Kapitel 13

 

Manch einer würde es sicher als kindisch bezeichnen, seinen bewusstlosen Feind auszuziehen und mit Kabelbindern zu fesseln. Wenn man es so sehen wollte, dann war Jack Reilly wohl nichts weiter als ein zu groß geratenes Kind. Ursprünglich hatte er Karl nur nach Brauchbarem durchsuchen wollen, aber dann war ihm der brillante Einfall gekommen, ihn bloßzustellen.

»Ich werd dich nicht umbringen«, sagte Jack, während er ihn fesselte, »aber ein bisschen Demütigung tut dir sicher gut.« Er lachte. »Das ist mal ein anderes Fahndungsfoto.«

Jack hätte das Leben des Mannes genauso einfach beenden können, aber das war nicht sein Stil. Er war kein kaltblütiger Killer. Sicher, er hatte in der Vergangenheit eine Menge Leute ausgelöscht. Aber damals hatte er im Auftrag seines Landes, nicht aus freiem Willen, gehandelt. Abgesehen davon waren sämtliche seiner Ziele abscheuliche Individuen, die man kaum noch als menschlich bezeichnen konnte.

»Ein bisschen wie du«, fügte er seinen Gedanken laut hinzu und schnippte Karl gegen die Stirn.

Zuerst nahm Jack ihm die Pistole und die Munition ab – und zwar alles davon. Danach war die Kevlarweste dran. Neben essenziellen Vorräten wie Nahrung und Wasser beinhaltete Karls Rucksack außerdem auch zwei Stangen Plastiksprengstoff und einen Zeitzünder, genauso wie eine taktische Maske.

Sieht aus, als hätte ich Emmas Sprengstoffexperten gefunden, dachte Jack und blickte zum Loch im Geröllhaufen zurück.

Da sie unter der Erde waren, ergab die Zeitzündung Sinn. Normalerweise benutzte man sonst Funkzünder, aber mit den dicken Steinwänden, die jedes Signal blockierten, war eine Zeitschaltuhr deutlich zuverlässiger.

Und was Karl anbetraf …

Jack rollte ihn auf den Bauch und fesselte seine Handgelenke ans hintere linke Rad der Draisine, die Beine ans rechte. Niemand, der nicht nach ihm suchte, würde ihn finden, außer er wachte auf und schrie um Hilfe. Dem beugte Jack vor, indem er ihm eine Socke in den Mund stopfte.

Bis an die Zähne mit einem etwas groß geratenen Messer, einem HK416-Sturmgewehr und einer zweiten Glock 19 bewaffnet, war Jack für alles gerüstet. Karl wurde sowieso nicht sofort zurückerwartet, schließlich hatte ihm Günther befohlen, an der Oberfläche mit Piotr zu sprechen und den Rest des Teams nach unten zu bringen.

Jack hatte eine Vorahnung, dass er gegen seine Prinzipien verstoßen und sich die Hände schmutzig – wirklich schmutzig – machen müsste. Höchstwahrscheinlich würde er jemanden töten müssen. Vielleicht sogar mehr als nur einen.

Bevor sie sich unter die Erde begeben hatten, hatte Emma ihm die sechs Schützen gezeigt, die auf dem Dach der Häftlingsküche positioniert waren. Ihr Job war einzig und allein, die Geiseln im Blick zu behalten – und sie sofort zu erschießen, sollte jemand einen Fluchtversuch wagen oder sich Jack als widerspenstig erweisen. Falls sie noch da waren, war Jacks Plan umsetzbar. Keiner der Schützen auf dem Dach würde einen Angriff von hinten erwarten.

Karls Kampfmesser trug Jack in einer Scheide an der Brust, um es in Griffweite zu haben, zusammen mit einer taktischen Winkeltaschenlampe. Karls Pistole hatte er nun in seinem neuen Oberschenkelholster verstaut; das Gewehr war um seinen Rücken geschlungen und die Munition mehr als ausreichend. Jürgens Kurzwaffe hatte er sich als Notfalloption in den hinteren Hosenbund gesteckt. Das letzte Mal, als Jack so ausgerüstet war – für den Kampf – war der Vorfall in Mossul gewesen.

Er hatte wirklich geglaubt, dem Krieg für immer den Rücken gekehrt zu haben.

»Tja«, sagte Jack und zog Karls Glock, um sie zu inspizieren, »so viel dazu.«

Jack schaltete die Taschenlampe an, die an seiner Brust befestigt war. Dann drehte er sich um und marschierte nach Auschwitz zurück; den Säbel ließ er zurück. Es war an der Zeit, diese archaischen Waffen gegen modernere einzutauschen.

Das Beste an seinem Plan war die Tatsache, dass Emmas Team an der Oberfläche gar nicht wüsste, wie ihnen geschieht. Er hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Keiner ihrer Leute konnte wissen, dass er erfolgreich entkommen war und nun zurückkam, um die Geiseln zu befreien.

Milde formuliert, war Jacks Plan völlig irre – bat-shit crazy, wie man so schön sagte.

Aber es war seine Art von Wahnsinn.

»Außerdem hat das Ganze rein gar nichts mit Fledermausscheiße zu tun.«

Da die Luft rein schien, lief Jack so zügig wie möglich los, die Waffen griffbereit in den Holstern. Sein Körper versteifte sich zunehmend. Bald wäre er wohl zu einem Bad im eiskalten Wasser des Tempels gezwungen, um den Schmerz in Muskeln und Gelenken etwas zu mildern.

Er zog in Erwägung, Karl woanders hinzutragen und zu versuchen, die Draisine allein zu bewegen, dann fiel ihm allerdings wieder ein, wie schwer ihm das selbst mit Emmas und Günthers Hilfe gefallen war. Nie im Leben würde er das allein schaffen. Außerdem würde ihn der fehlende Wagen verraten, wenn jemand käme, um nach ihm und Karl zu suchen. Dann wäre sein Plan ruiniert, denn außer zum Lager konnte er nirgends hin.

Die Draisine zurückzulassen, war seine beste Option.

Jack konnte den erleuchteten Bahnhof erkennen und fing an zu joggen, wobei er sich wie eine Motte fühlte, die aufs Licht zuflatterte. Als er den Lichtkegel erreichte, spürte er die Erleichterung. Es war ein Segen, wieder in der Nähe der Zivilisation zu sein, denn das bedeutete, er war auf dem besten Weg zur Normalität zurück.

Mühsam hievte er sich zum leeren Bahnsteig nach oben, wofür er zwei Anläufe brauchte.

Dann zog er die Gurte seiner Weste straff und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Scheiße, hab ganz vergessen, wie schwer der Mist ist!«

Er nahm sich einen Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen, bevor er sich zu den Treppen aufmachte. Auf dem Weg nach oben fiel ihm der nasse Fleck von vorhin ein, dem er rechtzeitig auswich. Er schulterte das Gewehr und spähte in den Bunker. Er war leer. Erleichtert, dass Emma niemanden geschickt hatte, um nach ihrem Team zu sehen, betrat er ihn und schaltete die Lampe auf dem Gewehrlauf an. Die Winkellampe, die am Brustteil seiner Weste befestigt war, schaltete er dafür aus.

Nur ein paar Lichter im Bunker waren noch an, und die Dunkelheit hüllte den Großteil der unterirdischen Lebensräume ein. Das erinnerte ihn an eine Szene aus The Last of Us, eine von Jacks liebsten Videospielreihen, gleich nach Naughty Dog’s Bestseller Uncharted.

Er schwenkte nach links, dann nach rechts, und vermied, sich nur auf eine Stelle zu konzentrieren. Die LED auf dem Gewehrlauf war absurd hell – heller als alles, was er je zuvor benutzt hatte. Er konnte ohne Schwierigkeiten bis ans Ende aller Räume leuchten. Der Durchgang direkt vor ihm führte zum improvisierten Kino. Danach kam der Trainingsraum. Falls hier außer ihm noch jemand war, würde er es bemerken.

Genauso wie umgekehrt.

Jack überlegte es sich anders und schaltete das Licht aus, bevor er das Kino betrat. Stattdessen entschied er sich für das etwas schwächere Licht seiner Brustlampe, in Kombination mit den dämmrigen Lampen, die im Bunker brannten. Das entpuppte sich als die richtige Entscheidung, denn sobald er das Licht auf dem Gewehr abgeschaltet hatte, und noch bevor er die Brusttaschenlampe überhaupt anmachen konnte, hörte er laute Schritte die Stahltreppe herunterkommen. Schnell drückte er sich flach gegen die Wand des Kinos und wich zur Seite, bis nur sein Kopf aus der Tür lugte. Von dort aus hatte er den Trainingsraum und die beleuchteten Zugänge gut im Blick.

Einer von Emmas Männern tauchte auf und rief: »Günther? Hey, Günther!«

Jack sah, wie der Mann eine Gewehrlampe ähnlich seiner eigenen anknipste. Sobald der Söldner den unteren Treppenabsatz erreicht hatte, ging er nach rechts zur Waffenkammer. Leise bewegte sich Jack in den Trainingsraum. Jetzt war er in Reichweite, um mit jeder seiner vielzähligen Waffen zuschlagen zu können. Dieser Kerl musste leise ausgeschaltet werden, aber da Jack keinen Schalldämpfer bei sich trug, blieb ihm nur eine einzige Option.

Langsam zog er Karls schweres Kampfmesser aus der Scheide.

Zusätzlich zu Pistolen und Gewehren war Jack auch ein Experte im Umgang mit Messern. Geduckt schlich er sich von hinten an den Neuankömmling in der Waffenkammer, aber kurz bevor er zuschlagen konnte, knirschte ein Steinchen unter seinem Schuh, das in der Stille der Umgebung so laut wie ein Kanonenschlag klang.

Ohne Fluchtmöglichkeit duckte sich Jack unter dem Lichtstrahl des Schützen weg, und wie durch ein Wunder schwenkte dieser über seinen Kopf, ohne ihn auffliegen zu lassen. Der Söldner war zu sehr auf den Bunker konzentriert, um auf einen Mann zu achten, der ein paar Meter von ihm entfernt hockte. Davon abgesehen befand sich Jack derzeit außerhalb seines Sichtbereichs, im blinden Fleck unterhalb des erhobenen Gewehrlaufs.

Er war nah genug, um dem Kerl das Messer in den Bauch zu rammen, aber das tat er nicht. Stattdessen wartete Jack geduldig, bis er sich umdrehte und entfernte. Selbst, wenn er mit der Klinge traf, hätte der Schütze noch genug Zeit zu schreien. Diese Fähigkeit würde Jack ihm vorher mit einer schnellen Handbewegung nehmen.

Der überraschte Deutsche nahm die Arme zu langsam hoch, um den Angriff abzuwehren, und Jack nahm ihn erfolgreich in den Schwitzkasten. Dann trat er seinem Gegner mit dem rechten Fuß von hinten ins Kniegelenk, woraufhin der Mann zu Boden stürzte.

In einer fließenden Bewegung rollte sich Jack zur Seite, schlang dem Söldner die Beine um die Hüfte und verhakte die Füße hinter dessen Rücken – genauso wie vorhin bei Karl. Diesmal allerdings wandte Jack ein Manöver namens Rear Naked Choke an, bei dem man die Luftzufuhr seines Gegners bis zur Bewusstlosigkeit unterbrach. Den Bewegungen seines Kontrahenten zufolge war Jacks Taktik effektiv.

»Schhhh, schhhh, schhh«, sagte Jack und riss ihn zurück. »Alles wird gut. Zeit für ein Nickerchen.«

Innerhalb von ein paar Sekunden rührte sich der Söldner nicht mehr. Nachdem weitere zehn Sekunden verstrichen waren, ließ Jack los. Er schob ihn zur Seite und richtete sich auf. Das letzte Mal, als er von diesem Griff Gebrauch gemacht hatte, war während seines ersten Jahres in Yellowstone gewesen. Eine lange Geschichte, die mit jemandem anfing, der sich über Bulls Stamm lustig gemacht hatte. Der Konflikt endete für das fette Arschloch auf dem Rücken im Dreck, auf dem Weg ins Land der Träume.

Jack kniete sich hin, hob das Messer auf und steckte es in die Scheide zurück, bevor er den Puls des Söldners überprüfte. Günthers Kollege atmete nicht mehr, aber er konnte keinen Wiederbelebungsversuch starten, denn hinter sich hörte er bereits das nächste Stiefelpaar die Wendeltreppe hinunterstampfen.

Damit hatte er zwei Möglichkeiten: Entweder startete er einen Frontalangriff auf den neuen Gast oder er versteckte die Leiche, bevor sie entdeckt werden konnte.

Oder aber …

Jack hatte eine Idee.

Er versteckte sich unter der Treppe und wartete, bis Tweedledum seinen Kollegen Tweedledee finden würde. Einmal mehr zog er die Klinge aus der Scheide und brachte das Messer in Position. Der zweite Mann reagierte sofort. Er eilte zu seinem gefallenen Kameraden und rief: »Jonas!« Entweder war seine Stimme von Natur aus hoch oder er war noch sehr jung. Jack verdrängte die Erinnerung an den Jungen aus Mossul und schlich stattdessen Jonas’ Partner hinterher.

Sobald sich der Mann über die Leiche beugte, schlug Jack zu.

Blitzschnell legte er eine Hand auf dessen Mund und zog ihm das Messer von links nach rechts über den Hals. Dann wich er zurück und trat dem Söldner in den Rücken. Die tödliche Verletzung brachte den Deutschen aus dem Gleichgewicht und ließ ihn zu Boden gehen.

Jack blieb nicht, um ihn sterben zu sehen. Stattdessen ging er direkt auf die Treppe zu, um mit der nächsten Phase seiner Rettungsmission zu beginnen. In weniger als einer Minute hatte er soeben zwei Männer umgebracht, noch dazu an einem Ort, an dem bereits Unzählige gestorben waren.

 

»Des Teufels Schoßtier bewacht den Weg.«

Emma blickte von Himmlers Tagebuch auf und dachte über den Satz nach. Das klang, als hauste irgendeine Kreatur in den Tunneln. Sie wusste nicht genau, wo, aber Himmler hätte es nicht geschrieben, wenn es nicht zuträfe.

»Das war vor 80 Jahren.«

Nichts war sicher. Womöglich existierte dieses Schoßtier gar nicht mehr, was auch immer Himmler damit meinte. Aber falls doch, was konnte es sein?

Emma klappte das Buch zu und steckte es in die Weste zurück. Sie richtete sich auf und versuchte, sich vergeblich die Müdigkeit aus dem Gesicht zu wischen. Und dann fiel es ihr ein. Sie kannte ein Tier, das zu dieser Beschreibung passte und das gefährlich genug war, um Himmler dazu zu veranlassen, es zu erwähnen. Emma blickte auf ihre Füße und war erleichtert, nichts zu sehen.

Sie seufzte und kam sich lächerlich vor. Wenn sie jetzt noch keine gesehen hatten, waren sie vermutlich schon längst nicht mehr hier. Die winterlichen Temperaturen hatten sie sicher tiefer unter die Erde getrieben.

In der biblischen Schöpfungsgeschichte bot Satan Adam und Eva eine Frucht vom Baum der Erkenntnis an. Die tierische Form, die er dabei angenommen hatte, wurde in Kunst und Kultur lange als Allegorie des Bösen rezipiert: das teuflische Schoßtier aus Himmlers Tagebuch.