Kapitel 14

 

Jack war fast oben angekommen, es war kalt und windig. Er hatte sowohl körperlich als auch geistig viel durchgemacht, mehr noch als während der typischen Missionen mit Team Delta, die vor allem eine mentale Herausforderung gewesen waren.

Die frische Brise brachte ihn in seinen feuchten Klamotten zum Frösteln, und die Erinnerung an den Schatz und das warme Feuer in der Templerfestung bewegten ihn dazu, sich umzudrehen. Er hielt an, schulterte das Gewehr und bereitete sich vor. Sosehr sein Körper auch nach einer Pause schrie, er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Das hier war seine erste Mission im Alleingang – denn Team Delta war genau das gewesen: ein Team.

Jetzt gerade war Jack eine professionell ausgebildete Ein-Mann-Armee. Er setzte sich zum Test Karls taktische Maske auf. Seine Atmung war in Ordnung und sie lag eng genug an, um ihm nicht andauernd übers Gesicht zu rutschen. Seine Identität zu verschleiern war die oberste Priorität. Er war schließlich ein bewaffneter Amerikaner – völlig ohne Ausweis – in einem Konzentrationslager aus dem Zweiten Weltkrieg, das als Museum umfunktioniert wurde.

»Okay«, sagte er zu sich selbst gedämpft, »gehen wir’s an.«

Jack eilte die letzten Stufen hinauf und stieß dabei fast mit Piotr zusammen. Der Museumsdirektor kam nicht ungeschoren davon – Jack verpasste ihm mit seinem Gewehrschaft einen deftigen Kinnhaken. Der Schlag sorgte dafür, dass der Nazi-Sympathisant zu Boden ging, ohne sich zu rühren.

Einer von Emmas Männern rannte aus dem Korridor ins Büro und bekam drei Schüsse ab, von denen ihn zwei in der Brust trafen und im Blutregen nach hinten schleuderten.

Reglos stand Jack schwer atmend da und konzentrierte sich. Er konnte kaum glauben, was er soeben getan hatte – und wie schnell ihm das von der Hand gegangen war. Er wusste, warum er hier war, er war kampfbereit. Mithilfe seiner Fähigkeiten würde er jeden befreien, der in Gefahr schwebte.

Während er den Schock wegblinzelte, blickte er auf den zusammengebrochenen Verräter zu seinen Füßen. Dann beugte er sich über Piotr und riss ihm den Schlüssel vom Hals.

»Das hier nehm wohl besser ich.« Er steckte ihn ein und ging weiter, hielt aber noch einmal inne, um zurückzublicken. »Wir sehen uns später.«

Piotr griff nach Jacks Beinen, war aber zu schwach, um ihn aufzuhalten.

Jack wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Mission zu und ging leise auf die Tür zu. Er weigerte sich, den Mann, den er soeben erschossen hatte, anzusehen, während er auf weitere Schritte lauschte. Früher oder später würde jemand kommen, um nach Piotr und dem Wachmann zu sehen.

Jack sah sich um. Die Kellerwände würden den Gewehrknall dämpfen, vielleicht sogar ganz verschlucken. Mit ein wenig Glück gelänge es ihm, aus dem Büro zu schleichen und den Hauptgang ungestört abzusuchen. Der Weg vor ihm war leer.

Mit der Waffe im Anschlag schritt Jack leise auf die Treppe zu. Wieder hielt er an und wartete auf ein Zeichen, dass sein Gegenangriff bemerkt worden war, als aber niemand kam, um nach ihm zu sehen, stieg er die Treppe nach oben und dachte dabei nach, wie viele Männer noch übrig waren.

Wenn er Karl nicht mitzählte, hatte er bisher drei von Emmas Männern ausgeschaltet, seit er die Schatzhöhle verlassen hatte. Sie hatte ihm stolz von den sechs Schützen auf den Dächern der Küchengebäude erzählt – das hatte er sich gemerkt, obwohl er zu diesem Zeitpunkt unter starken Kopfschmerzen gelitten und darum wenig mitbekommen hatte. Ihren Erzählungen zufolge gab es nicht viele Männer, die hier patrouillierten. Die drei Männer, über die er auf dem Weg hierher gestolpert war, waren Beweis genug.

Aber wie viele Leute gab es hier noch?

Jack nahm zwei Stufen auf einmal, entschlossen, es herauszufinden. Sobald er den oberen Absatz erreicht hatte, nahm er das Gewehr hoch. Die Luft war rein, also setzte er seinen Weg in den ersten Stock fort. Die dicken Betonwände des Todesblocks entpuppten sich als der größte Schalldämpfer der Welt.

»Ernst?«

Jack geriet ins Stolpern, als er die Stimme hörte. Er war gerade dabei, in den Hauptkorridor abzubiegen, aber glücklicherweise war er stehen geblieben, bevor er entdeckt wurde. Der Neuankömmling musste seinen Posten vor der Eingangstür verlassen haben – Jack erinnerte sich vage an den Mann, dem Günther befohlen hatte, dort Wache zu halten.

»Ernst?«, rief der Mann erneut.

Jack drückte sich gegen die Wand direkt vor der Kellertreppe. Der Mann musste sich ihm von selbst nähern, allerdings ohne misstrauisch zu werden.

»Ja?«, antwortete Jack. Das war eines der beiden deutschen Worte, die er verstand. Das andere stammte aus Stirb langsam und wurde vor allem von Hans Grubers Männern benutzt. Also entschloss Jack sich dazu, dieses ebenfalls einzustreuen.

»Schnell!«, rief er.

»Schnell?« Der andere Mann schien verwirrt.

»Ja«, sagte Jack wieder.

Daraufhin überschüttete Ernsts Kollege Jack mit einem unverständlichen Wortschwall. Jack, der keine Ahnung hatte, wie er darauf antworten sollte, blieb still. Mit dumpfen Schritten betrat der Wachmann das Gebäude und wiederholte sich. Wie vorher auch, schwieg Jack.

»Ernst?«

»Ja?«

Der Mann war so perplex, dass er auf Jack zuging, um nachzusehen, was zur Hölle dort vor sich ging. Völlig geräuschlos lehnte Jack das Gewehr an die Wand und zog sein neues Kampfmesser aus der Scheide. Jetzt musste er wohlüberlegt vorgehen.

Ein Schatten fiel in den Raum.

»Ernst?«

Tut mir leid, Kumpel. Ich bin nicht Ernst.

Kurz bevor der Deutsche um die Ecke kam, sprang Jack aus seiner Deckung und schlug dem Mann die Pistole aus der Hand. Dann rammte er dem Söldner in einer flinken Bewegung die Messerspitze in den Hals, direkt unter dem Adamsapfel. Nachdem Jack die Waffe weggetreten hatte, stieg er über den röchelnden Mann hinweg und ließ das Messer in dessen Hals stecken. Bevor er schließlich sein eigenes Gewehr aufhob, trat er ihm gegen die Beine, im Anschluss drehte er sich um und lief auf die Tür zu, nicht aber ohne sich noch einmal umzublicken. Der Kerl zappelte in seinem eigenen Blut.

»Tut mir leid, Kumpel«, sagte Jack niedergeschlagen, »aber mit diesen Leuten hast du dir dein eigenes Grab geschaufelt.«

Er schulterte sein Gewehr, atmete tief ein und beruhigte seine angespannten Nerven. Die Sonne schien noch, stand aber schon deutlich niedriger am Himmel als zu der Zeit, als er den Todesblock zum ersten Mal betreten hatte. Er war mindestens für ein paar Stunden unter der Erde gewesen, ein Blick auf seine Uhr bestätigte die Vermutung. Neben der Armbanduhr trug er außerdem das Armband, das für Stärke stand, am linken Handgelenk.

Die bräuchte er auch, um seine Mission zu Ende zu bringen. Jack hasste jede Minute dessen, was er gerade tat, aber dann dachte er wieder an die beiden Kinder, die ihm an der Laderampe auf die Beine geholfen hatten. Wenn er jetzt einfach abhaute, schwebten sie in Lebensgefahr. Außerdem steckte er bereits viel zu tief in der Sache drin, um jetzt einfach abzubrechen. Irgendwann würde jemand die Männer entdecken, die er soeben getötet hatte, und spätestens dann wären die Geiseln dran.

»Komm schon, Jack.« Er hob die Waffe höher. »Beweg deinen Arsch.«

Mit Kimme und Korn im Blick stieg Jack zügig die Stufen des Todesblocks hinunter. Sobald er im Freien war, kniete er sich hin, um weniger Angriffsfläche zu bieten, und konzentrierte sich auf die Gasse, die in einer Wand endete – die Schwarze Wand.

Nachdem er nichts Verdächtiges erkennen konnte, stand Jack auf und wurde fast von einer kühlen Brise umgeweht. Der Wind brannte ihm in den Augen und brachte sie zum Tränen. Während er das Salzwasser wegblinzelte, blendete er die Kälte auf seiner klammen Haut aus und ging weiter. Jetzt gerade befand er sich zwischen Block 11 und Block 10, wo unter anderem Josef Mengele viele grausame Experimente durchgeführt hatte.

Mengele war als Todesengel von Auschwitz bekannt und stand Hitler und Himmler an Grausamkeit in nichts nach – vielleicht war er sogar schlimmer. Die meisten Historiker stimmten damit überein, dass Mengeles Taten zu den schwerwiegendsten Kriegsverbrechen gehörten, die je dokumentiert wurden. Am schlimmsten war jedoch die Tatsache, dass Mengele bis ins hohe Alter ungestört in Südamerika lebte. Hitler und Himmler hatten sich immerhin vorher umgebracht.

Wieder blieb Jack stehen und spähte um die Ecke. Von hier aus ging es nach rechts zum Ladebereich, wo die Geiseln festgehalten wurden. Bei der zweiten Kreuzung müsste er nach links und dann nur noch geradeaus gehen, bis die ersten Schüsse fielen. Aber diesen Weg würde er nicht gehen – sonst würde er von den Wachen auf den Dächern sofort erschossen werden.

Stattdessen ging Jack geradeaus und hüpfte über den Bordstein. Zwischen den beiden Häftlingskrankenblöcken aus Backstein verlief mittig eine Erdrinne, durch die der Regen ablaufen sollte. Der Rasen war kurz gemäht und mit einer leichten Schneeschicht bedeckt. Im Moment schneite es nicht, und Jack hoffte, das hielt eine Weile an.

Er war nass und fror.

»Hör auf zu jammern, Jack«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Lieber kalt als Ernst.«

Die nächste Kreuzung lag direkt vor ihm, und er wäre fast ins Freie gelaufen, ohne vorher nachzusehen, ob die Luft überhaupt rein war. Er war nicht so aufmerksam, wie er hätte sein sollen. Es gab zu viele unbekannte Variablen, und so sehr er auch versuchte, es zu ignorieren: Ihm war wirklich kalt. Seine Hände zitterten. Aber es war Jack egal, ob er aus der Übung war – er hätte sich besser im Griff haben müssen.

»Das kannst du besser.«

Er blieb zwischen den beiden identischen Häftlingskrankenbauten stehen und kniete sich in das kühle, schneebedeckte Gras, während er versuchte, seinen Ärger hinunterzuschlucken. Von dort aus beobachtete er das Geschehen und bemerkte einen von Emmas Männern rechts von sich. Der Kerl war noch immer drei Gebäude von ihm entfernt und drehte ihm den Rücken zu. Es juckte ihn in den Fingern, den Söldner hier und jetzt zu erschießen, aber er musste vorsichtig sein, schließlich konnte er nicht erkennen, ob in der Nähe ein Kollege wartete.

Außerdem würde ihn ein Schuss verraten – die Kellerwände fungierten nicht mehr als Schallschutz. Alles, was er von jetzt an tat, musste ohne das kleinste Geräusch vonstattengehen, was im Anbetracht der fehlenden Versteckmöglichkeiten auf den Hauptwegen leichter gesagt als getan war. Jack würde die 60 Meter zum Schützen irgendwie zurücklegen müssen und konnte nur beten, dass sich dieser nicht umdrehte.

»Auf geht’s«, sagte er und trat aus seiner Deckung.

Er lief geduckt die Mauern entlang, ohne den Söldner aus den Augen zu lassen. In der Spezialeinheit war er darauf trainiert worden, sich schnell und geräuschlos zu bewegen.

Nach jedem Gebäude verließ er die Straße, um seine Umgebung zu überprüfen. Sein Ziel hatte sich noch immer keinen Zentimeter bewegt, was einerseits gut war, Jack andererseits jedoch beunruhigte – denn das hieß, dass es sich jederzeit bewegen konnte.

Oder er ist ’ne komische Vogelscheuche, der man ein Gewehr in die Hand gedrückt hat.

Als er sich dem letzten Gebäude näherte, tastete Jack nach Karls Messer, das an seiner Brust festgemacht war. Es war nicht da: Er hatte es im Hals eines Söldners vergessen. Nicht die klügste Entscheidung.

Jack nahm an, da sie alle dem gleichen Zweck dienten, dass sie ähnlich ausgerüstet waren. Sie alle würden sich früher oder später, sobald man eine Ausfahrt aus der Schatzkammer entdeckt hatte, zu Emmas Erkundungstrupp unter Tage begeben. Von daher vermutete Jack, nicht nur der Inhalt ihrer Rucksäcke, sondern auch ihre Bewaffnung wäre identisch. Bisher war jeder außer Emma mit einer HK416 ausgestattet. Demzufolge konnte er auch davon ausgehen, dass sie alle wie Karl ein Messer an der Brust trugen.

Hoffen wir’s mal.

Jack hängte sich das Gewehr um die Schulter, blieb stehen und musste grinsen. Er brauchte die Klinge des Mannes gar nicht, denn er hatte noch eine andere in petto. Hinter seinem Rücken zog Jack den kleineren deutschen Grabendolch hervor, den er aus dem unterirdischen Waffenlager geklaut hatte. Jetzt gerade war dieser Dolch sein engster Verbündeter. Er war zwar nicht mit Karls Kampfmesser zu vergleichen, würde die Aufgabe aber ebenso gut bewältigen.

Mit erhobenem Messer schlich sich Jack an sein Ziel heran und erstarrte, als der Wachmann sich plötzlich beiläufig umdrehte und den Gewehrlauf auf Jacks Bauch richtete.

War er gerade aufgeflogen? Nein – der Söldner war ebenso überrascht wie Jack. Bevor er den Abzug drücken konnte, schlug Jack den Lauf beiseite, stürzte sich auf ihn und wollte ihm die Klinge in den Hals rammen. Überraschenderweise versuchte der Deutsche aber nicht, Jack zu erschießen.

Stattdessen blockte er den Schlag mit dem Gewehr selbst. Die beiden Männer rangen miteinander, und gerade, als Jack seinem Gegner das Gewehr aus der Hand riss, wurde ihm das Messer abgenommen.

Der Wachmann öffnete schon den Mund, um nach Hilfe zu rufen, wurde aber von Jacks rechter Faust, die ihm ins Kinn krachte, aufgehalten. Der Schlag brachte ihn dazu, sich auf die Zunge zu beißen.

Jack, der kein Problem mit schmutzigen Tricks hatte, trat dem Söldner daraufhin, so fest er konnte, in den Schritt. Dann nahm er die Wucht der Bewegung mit und knallte ihm den erhobenen Ellenbogen ins Gesicht. Als der Schütze nach hinten fiel, hielt er sich an Jacks Weste fest, um ihn mit sich zu reißen. Er ballte seine Faust und wollte Jack schlagen, war aber überrascht, als dieser ihn packte und an sich heranzog.

Jack wandte die altbewährte Strategie aus seinen Konfrontationen mit Karl an und benutzte seinen eigenen Schädel als Waffe, mit der er nun die Nase des Schützen zerschmetterte. Diesmal spürte Jack die Auswirkungen jedoch auch am eigenen Leib.

Er schüttelte den Kopf und blinzelte.

Damit sollte ich aufhören.

Der Schlag war nicht so konsequenzlos wie mit Karl verlaufen, diesmal sah er Punkte vor den Augen. Sein Kontrahent war allerdings schlimmer dran.

Mit letzter Kraft trat ihm Jack zweimal gegen das linke Knie, um seinen Stand zu schwächen. Dann packte er den Killer an beiden Schultern und riss ihn nach links. Nachdem er etwas Schwung aufgebaut hatte, streckte er bei drei Vierteln der Umdrehung den Fuß aus und ließ seinen Gegner stolpern.

Mit dem Gesicht voran stürzte der schwarz gekleidete Mann in die Ziegelwand des Krankenblocks. Anschließend sackte er zu Boden – richtete sich aber kurz darauf schon wieder auf.

Nein, du bleibst unten!

Kräftig trat Jack auf den Kopf des Deutschen, der daraufhin zurück auf den Boden knallte und diesmal liegen blieb.

Schwer atmend sah Jack sich um, ob irgendjemand ihre Rangelei beobachtet hatte. Sobald er sicher war, dass die Luft rein war, atmete er etwas beruhigter. Schnell sammelte er ihrer beider Waffen auf und schleifte den bewusstlosen Killer um das Gebäude herum, um ihn hinter ein paar Büschen in der Nähe zu verstecken.

Bevor er mit seiner Mission fortfuhr, durchsuchte er dessen Rucksack und fand zwei weitere Stangen Plastiksprengstoff sowie zwei volle Wasserflaschen.

Benommen von der letzten Kopfnuss und dem Mangel an Ruhe, schraubte Jack den Deckel einer Flasche ab und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. Die Flüssigkeit reagierte sofort auf die Lufttemperatur, das Brennen auf der Haut riss Jack mit einem Schlag aus seinem Delirium. Dann trank er den Rest aus und erhob sich.

Während er so an der Wand des Krankenblocks lehnte, schnaufte er laut.

»Nein!«

Der Schrei kam von irgendwo vor ihm. Das genügte, damit Jack seine Ausrüstung aufhob und sich wieder in Bewegung setzte. Hier draußen warteten schließlich noch mehr von Emmas Männern, von deren Anwesenheit er das Lager befreien musste.