Kapitel 15

 

Diesmal hatte Jack den Bereich um die Häftlingsküche schon aus der Entfernung im Blick. Das letzte Mal war er hier auf dem Boden gelegen und hatte mit heftigen Kopfschmerzen zu kämpfen gehabt. Soweit er erkennen konnte, gab es nur einen Weg hinein und hinaus. Ein einfaches zweiflügliges Holztor war alles, was ihn noch davon abhielt, die Geiseln zu retten.

Und die Schützen auf dem Dach, dachte er und beugte sich um die Ecke des Gebäudes, das der Häftlingsküche gegenüberstand.

Jack beobachtete die Wachmänner für die nächsten paar Minuten. Zwei davon waren am nördlichen Ende des rechteckigen Hofs positioniert, zwei andere am südlichen Ende. Je ein Mann stand an jeder Seite, was insgesamt sechs ergab. Emmas Warnung basierte auf Tatsachen, das war keine bloße Einschüchterungstaktik gewesen.

Jack konnte keinen direkten Zugang zum Dach erkennen, dafür würde er das Gebäude wohl zunächst weiter auskundschaften müssen. Er wartete, bis ihm die beiden nächsten Wachen den Rücken zukehrten, was eine Weile dauerte. Sobald einer sich wegdrehte, blieb der andere stehen und umgekehrt. Nach fünf Minuten hatte Jack endlich eine Chance. Die niedrige Temperatur erwies sich als vorteilhaft, denn sie sorgte dafür, dass es den Männern schwerfiel, stillzustehen. Jack fühlte sich genauso. Für einen kurzen Augenblick standen beide Männer mit dem Rücken zum Eingang – wo Jack wartete.

Leichtfüßig rannte er über die Straße und duckte sich aus Reflex unter den Sammelgalgen weg, obwohl diese viel zu hoch hingen, um ihn zu treffen. Dann drückte er sich mit dem Rücken gegen die vordere Fassade. Das Dach stand genug über, um Jack vor jedem zu verbergen, der von dort aus hinunterblickte. Ohne irgendetwas, das er als Leiter verwenden konnte, schritt Jack nach rechts und lief auf die südwestliche Ecke des Küchengebäudes zu.

Er sah kurz nach, ob die Luft rein war, und schlich die Westfassade entlang. Vor ihm lag ein gedrungener Gebäudeausläufer, der an die nordwestliche Ecke der Küche anschloss. Das Gebäude war zwei Meter hoch, daneben stand ein Abfalleimer.

Bingo!

Jack rannte voraus und kletterte auf die ummauerte Mülltonne. Der dicke Plastikdeckel knarrte und bog sich unter seinem Gewicht etwas durch, hielt aber letztendlich stand, sodass er langsam aufstehen konnte. Er war schon auf den Knien, als er plötzlich zwei Wachen erspähte, eine auf zwei, die andere auf zehn Uhr. Zu seinem Glück hatte er die Sonne gerade im Rücken, was sie genug blenden würde, um ihn ein wenig zu verstecken. Dennoch musste er sich beeilen.

Das gesamte nördliche Dach war mit zwölf Schloten gespickt, die regelmäßig in einer Reihe verliefen. Schnell richtete er sich auf und kletterte hinter den ersten. Sie waren gerade breit genug, um sich dahinter zu verstecken.

Nun folgte der schwierige Teil. Jack wusste, sobald er das Feuer eröffnete, wären die Blicke und Läufe aller sechs Schützen auf ihn gerichtet.

Ich muss die Zahlen etwas ausgleichen.

Aus seiner Deckung heraus sollte er leicht drei – vielleicht sogar vier – beseitigen können. Da sie im Freien komplett schutzlos waren, waren sie leichte Beute. Die beiden auf seiner Seite der Küche könnten ihm jedoch Schwierigkeiten bereiten, denn sie wurden von der Gebäudestruktur verdeckt. So oder so waren zwei gegen einen auf jeden Fall besser als sechs gegen einen.

Jetzt!

Jack wirbelte nach links und nahm seine HK416 in den Anschlag. Die Welt um ihn herum blieb stehen. Er zielte mit ruhiger Hand, dann drückte er zweimal sanft den Abzug. Beide Schüsse gingen an der Kevlarweste des Schützen vorbei und durchbohrten seinen Kehlkopf.

Anschließend zog Jack den Lauf nach links und feuerte mehrmals auf Schütze Nummer zwei. Eine Kugel durchschlug seine Haut, die anderen beiden trafen die Weste des Mannes, woraufhin die Wucht ihn aus dem Gleichgewicht brachte und zu Boden schleuderte.

Söldner drei und vier waren deutlich weiter weg. Statt auf Kopf und Oberkörper zu zielen, hielt er auf ihre ungeschützten Beine. Beide Schützen stolperten und stürzten nach vorn, direkt in das Meer aus Geiseln.

Es blieb keine Zeit, um seinen Triumph zu feiern, also ging er wieder in Deckung und saß das Gegenfeuer der beiden Männer aus, die mit ihm auf dem Dach standen. Die Schüsse setzten der Kaminwand ordentlich zu. Sobald die beiden Söldner in den Pulk aus Geiseln fielen, rissen ihnen diese im ausbrechenden Chaos die Waffen aus den Händen. Jack konnte nicht sehen, wer genau die Waffen an sich nahm, aber er hoffte, es wäre das Sicherheitsteam des Museums.

Emma hat gesagt, die Übernahme hat ohne Tote stattgefunden.

Auf den zweiten Blick erkannte Jack zufrieden die identischen Sicherheitsuniformen der beiden. Sie wirkten außerdem, als hätten sie Erfahrung im Umgang mit Waffen. Grinsend winkte er ihnen zu.

Als sie ihn sahen, erwiderten sie den Gruß.

Dann bewegte er sich zügig hinter den nächsten und übernächsten Backsteinschlot. Er hörte die Schüsse der Sicherheitsleute, die auf die verbliebenen Schützen schossen. Jack wechselte zu seiner Glock und hielt sich die linke Hand frei. Er mochte es nicht, einhändig zu schießen – das war deutlich schwerer, als einem Filme das weismachen wollten. Nachdem ein paar Kugeln gefährlich nah an seinem rechten Ohr vorbeigezischt waren, duckte er sich hinter dem fünften Kamin.

Einer von Emmas Männern trat heraus und richtete sein Gewehr auf die Geiseln darunter. Jack hob seine Pistole und schoss ihm viermal in Hals und Schulter. Sieben weitere Schüsse von den Sicherheitsleuten trafen den Söldner in Brust und Bauch, woraufhin dieser das geneigte Dach hinunterfiel. Jack drückte sich zwischenzeitlich hinter den sechsten Kamin. Fast hatte er es geschafft.

Wieder bewegte er sich weiter – und wurde auf das harte Dach geschleudert. Seine Glock flog ihm aus der Hand, sein Gewehr lag unter seinem eigenen Gewicht begraben. Das Ganze geschah so schnell, dass ihm kaum Zeit blieb, der Klinge auszuweichen. Er drehte den Kopf nach links und schlug die Hände nach rechts. Die Wucht seiner Gegenwehr zwang seinen Angreifer dazu, sich näher zu ihm herunterzubeugen. Jack packte ihn am Gurt seiner Weste, dann bewegte er seine Füße unter ihn und warf ihn kopfüber gegen den nächsten Schlot.

Beide Männer waren nun unbewaffnet, und Jacks Kontrahent sah aus, als wäre er im Nahkampf geübt – aber da stand Jack ihm in nichts nach. Mit erhobenen Fäusten machte Jack einen schnellen Ausfallschritt auf ihn zu und blieb schlagartig stehen, als der andere eine Pistole hinter seinem Rücken hervorzog und sie auf Jacks Brust richtete. Ein lauter Schuss erklang, aber zu seinem Erstaunen spürte er ihn nicht. Daraufhin wurde der Söldner von einem regelrechten Kugelhagel zerfetzt. Verblüfft blickte Jack zu den Sicherheitsleuten nach unten, die jetzt zu viert waren, jeder mit einem Gewehr oder einer Pistole bewaffnet.

Sie hatten ihm das Leben gerettet.

Jack dankte ihnen mit einer schnellen Handbewegung und sammelte seine Ausrüstung ein.

Dann rutschte er vom Dach, ein paar unbewaffnete Beobachter halfen ihm auf den Boden. Sie dankten ihm wieder und wieder für seine Rettung, aber er beachtete sie kaum. Seine volle Konzentration galt den bewaffneten Sicherheitsleuten, mit denen er nun sprach und die ihm aufmerksam zuhörten.

»Ruft die Polizei und erzählt ihnen, die Verantwortlichen heißen Emma und Günther Schmidt und Piotr Szymański.« Beim letzten Namen fühlte sich Jack höchst unwohl, schließlich waren das die Angestellten des Museumsleiters.

»Piotr?«, fragte einer der Sicherheitsleute.

Jack nickte. »Es stimmt leider. Er ist durch und durch ein Nationalsozialist.«

Alle vier Kollegen Piotrs sahen aus, als bestünde eine Menge Klärungsbedarf. Jack rekapitulierte alle Geschehnisse in der Kurzversion, wobei er die Templer und die Tatsache ausließ, dass sie den Schatz tatsächlich gefunden hatten. Dieses Wissen konnte Jack niemandem anvertrauen. Nur weil die Sicherheitsangestellten ihm geholfen hatten, hieß das nicht, dass sie zu keiner Schandtat in der Lage waren. Wenn auch nur ein Kollege mit Piotr unter einer Decke steckte, stünde bereits alles auf dem Spiel, was Jack zu schützen versuchte.

»Ihr zwei«, sagte er und zeigte auf die Männer zu seiner Linken, »ihr kommt mit mir mit. Und ihr«, nun zeigte er auf die beiden zu seiner Rechten, »kümmert euch um die Leute hier und beschützt sie, falls hier noch mehr von Piotrs Freunden in der Nähe sind.«

Bevor Jack und sein neuer bester Freund loskonnten, wurde er von hinten angefallen. Als er seinen Kopf senkte, sah er ein paar kleine Hände, die sich um seine Hüfte geschlungen hatten. Er blickte sich um und erkannte, wer ihn da umarmte: Es war das kleine Mädchen von vorhin, dem er ein wichtiges Versprechen gegeben hatte.

Unter seiner Maske lächelte er, dabei spürte er den Stoff an seinen Wangen kratzen.

»Siehst du«, sagte er, »ich hab doch gesagt, alles wird gut.«

Das Mädchen erwiderte sein Lächeln und winkte Jack und den beiden Sicherheitsmännern nach, als sie in Richtung Todesblock davoneilten. Er betrat das Gebäude mit ihnen und führte sie zügig in das Büro im Keller, wobei er das Gemetzel, das er hinterlassen hatte, geflissentlich ignorierte. Dort trat Jack beiseite, sodass die beiden Piotr ergreifen konnten, der ihnen allen daraufhin sofort leere Drohungen auf Englisch an den Kopf warf. Er sprach von der Zukunft, wenn der nächste Führer an die Macht kommen und alles zerstören würde, um die Welt nach den Vorstellungen der Nationalsozialisten wieder aufzubauen.

Jack rollte mit den Augen und entfernte sich.

»Wo gehen Sie hin?«, fragte einer der Männer.

Jack nickte in Richtung Bunkereingang. »Das hier ist noch nicht vorbei.«

Er trat ein und sah etwas, das ihm vorher nicht aufgefallen war. Auf dem Boden des versteckten Raumes war noch ein Schloss eingelassen. Jack kniete sich hin und untersuchte es, während er Piotrs Schlüssel aus der Tasche zog. Neugierig steckte er ihn hinein. Er passte perfekt. Jack hatte eine Vermutung und sperrte sich dahinter ein, damit niemand in der Lage wäre, ihm zu folgen – gleichermaßen gelänge es Emma und ihrem Forschungstrupp dann nicht, den Bunker zu verlassen, ohne die ganze Wand in die Luft zu jagen, was extrem unwahrscheinlich war. Jack wusste genau, dass sie es nicht riskieren würden, den Todesblock über ihnen zum Einsturz zu bringen.

Er sah zu den Wachleuten hinauf. »Sorgt dafür, dass mir niemand folgt. Das hier ist gefährlich.«

»Was ist dort unten?«, fragte er.

Jack verriet ihm zumindest einen Teil der Wahrheit.

Während er dem Mann direkt in die Augen blickte, drehte Jack den Schlüssel um und antwortete: »Der Tod.«

Die Wand erwachte kurz zum Leben und verschloss sich anschließend wieder. Danach zog er den Schlüssel aus dem Schloss und verstaute ihn wieder in seiner Tasche, richtete sich auf, drehte sich um und verschwand die Stufen nach unten. So kletterte Jack zum zweiten Mal die Treppe zum Bunker hinab, wobei er fast keine Luft mehr bekam.

Sobald er unten angekommen war, riss er sich als Erstes erleichtert die Maske vom Kopf und schleuderte sie weg. Dann wartete er eine Minute, um sich zu sammeln, bevor er sich direkt durch das unterirdische Bunkersystem zum Bahnsteig aufmachte. Der Weg zur Plattform erschien ihm verschwommen, genauso wie sein Abstieg über die Gleise. Jack fluchte und blieb stehen, um die Lampe auf seinem Gewehrlauf anzuknipsen. Er hatte keine Möglichkeit, festzustellen, ob zwischenzeitlich irgendjemand zurückgekommen war, um nach Karl zu sehen.

So, wie ich mein Glück kenne, ist genau das passiert.

Aber immerhin konnte niemand den Rest des Teams an der Oberfläche kontaktieren. Nach Emmas Meinung hatten sie die Lage noch immer unter Kontrolle. Jack musste die Situation hier unten irgendwie entschärfen. Es gab keinen Grund für weitere Tote, das schloss Emma und die anderen mit ein.

Ganz so, wie er auch mit Karl verfahren war, war Jack damit zufrieden, den verbleibenden Söldnertrupp mit nichtletalen Mitteln außer Gefecht zu setzen. Unglücklicherweise war es für die Männer im Bunker und an der Oberfläche schon zu spät. Es hatte keine Möglichkeit gegeben, ihre Leben zu verschonen.

Jacks Lichtstrahl fiel auf die Stelle, wo er Karl zuletzt zurückgelassen hatte.

Er erstarrte.

»Scheiße.«

Karl war nicht mehr da.

15 Meter von der Draisine entfernt, kniete sich Jack auf den Boden und hielt im Tunnel nach der kleinsten Bewegung Ausschau. Nichts regte sich. Dann richtete er sich wieder auf und hastete zum Wagen. Die Fesseln des Mannes lagen durchgeschnitten auf dem Boden, selbst die Überbleibsel seiner Klamotten fehlten.

»Tja«, murmelte Jack gedämpft, »da ist man einmal nett und das ist der Dank.«

In diesem Moment bereute Jack es, Karl nicht den Garaus gemacht zu haben. Sein Respekt vor menschlichem Leben war eine Schwäche, die er aus Kriegszeiten behalten hatte. Genau diese Schwäche war ihm jetzt in den Rücken gefallen. Er ließ seinen Hals knacken und legte das Gewehr neu an.

»Na, dann wollen wir die Sauerei mal beseitigen.«

 

Im Eingang des engen Seitentunnels saß Karl und wartete, bis Jack vorüberging. Sosehr er sich auch danach sehnte, der Plan war nicht, ihn zu töten. Trotz allem wäre der Amerikaner eine nützliche Rückversicherung, falls sich jemand von der Oberfläche einmischte. Also wartete er, bis Jack ein Stück vorausgegangen war und folgte ihm dicht auf den Fersen, um im richtigen Moment zuzuschlagen.

Günther war ihm endlich gefolgt und hatte Karl bei Bewusstsein und mit einer Socke als Knebel gefunden. Seltsamerweise lagen seine Klamotten in einem ordentlich gefalteten Haufen auf der Draisine. Jack hatte sich die Zeit genommen, ihn auszuziehen und seine Kleidung fein säuberlich daneben zu platzieren.

»Ein komischer Kauz«, hatte Günther bemerkt, während Karl sich wieder angezogen hatte.

Karls Kevlarweste, der Rucksack und die Waffen fehlten. Günther lieh ihm seine Pistole und wies ihn an, zum Rest des Teams in der Schatzkammer zu kommen. Sehr zum Leidwesen des Kommandanten widersetzte sich Karl diesem Befehl, wenn auch aus gutem Grund. Er erklärte, er würde lieber auf den Mann warten, der ihn gedemütigt hatte.

Karl knurrte. »Was er bei mir verpasst hat, werde ich bei ihm nachholen.«

Er würde Jack töten, allerdings nicht, ohne ihn vorher ein Weilchen zu foltern. Er wollte den Bastard schreien hören. Bevor er seine Rache finalisierte, wollte er wenigstens ein bisschen Spaß haben.