Seit Emmas Rufen waren zehn Minuten vergangen. Seitdem war es unheimlich still in der Schatzkammer geworden, was Jack einen Schauer über den Rücken jagte. Da hatte er die Schüsse und Schreie bevorzugt. Aber zumindest wüsste er so, wo sich die anderen aufhielten.
»Was habt ihr vor?«, flüsterte Jack und versuchte, sich in die deutschen Extremisten hineinzuversetzen. Das Trio erinnerte ihn an ein paar Kakerlaken, die sich unter dem Kühlschrank verkrochen, sobald in der Küche das Licht anging.
Und ich bin der Kammerjäger.
Jack ging geradewegs auf den geheimen Tunnelausgang zu – der, vor dem der Zug stand. Kurz vor dem Durchgang blieb er stehen und duckte sich hinter einer wunderschön gearbeiteten, sitzenden Statue der indischen Gottheit Shiva. Dann ging Jack auf ein Knie in Position und nahm sein Gewehr in den Anschlag, während er wartete, bis jemand auftauchte. Er hatte vor, jeden sofort zu erschießen. Er würde keine Gefangenen machen, über diesen Punkt war er hinaus. Jack fühlte sich nicht wohl dabei, so bis ans Äußerste zu gehen, aber realistisch betrachtet war das seine einzige Option.
Außerdem war der Plan narrensicher. Es gab keinen Weg zurück nach Auschwitz. Der einzige Weg aus der Schatzkammer führte durch die Passage zur Templerstätte, aber selbst die verfügte über keinen brauchbaren Ausgang.
Außer vielleicht Tür Nummer drei.
Das war der einzige Weg, den er noch ausprobieren musste.
Mit halbwegs anständiger Kletterausrüstung gelänge es Jack eventuell, die Felswand an der Stelle, wo er durch die Gleise gefallen war, nach oben zu klettern. Ein schwieriger Aufstieg – das zog er nur als letzte Möglichkeit in Erwägung. Dennoch hatte er das Gefühl, dass zwischen der Schatzkammer und der Stelle, wo die Schienen aufgehört hatten, noch anderen Ausgänge lagen. Die Nazis mochten vielleicht bestialisch und gefühllos gewesen sein, aber sie waren herausragende Ingenieure, was das Tunnelsystem unterhalb von Auschwitz zur Genüge bewies. Keine weiteren Zugänge einzubauen, wäre ein Anfängerfehler.
Während er den Tunnel beäugte, dachte er einmal mehr kurz daran, einfach abzuhauen. Falls hier ein zweiter Ausgang in der Nähe wäre, könnte er zumindest Hilfe holen und mit Verstärkung zurückkehren.
»Komm schon, Jack«, sagte er und schüttelte den Kopf, »du weißt genau, dass du das nicht bringen kannst.«
Er würde Emma, Günther und Karl nicht einfach so entkommen lassen. Wenn er das zuließe, bekäme Emma am Ende vielleicht ihren Willen. Schlimmstenfalls würde ein neues Deutsches Reich mit einer modernisierten Schutzstaffel an die Macht kommen, finanziert von einem schier endlosen Vermögen. Allerdings war Emma gerissen, sie würde nicht einfach so versuchen, die Regierung zu stürzen. Sie würde den Schatz dazu nutzen, diese von innen heraus zu untergraben und im Geheimen die Fäden zu ziehen. Gesetze und Vorschriften waren die letzte Verteidigungslinie der heutigen Regierung. Wenn man diese manipulierte, gab es keine legalen Grenzen mehr.
Das machte Jack Angst.
Er war ein Soldat im Ruhestand, kein Politiker. Er hatte für seine Ideale gekämpft, nicht für irgendeine große Gegenleistung. Wie auch jetzt war es damals Jacks einziges Ziel gewesen, eine der schlimmsten Mächte der Welt an der Rückkehr zu hindern.
Und überleben würde ich auch ganz gern.
Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung in der Nähe des Zugmotors. Es war schwierig, die verschwommene Silhouette zu identifizieren, aber nach einigen Sekunden konnte er anhand der Form feststellen, dass es Emma war, nicht einer ihrer männlichen Kollegen.
Würde Jack jetzt aus der Deckung gehen und schießen, würde er sicher treffen, sich dabei aber in eine gefährliche Situation begeben, denn dann wäre er den beiden anderen frei laufenden Schützen schutzlos ausgeliefert.
Emma tigerte frustriert auf und ab. Irgendwann blieb sie stehen und blickte in die andere Richtung. Sie starrte irgendetwas ganz vorne in der Schatzkammer an. Die ganze Szene kam Jack faul vor – zu gewollt. Sie wollte Jack ködern!
»Tja«, flüsterte er, »Ich enttäusche dich ja nur ungern.«
Aber genau das tat er, indem er sich dazu zwang, weiterhin versteckt zu bleiben. Endlich, nach 90 schier endlosen Sekunden, drehte sich Emma um und sprach mit irgendjemandem außerhalb seines Sichtfelds. Jacks Vorsicht hatte sich als begründet erwiesen. Hätte er voreilig gehandelt, statt weiter wachsam zu bleiben, wäre er jetzt tot.
Hmmm.
Er dachte über seinen nächsten Schritt nach.
Als er sich schließlich umwandte, seinen Kopf gegen die Shiva-Statue lehnte und nach oben blickte, sah er etwas, das ihm Hoffnung gab. Die Passage, die zurück zum Tempel führte, war geradeso sichtbar. Wenn es ihm gelänge, Emma und die anderen in die Tunnel zu locken, müssten sie nach seinen Regeln spielen. Obwohl Jack nicht viel Zeit darin verbracht hatte, glaubte er, diese besser als seine Gegner zu kennen. In dieser Zwickmühle wäre das ein durchaus vielversprechender Plan. Es wäre deutlich schlimmer, den nächsten Ausgang zu betreten, ohne zu wissen, was ihn darin erwartete.
Ein zweiter Tunneleinsturz vielleicht? Schlangen und Bären? Nach acht Jahrzehnten ohne eine Menschenseele konnte das alles sein.
Geduckt rannte Jack die Steigung hinauf, so schnell ihm das ohne Lärm zu machen gelang. Neben sieben römischen, mit aufwendigen Schnitzereien verzierten Streitwägen und einer Reihe von zwei Dutzend chinesischen Terrakotta-Soldaten schlug er einen Haken nach links. Anschließend, nach vier wunderschön erhaltenen Marmorstatuen, bog er nach rechts ab.
Er schaffte es noch auf den höchstgelegenen Gehweg, bevor er mit einem Fuß leicht abrutschte und eine Handvoll Steine löste. Sofort brach ein Sturm aus Kugeln über ihn herein, während er sich flach auf den Boden drückte. Glücklicherweise gab es ausreichend Deckung, sodass er schnell vorwärts robben konnte. Als er am Eingang des Korridors ankam, hielt er inne. Die Schüsse verstummten zeitgleich. Er konnte einfach weiterkriechen, aber er musste seine Feinde dazu bringen, ihm zu folgen.
»Habt mich verfehlt!«, schrie er und sprang auf. Dann winkte er Emma zu, die er etwas versetzt hinter dem Zugmotor ausmachen konnte.
»Kommt und holt mich, ihr Arschlöcher!«
Noch mehr Kugeln flogen ihm entgegen, aber Jack hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Er knipste seine Gewehrlampe an und rannte, so schnell er konnte, durch die Passage. Als Nächstes erwartete ihn die riesige Wendeltreppe, die hinter den Wasserfällen hindurchführte. Der von den Spritzern rutschige Boden zwang Jack dazu, langsamer zu gehen. Während er sich hinter den Wasserfällen hindurchzwängte, verlor er den Eingang regelmäßig aus den Augen. Wann immer er wieder ins Freie trat, zielte er mit seiner Waffe auf den Tunnel, wobei er jedes Mal erwartete, von einer Gewehrmündung begrüßt zu werden.
Vor dem letzten Wasserfall blieb er schlitternd stehen. Emma, Günther und Karl tauchten aus der Passage auf und machten sich an den Aufstieg. Zwischen Jack und dem Tunnel eine Ebene darunter lag ein gähnender Abgrund von ungefähr sechs Metern Durchmesser. Solange er hinter der undurchsichtigen Wasserwand versteckt blieb, wäre er in Sicherheit, zumindest, bis sie sich ihm näherten.
»Vor 700 Jahren wäre das deutlich einfacher gewesen.«
Schlimmstenfalls hätte er damals gegen Pfeil und Bogen kämpfen müssen. Davon abgesehen wäre jeder andere Angriff aus nächster Nähe erfolgt, was für Jack kein Problem gewesen wäre. Kugeln konnte man allerdings nicht so leicht ausweichen wie Pfeilen oder einem Schwerthieb.
Er überprüfte seine Gewehrmunition und stellte fest, dass er nur noch neun Schuss übrig hatte. Glücklicherweise hatte er aber noch die Glock und ein paar Ersatzmagazine. Er hatte die Pistole kein einziges Mal benutzt, seit er sie Jürgen abgenommen hatte.
Als er sich ein Stück nach links in Richtung Ausgang bewegte, erspähte er Emma, die gerade hinter dem obersten Wasserfall verschwand. Von Günther und Karl war nichts zu sehen. Er nahm an, die beiden waren bereits auf dem Weg zu ihm, während er den Schutz des Wassers langsam verließ.
»Okay …«
Jack nahm sein Gewehr in den Anschlag und trat nach links, dann zielte er auf die andere Seite des Wasserfalls. Vorsichtig kletterte er seitlich hinunter. Auf halbem Weg sah er plötzlich eine Bewegung, woraufhin er dreimal den Abzug drückte.
Emma. Und er hatte sie knapp verfehlt.
Weiter unten auf der Treppe tauchten zwei weitere Gestalten hinter dem nächsten Wasserfall auf. Günther und Karl hatten Emma zum zweiten Mal als Köder benutzt und den ersten Wasserfall unbemerkt passiert. Jack nahm das Magazin heraus, anschließend warf er das leere Gewehr in die reißenden Fluten.
Er zog die Pistole, hob die Arme vor sich und wich in den engen Durchgang zurück, als zwei Projektile in seiner Weste landeten. Der heftige Einschlag und der rutschige Boden brachten Jack ins Stolpern und er stürzte die enge Treppe hinunter, wobei jede Prellung, jeder blaue Fleck seines vorherigen Treppensturzes wieder neu aufflammte. Zum Glück war die Treppe hier nicht sehr steil, und ein paar Umdrehungen später blieb er schließlich liegen. Zügig richtete sich Jack auf und hielt sich die Rippen.
»Autsch.«
Nachdem er die taktische Lampe an seiner Glock angeknipst hatte, lief er schwer atmend weiter. Sein linker Rippenbogen pochte schmerzhaft an der Stelle, wo ihn die Schüsse in der Weste getroffen hatten. Es fühlte sich so an, als hätte ihn ein Esel in den Bauch getreten. Er war zu sehr auf die Schmerzen konzentriert, um zu bemerken, dass er soeben das runde, dreistöckige Lager der Templer betreten hatte. Der Tunnel geradeaus führte zurück zur Gebetsstätte, der Weg zu seiner Rechten zur abgerissenen Hängebrücke – diese Route wurde jedoch vermutlich noch immer von der massiven rechteckigen Steinplatte blockiert.
Seine einzige Option war der linke Tunnel, Tür Nummer drei, von der er noch immer nicht wusste, wohin sie führte. Jack richtete den Lichtstrahl darauf, sah aber nichts als Dunkelheit. Hätte er nur ein wenig mehr Zeit, würde er kurz nachsehen, wo der Gang hinführte, bevor er sich hineinbegab. Nur hatte er die leider nicht.
Eine sanfte Brise wehte ihm ins Gesicht. Der Luftzug kam aus dem linken Tunnel, strömte durch den Raum und zurück in die zylindrische Kammer mit den Wasserfällen.
Das brachte ihn auf eine Idee.
Jack holsterte die Pistole und schaltete die rechtwinklige Brustlampe an. Dann sammelte er so viel Stroh wie möglich auf und formte daraus vor dem Eingang der Passage einen Haufen. Anschließend hob er vorsichtig ein verkohltes Stuhlbein auf und steckte es tief in den frischen Strohhügel.
Er kniete sich hin und fachte behutsam ein Feuer an, was ihm ohne Probleme gelang. Wie erhofft zog der Rauch in den Durchgang. Daraufhin zog er wieder seine Pistole und wich zurück, während er die Lampe wieder ausschaltete. Das wachsende Feuer bot ihm ausreichend Licht. Jack stieß gegen einen Tisch in der Nähe und ging dahinter in Deckung. Der würde zwar keine Kugeln aufhalten, aber wenigstens seine exakte Position verschleiern.
Das einzige Problematische an seinem Plan war die Zeit . Wer die Zeit auf seiner Seite hatte, gewann immer. Falls Emma und die anderen zu lange brauchten, um hierher zu gelangen, würde das Feuer ausgehen und der Rauch sich verflüchtigen. Dennoch musste Jack wenigstens versuchen, die Stellung zu halten. Er hob die Glock und stützte den Lauf auf der gekippten Tischkante ab, um genauer zu zielen. Ohne dieses improvisierte Stativ war er sich nicht sicher, ob er in seinem erschöpften Zustand irgendetwas treffen würde. Während er die Augen im Feuerschein und dem giftigen Rauch zusammenkniff, glaubte er, auf der anderen Seite der Flammen eine Bewegung auszumachen. Langsam drückte er den Abzug bis zum ersten Widerstand durch und hielt inne, bis er die Bestätigung für seine Vermutung hatte. Ein Fehlschuss würde ihn nur vorzeitig verraten.
Warte, bis die Schusslinie frei ist, ermahnte er sich.
Immerhin könnten seine Gegner das Feuer nicht erwidern, solange sie im beengten Tunnel waren – nicht, wenn ihnen etwas an ihren Trommelfellen lag. Das war eine der realistischen Gefahren, die in Filmen nur selten erwähnt wurden. Selbst jetzt schmerzte Jacks Kopf unerträglich von den Schüssen, die er unterirdisch abgegeben hatte, und von den Schlägen, die sein Schädel abbekommen hatte.
Und dann wurde seine Deckung plötzlich durch halbautomatisches Gewehrfeuer in Schutt und Asche gelegt. Als er sich von der Barriere wegrollte, flogen ihm Holzsplitter entgegen. Wie durch ein Wunder wurde Jack von keiner einzigen Kugel getroffen, während er wie ein Wurm über den Steinboden kroch. Er zog sich in eine ihm unbekannte Passage zurück und richtete sich schwankend auf. Dann tat er etwas extrem Unüberlegtes: Er drehte sich um und schoss. Der Knall war, wie erwartet, wortwörtlich ohrenbetäubend. Jedes Mal, wenn er den Abzug drückte, fühlte es sich an, als hätte ihm Mike Tyson einen Schlag gegen den Kopf verpasst. Der Schmerz war fast unerträglich.
Aber zu sterben wäre schlimmer, dachte Jack und biss die Zähne zusammen.
Viel schlimmer.