen Geröllhügel stieg.

»Karl«, flüsterte Jack und erhob sich.

Das war seine Chance.

Er eilte vorwärts, gerade als sein Ziel durch ein Loch in Deckennähe verschwand. Auf der anderen Seite würde Karl ihn weder hören noch sehen. Das würde Jack einen brauchbaren Vorteil verschaffen. Aber wenn er seinen Säbel wie geplant benutzen wollte, musste er bis auf Armlänge an Karl herankommen.

Die Passage, die durch die Blockade führte, bestätigte außerdem Jacks Vermutung. Emmas Team hatte den Trümmerhaufen tatsächlich kontrolliert gesprengt. Einer ihrer Männer war nicht nur ein Söldner, sondern offensichtlich auch ein Sprengstoffexperte.

Wahrscheinlich war er vorher beim Militär, dachte Jack.

Über die Jahre hinweg war er so einigen »Glücksrittern« begegnet. Die meisten waren arme Schweine gewesen. Manche kamen nicht mit dem zivilen Leben klar, andere hatten zu viele Lücken im Lebenslauf, um einen Job bei der Polizei zu ergattern. Also schlugen sie einen neuen Weg als private Sicherheitskräfte ein und arbeiteten unter der Hand, zum Beispiel im Nahen Osten.

Er hatte eine Zeit lang über die gleiche Karriere nachgedacht, sich aber letztendlich dazu entschieden, wieder nach Hause zu ziehen, sobald sich der Zustand seiner Großmutter verschlechtert hatte. Sie hatte kein Problem damit, allein zu leben, aber es kristallisierte sich zunehmend heraus, dass sie dazu bald nicht mehr in der Lage war – und auf keinen Fall wollte Jack sie in ein Seniorenheim stecken. Trotzdem gab es irgendwann keinen anderen Weg. Ihre aufwendige Pflege und Jacks neue Karriere machten es ihm unmöglich, diese Aufgabe allein zu stemmen.

Zügig, dennoch vorsichtig, schaltete Jack Jürgens Taschenlampe an und kletterte auf den Steinhaufen. Er stieg auf die größten Brocken, die am stabilsten aussahen, und übersprang die wackeligen Stellen. Anders als Jacks Schleichweg führte Karls lärmintensiver Pfad diesen in gerader Linie direkt von A nach B. Jack hingegen musste erst nach links, dann nach rechts und wieder nach links. Das war deutlich langsamer, dafür aber auch viel leiser.

Endlich hatte er es geschafft. Sobald er drüben war, legte er die Hand auf seine kleine Maglite und wartete. Karl war noch immer in Sichtweite, oder genauer gesagt seine Lichtquelle. Er war bis zu den Draisinen weitergegangen.

Nach weiteren 30 Sekunden Stille schaltete Jack die Lampe aus und lief auf der anderen Seite weiter. Beim Abstieg stellte er sich etwas ungeschickt an und behielt Karls Lichtstrahl dabei ständig im Auge. Dieser leuchtete aber nicht ihn an.

Jack kletterte vom niedrigsten Felsblock und trat dabei mit seiner Zehe ein Steinchen los. Es rollte klappernd hinunter, woraufhin Jack sich fast eingenässt hatte. Glücklicherweise zeigte Karls Lichtstrahl noch immer nach vorn und bewegte sich nicht.

»Verdammt«, flüsterte er, duckte sich und beobachtete ihn.

Trotz des Lärms schwenkte das Licht nicht herum. Er stand noch immer neben dem zweiten Wagen. Verwirrt und beunruhigt schlich Jack weiter. Dann hielt er vor der ersten Draisine inne und lauschte. Nichts. Der Tunnel war komplett still. Er lehnte sich nach rechts, und dann fiel ihm an der Lichtquelle etwas auf, das ihm gar nicht gefiel: Karl hielt sie gar nicht fest. Der Söldner hatte sie auf der zweiten Draisine abgestellt.

Jack sah sich um.

Ist er ausgetreten?

Hastig schaltete er seine eigene Lampe an und leuchtete den Tunnel ab. Karl war nirgends zu sehen. Das bedeutete, er hatte Jack kommen sehen, vielleicht hatte er ihm sogar eine Falle gestellt.

Jack untersuchte jeden Quadratzentimeter um die beiden Draisinen herum, ohne irgendetwas zu finden. Noch immer keine Spur von Karl. Er ließ die Hände frustriert sinken und drehte sich zur Wagenrückseite um.

»Wo steckt dieses Arschloch?«

Eine Gestalt rutschte unter dem Wagen hervor und sprang auf. Jack brauchte einen Moment, um eins und eins zusammenzuzählen. Karl hatte ihm zweifellos eine Falle gestellt: Er hatte sich unter der Draisine versteckt und gewartet, bis Jack seine Deckung vernachlässigte.

Zu spät hob Jack den Säbel, um sich zu verteidigen, woraufhin Karls Schulter mit voller Wucht gegen sein Brustbein krachte. Der Aufprall schlug Jack sowohl Waffe als auch Lampe aus der Hand, und beide fielen klappernd in die Dunkelheit. Die kleine Maglite knallte gegen die Felswand und landete mit dem Lichtstrahl nach oben, was den Raum, kombiniert mit Karls Lichtquelle, für die beiden Kontrahenten ausreichend erhellte.

Bevor Karl weiter auf ihn zukam, wich Jack vor ihm zurück und richtete sich dabei taumelnd auf. Beide Männer waren nach wie vor bewaffnet, und Jack war dankbar, dass Karl die bloßen Fäuste seiner Pistole vorzuziehen schien. Jack vermied jede Handlung, die dessen Meinung ändern konnte, und hob ebenfalls die Fäuste, statt nach seiner Waffe zu greifen.

Keine Pistolen, ermahnte sich Jack. Dennoch stand er vor der Herausforderung, Karl ohne die Hilfe von Kugeln unschädlich zu machen. Emma und die anderen waren schließlich immer noch alarmbereit in Reichweite.

Jack streckte den Hals knackend nach links und rechts, ohne Karl aus dem Blick zu lassen. Der große Kerl grinste.

»Was ist daran so lustig?«, fragte Jack.

»Hast ’n harten Tag gehabt, was?«, stichelte Karl.

Jack machte einen Schritt nach vorn und zeigte auf Karls Nase. »Wie gehts der Visage?«

Karls Miene verfinsterte sich und er stürzte auf seinen Gegner zu.

Auf halber Strecke fing Jack ihn ab und hielt ihn für einen Moment fest. Leider sorgte Jacks erschöpfter Zustand dafür, dass er sich von Karl zurückdrängen ließ. Er war kurz davor, zu Boden zu gehen, entschied aber, dass er Karl wenigstens mitreißen würde.

Sein Gegner richtete sich bereits wieder auf.

Nein!

Jack packte den Mann am Shirt und zog sich hoch. Dann drückte er Karls Gesicht an seine Brust und nahm dessen Kopf in den Schwitzkasten, während er seine Beine um dessen Hüfte wickelte und die Füße hinter seinem Rücken ineinander hakte, bis er wie beim Rodeo auf ihm ritt.

Die wütenden Schreie des Söldners verwandelten sich in ein schmerzerfülltes Stöhnen, als Jack ihm wiederholt die Ellenbogen in die freiliegenden Schläfen rammte. Die unkonventionelle Angriffstaktik funktionierte so lange, bis Karl Jack mit dem Rücken gegen die Felswand knallte. Der Aufprall war heftig, aber Jack ließ nicht los. Er traf Karl noch ein paar Mal mit dem Ellenbogen über dem linken Auge, bevor dieser ihn abwarf und wegschleuderte.

Der riesige Kerl taumelte davon und stolperte über die Schienen. Jack richtete sich mühsam auf, zog den Kopf ein und rammte Karls Bauch. Der Ochse, der sowieso schon aus dem Gleichgewicht war, wurde rückwärts gegen das hintere Ende der zweiten Draisine geschleudert. Die Wucht des Aufpralls stieß die Taschenlampe um.

Genau zur richtigen Zeit.

Als Jack zurückwich, um zu Atem zu kommen, zog Karl seine Pistole und drückte den Abzug. Jack wich der Kugel aus, die stattdessen die Lampe traf, woraufhin beide fast in komplette Dunkelheit gehüllt wurden, noch bevor Karl einen zweiten Schuss abgeben konnte. Nun war Jacks Maglite die einzige Lichtquelle, aber sie lag zu weit entfernt und war zu schwach, um eine große Hilfe zu sein.

Jack ging zwei Schritte weiter nach links und stürzte sich auf die Stelle, an der er Karl zuletzt gesehen hatte. Mit ausgestreckten Händen tastete er nach der Waffe, fand stattdessen jedoch nur das Gesicht seines Widersachers.

Auch gut.

Statt den Feind zu entwaffnen, versuchte Jack jetzt, ihm die Sehkraft zu nehmen. Er steckte Karl seine schmutzigen Finger in die Augenhöhlen und hörte zufrieden dessen schmerzerfülltes Geheul. Im Dämmerlicht sah Jack, wie Karl die Waffe in seine Richtung schwenkte. Mit seiner Linken noch immer in Karls Augenhöhlen schlug Jack die Pistole mit der rechten geballten Faust weg. Dann packte er Karl am Hinterkopf und zog ihn an den Haaren zu sich heran, wie einen Liebhaber.

Allerdings nicht zu einem Kuss, im Gegenteil.

Einmal mehr donnerte er Karl seine Stirn ins Gesicht. Der Schlag betäubte Karl, aber er war noch bei Bewusstsein. Jack, der sich selbst etwas schwindelig fühlte, schüttelte den Kopf und entfernte sich vom blutenden, jammernden Söldner.

Karl fiel auf Hände und Knie und tastete nach seiner verlorenen Pistole. Diesen Versuch unterband Jack, indem er ihm mit aller Kraft gegen den Kopf trat. Sein Stiefel erwischte Karl genau oberhalb des linken Ohrs, woraufhin dieser sofort in sich zusammensackte. Mit den Händen in die Hüften gestemmt stand Jack ein Stück über ihn gebeugt und atmete ein paar Mal tief ein. Er fühlte sich zehnmal schlimmer als noch vor ein paar Minuten.

Jack wischte sich das Blut von den Lippen und lachte.

»Tja, das gibt morgen wohl ordentlich Muskelkater.«