Kapitel 16

 

Jack kletterte den Trümmerhaufen hinab und schlich zum Eingang der Schatzkammer hinauf, auf dem Weg dorthin schaltete er die Gewehrlampe aus. Von seinen Zielen entdeckte er keine Spur. Der Raum wirkte komplett verlassen.

»Scheiße«, flüsterte Jack und durchwühlte seinen Rucksack. Was er nicht sah, machte ihn nervös.

Vor ihm eröffnete sich eine beunruhigende Szene, und das nicht nur aufgrund des unbewachten Schatzes. Sie hätten Jack erwarten müssen, er hatte sich auf einen Kampf vorbereitet. Schnell blickte er sich um und wartete auf die erste Bewegung. Ein Angriff von hinten war eine Möglichkeit, aber er sah nichts außer Dunkelheit. Also wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Tunnelwand zu und steckte seinen Notfallplan in einen Riss im Felsen.

Falls der gewaltige Raum tatsächlich leer war, dann müsste er lediglich zurückkommen und seinen kleinen Freund deaktivieren. Falls nicht, falls Emma ihn tatsächlich erwartete, dann würde Jack sie mit einer kleinen Explosion überraschen.

»Das sorgt sicher für Bombenstimmung«, murmelte er, packte seine Sachen zusammen und duckte sich hinter den letzten Zugwaggon.

Statt geradewegs auf den Bahnsteig zuzulaufen, bewegte sich Jack geduckt auf den Gleisen entlang. Zwischendurch hielt er kurz an und beäugte die Plattform zu seiner Linken, wo er Emma, Günther und Jürgen zuletzt gesehen hatte, bevor er sein kleines Missverständnis mit Karl vor der Draisine geklärt hatte.

Niemand war dort.

Er duckte sich weiter und quetschte sich zwischen die rechten Eisenbahnräder und die Betonwand. Der Spalt war so beengt, dass er wie ein behinderter Krebs vorwärtskrabbeln musste. Eingezwängt, aber in konstanter Bewegung, schaffte Jack es zum Verbindungsstück zwischen drittem und viertem Waggon, bevor er endlich eine Stimme hörte.

Hinter der Statue eines ägyptischen Pharaos trat Emma hervor, dicht gefolgt von Günther und Jürgen. Sie verhielten sich wie immer und sprachen ruhig miteinander, während sie ab und an zum Schatz gestikulierten.

»Ich sollte echt Deutsch lernen«, stellte Jack fest, der nach wie vor absolut nichts davon verstand. In Ermangelung dessen konzentrierte er sich auf die Körpersprache: Sie zeigten auf den Abhang, über den Jack den Raum betreten hatte.

»Der Tempel?«

Sie mussten die geheime Templerfestung entdeckt haben und gerade von ihrem Ausflug zurückgekehrt sein. Hatte Jack das falsch interpretiert? Erwarteten sie ihn gar nicht? Und wo steckte eigentlich Karl?

»Hmmm.«

So oder so, die Sache stank für Jack zum Himmel. Der Spalt zwischen den Waggons war zu eng, um das Gewehr zu benutzen. Stattdessen drehte er sich um und robbte langsam unter dem Zug hervor. Als er sich schon halb aufgerichtet hatte, beugte sich jemand zu ihm herunter und streckte die Hand nach ihm aus.

Wie sich herausstellte, gehörte diese zu Karl – und die Geste war eher ein Faustschlag ins Gesicht als eine Hilfestellung. Der Hieb traf ihn wie ein Vorschlaghammer. Dank der Sterne, die er vor sich sah, kam er sich wie Roger Rabbit vor. Dann packte der nicht länger nackte Söldner Jack an den Gurten der Weste, die vorher ihm selbst gehört hatte, und riss ihn nach oben. Als Jacks Gesicht auf Kniehöhe war, nutzte sein Gegner die Gelegenheit und verpasste ihm ein paar kräftige Schläge. Jack blockte die meisten davon ab, aber zwei trafen und betäubten ihn.

Halb bewusstlos wurde Jack auf den Boden geworfen und er rollte sich auf den Rücken. Karl nahm ihm die Ausrüstung ab, glücklicherweise aber nicht die Kleidung. Einige Sekunden später war er umzingelt und sah sich unter Schmerzen um. Ein verschwommener Karl war das Erste, was er wahrnahm. Die blauen Flecken im Gesicht des Deutschen waren um einiges nachgedunkelt, seit er ihn zum letzten Mal gesehen hatte, und er erinnerte Jack an einen Waschbären.

»Na, Kumpel?« Jack zuckte zusammen, als er sprach. »Wie läuft’s denn so?«

Karl rammte Jack dreimal die Stiefelspitze in die Rippen. Trotz der Kevlarweste schmerzte jeder Tritt gewaltig und Jack übertrieb seine Reaktion bewusst. Mit Sicherheit war diese Strategie unkonventionell, aber Jack wusste genau, was er tat. Er ließ sich freiwillig von Karl vermöbeln, weil er sich, wenn seine Überraschung funktionieren sollte, ein wenig Zeit erspielen musste, die er auch davon unabhängig nötig hatte. Solange sie damit beschäftigt waren, ihn zu verprügeln, brachten sie ihn wenigstens nicht um. Gab es denn ein effektiveres Ablenkungsmanöver, als sich zu ihrem Boxsack zu machen?

Jack brach in Husten aus – diesmal war es echt.

Dann hob Emma stumm ihre linke Hand und gebot Karl sofort Einhalt. Mit den Händen auf die Knie gestützt beugte sie sich über Jack und grinste breit in Anbetracht seiner Blutergüsse und Verletzungen.

Jacks Lippe war aufgesprungen und blutete, außerdem spürte er, wie sein rechtes Auge anschwoll. Sogar ein paar Zähne wackelten. Dennoch war er am Leben und bei Weitem nicht in so schlechter Verfassung, wie er seine Gegner glauben machte. Es stimmte, dass er unter wahnsinnigen Schmerzen litt, aber er war noch immer bei vollem Bewusstsein.

Langsam rollte er sich auf die Seite und hob den linken Arm, um ihn in einer gespielt verzweifelten Geste schützend vors Gesicht zu halten. Tatsächlich überprüfte er dabei jedoch seine Armbanduhr, die trotz des gesprungenen Displays noch immer voll funktionstüchtig war. Währenddessen erspähte er außerdem sein Armband und erinnerte sich an etwas, das Bull einst gesagt hatte: Mut und Stärke sind die zentralen Eigenschaften eines Kriegers, weil blah, blah, blah. Jack rollte mit den Augen. Ja, Bull, das mag schon sein, aber …

»Oh Jaaack«, flötete Emma. »Was hast du nur angestellt?«

Er war so kurz davor, ihr zu erzählen, dass er die Geiseln befreit hatte, und sei es nur, um sie auf die Palme zu bringen, aber dann besann er sich eines besseren und hielt den Mund. Sobald sie über die Niederlage ihrer Männer Bescheid wüsste, würde sie vielleicht ihren Plan ändern – was wiederum bedeutete, dass sie für Jack keine Verwendung mehr hatte. Er war normalerweise kein Mensch, der nur an sich selbst dachte, wusste aber, dass es nun höchste Zeit war, seine eigene Haut zu retten. Und um das zu bewerkstelligen, musste er Emma dazu bringen, mit ihrem Plan fortzufahren.

»Ich hab versucht, die Oberfläche zu erreichen, hab’s aber nicht geschafft«, log Jack. »Eins muss ich dir lassen, Emma. Deine Handlanger wissen, was sie tun – außer Karl natürlich. Der hat nur Scheiße im Hirn.« Der Angesprochene schnaubte vor Wut, hielt sich aber zurück. »Sie …« Ein kalter Wassertropfen traf ihn auf der Stirn, woraufhin er sich auf die Höhlendecke konzentrierte. Der Tropfen war direkt von oben gekommen, vom größten Stalaktit in diesem Gebiet. Das erinnerte ihn an den Tropfen, den er in der Nähe des unterirdischen Bahnhofs gespürt hatte. »Sie, äh«, fuhr er mit seiner Geschichte fort, »sie haben mich in den Bunker zurückgeworfen und den Geheimgang verschlossen.«

Beide Schmidts strahlten vor Stolz. Sie hielten ihre Männer für wahre Helden, und genau das war Jacks Ziel. Damit sorgte er dafür, dass sie ihn weiterhin als Geisel brauchten. Glücklicherweise kamen sie nicht dazu, ihm wieder Handschellen anzulegen.

Die unterirdische Explosion war ohrenbetäubend. Sie brachte die Schatzkammer heftig zum Beben, wodurch die neun Meter hohe Julius-Cäsar-Statue umfiel und sich mehrere riesige Stalaktiten von der Höhlendecke lösten. Mit einem lauten Krachen brach genau der über Jacks Kopf ab und fiel wie eine Granate herunter. Emma, Günther, Karl und Jürgen blickten rechtzeitig nach oben und wichen aus.

Dieses Ablenkungsmanöver verschaffte Jack genug Zeit, um sich aufzurichten, zum Zug zu rennen und durch die Lücke zwischen dem dritten und vierten Waggon zu springen. Die Kupplung dazwischen überwand er ohne Probleme, sobald er aber auf der anderen Seite des Bahnsteigs landete, geriet er ins Stolpern. Er schielte in Richtung des Tunneleingangs und sah dabei zu, wie tausende Tonnen Fels einstürzten und den Rückweg nach Auschwitz blockierten. Seine Überraschung war gelungen.

Vielleicht sogar ein bisschen zu gut.

Jack lief schnurstracks auf die erstbeste Schneise durch den labyrinthischen Schatz zu und schnappte sich dabei ein schweres Templerschild. Dann setzte um ihn herum ein regelrechter Kugelhagel ein. Schwerfällig hob er das Schild und war erleichtert, zu sehen, dass es die Schüsse mit nichts weiter als ein paar lauten Schlägen und kleineren Dellen abfing. Es brachte ihn innerlich zum Lächeln, dass er soeben zeitgenössisches Gewehrfeuer mit einem 800 Jahre alten Verteidigungsinstrument abgewehrt hatte. Er fühlte sich ein wenig wie Captain America.

Wenn ich mich nur genauso schnell regenerieren könnte.

Im verzweifelten Versuch, seine Verfolger abzuschütteln, schlug Jack einen Haken nach dem anderen. Dann blieb er atemlos stehen und stützte die Hände auf die Knie. Keuchend dachte er fieberhaft über einen Plan nach, aber ihm wollte keiner einfallen. Er war schlicht und ergreifend zu müde, um sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Also suchte er stattdessen nach einem Gegenstand, mit dem er sich verteidigen konnte. Jack drehte sich um und …

»Oh.«

Das war die gleiche Waffensammlung, aus der er den persischen Krummsäbel mitgenommen hatte. Jack griff in den Haufen und nahm die erstbeste Waffe, die ihm in die Hände fiel: ein exquisites japanisches Katana. Hastig zog er das Schwert aus der Scheide. »Wow«, sagte Jack, als er die rasiermesserscharfe Stahlklinge mit offenem Mund anstarrte. Sie war makellos, ein goldverzierter Drache war darin eingelassen. Der Griff des Katanas war ebenso feingliedrig verziert wie die Scheide.

Mit japanischen Waffen kannte sich Jack nicht besonders gut aus, aber er erinnerte sich daran, dass der historisch beste Schwertschmied des Landes ungefähr zur gleichen Zeit wie die Templer aktiv war.

Ob das wohl eines von Masamunes Schwertern ist?

Um die Antwort auf diese Frage zu finden, musste er wohl etwas warten. In der Nähe ertönten Schritte. Obwohl Jack jetzt mehr oder weniger bewaffnet war, wollte er keinen Frontalkampf mit nichts weiter als Schwert und Schild riskieren. Nachdem er ein Stück weitergerannt war, stolperte er über einen zweiten vertrauten Anblick: ein Ozean aus Buchrücken und Papierseiten.

Dann kletterte er unentdeckt auf den Gipfel des Bücherbergs. Bevor er jedoch seinen erfolgreichen Aufstieg feiern konnte, zwang ihn eine Kugelsalve dazu, nach vorn zu hechten. Sorgsam darauf bedacht, nicht in sein eigenes Schwert zu springen, hielt Jack auf sein Schild zu, das er mit dem Emblem nach unten vor sich geworfen hatte. Dann surfte er darauf wie ein waghalsiger Teenager mit Snowboard und nutzte den steinernen Weg zwischen zwei gigantischen Schatzhügeln als Fluchtroute. Um ihn herum stoben Funken aus dem entweihten Templer-Artefakt, und schließlich endete der Weg in einem riesigen Berg aus Münzen.

Seine plötzliche Ankunft überraschte Jürgen. Jack reagierte als Erster und zog die Klinge des Katanas quer über dessen Bauch. Anschließend hastete er am Deutschen vorbei und zerstörte dabei die Barrikade, welche die Münzen seit Jahrhunderten aufgehalten hatte.

Normalerweise konnte ein einfacher Schwertstreich einer Kevlarweste nichts anhaben, aber Jacks Schwert war deutlich mehr als nur ein einfaches Schwert. Davon abgesehen setzte er niedrig an und erwischte ein Stück Haut.

Im Versuch, Jack mit seiner übermenschlichen Zähigkeit zu beeindrucken, versuchte Jürgen, sein Gewehr zu heben, obwohl er gerade tödlich verletzt worden war. Jack reagierte sofort und sprang auf, um die Klinge über den Hals des Söldners zu ziehen.

Mit weit aufgerissenen Augen ließ Jürgen sein Gewehr fallen und hielt sich Hals und Bauch, während aus beiden Wunden ein regelrechter Wasserfall aus Blut strömte. Sobald der Söldner wegtaumelte, schnappte sich Jack seine herumliegende HK416, außerdem nahm er dem zuckenden Mann seine geladene Pistole und zwei Ersatzmagazine ab. Einen Sterbenden zu bestehlen war schändlich und fühlte sich falsch an, Jack kam sich wie ein herzloser Pirat vor.

Wie um ihn für seine verachtenswerte Tat zu bestrafen, kippte der Münzberg nach vorn und begrub ihn unter sich. Glücklicherweise waren die Münzen allerdings leichter als die Bücher, und anders als der Papierorkan verteilten sich die Münzen einfach um seinen Körper herum. Mit angehaltenem Atem blieb er reglos stehen und wartete die Münzlawine widerstandslos ab.

Dann wurde die Welt um ihn herum dunkel.

Ein paar Sekunden später hörte Jack einen Schrei.

Er blieb so lange wie möglich zwischen den Münzen stehen, während er flach die metallische Luft einatmete. Ihm blieb nicht viel Sauerstoff, aber doch genug, um im Goldhaufen abzuwarten, bis sich seine Umgebung wieder beruhigt hatte.

Erst nach mehreren Minuten wagte Jack schließlich, sich zu rühren, und die goldene Decke folgte seinen Bewegungen. Das Knirschen war ohrenbetäubend, wie tausende Sandpapierstücke auf Stahl. Er musste mehrmals anhalten und lauschen, denn er war zu paranoid, einfach so herauszubrechen. Wer wusste schon, was ihn an der Oberfläche erwartete.

Seine rechte Gesichtshälfte tauchte als Erstes aus dem Gold auf.

Emmas Stimme hallte von den Wänden der Kammer, Günther rief ihr irgendetwas von weiter weg zu. Sie suchten immer noch nach Jack. Seine Entscheidung, sich so lange wie möglich zu verstecken, zahlte sich aus. Offensichtlich hatten sie keine Ahnung, wo er steckte.

Aber das wird nicht so bleiben, dachte Jack, der nun ganz aus dem Meer aus Münzen auftauchte. Irgendwann würden sie auf ihn stoßen.

Er grub sein Katana und Gewehr aus und streckte sich. Als er sich umsah, fiel sein Blick auf den blutbesudelten Söldner gut neun Meter zu seiner Linken. Jürgen lag in einer wachsenden roten Lache auf der Seite. Jack steckte die Klinge in die Scheide zurück und klemmte sie unter seinen Gürtel. Während er das Gewehr schulterte, wich er dem dickflüssigen Blut aus und betrachtete die leblosen Augen des Deutschen. Immerhin war er schnell gestorben.

Er bedauerte Jürgens Tod, und zwar nicht, weil er dafür verantwortlich war, sondern weil das allgemein vermeidbar gewesen wäre. Tatsächlich war allein Emma die Schuldige, obwohl ihr diese Männer bereitwillig in die Hölle gefolgt waren. Solche Leute kannten das Risiko.

Hör auf, die Bösen zu bemitleiden!

Emmas und Günthers Stimmen wurden wieder lauter, aber diesmal schienen sie irgendwo aus der Nähe zu kommen. Jack beeilte sich damit, Jürgens Leiche abzusuchen, und vermied dabei weitestgehend, dessen starres Gesicht anzusehen. Nachdem Jack keine zusätzlichen Magazine für das Gewehr gefunden hatte, murrte er.

»Tut mir leid, Kumpel«, sagte Jack beim Aufstehen. »Wirklich.«

Er wollte dem Mann gerade den Rucksack abnehmen, als ihn ein Schrei ganz in der Nähe innehalten ließ. Seufzend erhob sich Jack. Er wusste genau, was getan werden musste. Emma würde nicht einfach die Waffen hinschmeißen und sich ergeben. Sie und die Überbleibsel ihres Teams waren darauf vorbereitet, bis zum bitteren Ende für ihr Ziel zu kämpfen und, falls nötig, heute noch hier zu sterben.

 

Emmas Welt stürzte langsam in sich zusammen. Jürgen war tot, ermordet von dem Mann, den sie gleich am Anfang ihrer Reise hätte unschädlich machen sollen. Jacks Sprengladung hatte den Tunneleingang zum Einsturz gebracht und sämtliche Kommunikationskanäle zur Oberfläche gekappt. Soweit sie wusste, gab es keinen anderen Weg zurück nach oben, außer den Schienen ins Ungewisse zu folgen.

In seinem Tagebuch erwähnte Himmler einen Geheimausgang irgendwo auf dem Weg zum Eulengebirge, war mit seiner Beschreibung aber bewusst vage geblieben, damit der Ort nicht einfach gefunden werden konnte. Andernfalls wäre dieser Ort, Emmas Schatz, wohl schon längst entdeckt worden.

Emmas Eltern waren wohlhabend. Und trotz ihrer Familiengeschichte hatten sie keinerlei Interesse daran, den Zug ausfindig zu machen. Als sie noch jung war, hatte sie aus reiner kindlicher Neugier des Öfteren nach dem Schatz gefragt, aber ihre Eltern hatten immer nur mit dem Kopf geschüttelt. Für sie war es Irrsinn, all ihr Vermögen nur in der Hoffnung auszugeben, vielleicht noch mehr desselben zu finden. Für Emma war es ein großes Glück, ein Segen sogar, in einem so wohlhabenden Elternhaus aufzuwachsen, aber jetzt gerade fühlte sie sich weder glücklich noch gesegnet. Sie fühlte sich, als würde ein Fluch auf ihr lasten.

Ein einziger Mensch vermochte es, all die Jahre der Vorbereitung in ein paar Stunden zu zerstören. War ihr Plan so schlecht oder war Jack Reilly so gut?

Emma war nicht narzisstisch veranlagt und konnte durchaus zugeben, dass beides vielleicht zutraf. Sie hatten den Amerikaner von Anfang an massiv unterschätzt, als sie ihn als Geisel mitgenommen hatten. Emma hätte stattdessen einen der kleinlauten Zivilisten mitnehmen können, aber Jacks Fachwissen hatte sie dazu veranlasst, lieber ihn auszuwählen. Seine Anwesenheit hatte ihr Urteilsvermögen stark getrübt – oder besser gesagt die Aussicht, einen Ex-Soldaten einer Spezialeinheit wie einen Hund an der Leine zu führen.

Vielleicht geriet ihr Ego langsam außer Kontrolle? Sie musste endlich aufhören zu glauben, dass alles wieder in Ordnung käme. Sie musste Jack endlich als ernsthafte Gefahr anerkennen – denn genau das war er. Allerdings bedeutete das nicht, dass sie keinen Plan hatte, ihn unschädlich zu machen.

»Formiert euch neu!«, schrie sie auf Deutsch. »Zurück zum Zug, sofort!«