Wie Jack zuvor gingen die Schmidts hinter einem umgekippten Tisch in Deckung. Beide hielten ihre Waffen auf den Tunneleingang gerichtet, wo sie entweder Karl oder Jack erwarteten. Günther bezweifelte, dass beide Männer zurückkehren würden. Karl hatte seine Reise in dem Wissen angetreten, seine Kameraden vielleicht nie wiederzusehen.
»Ich mach euch stolz«, hatte er gesagt, bevor er sich umgedreht hatte und losmarschiert war.
Das Feuer links von Emma und Günther war nun erloschen. Ein kluger Schachzug von Jack, er hatte schnell reagiert. Zum Pech des Amerikaners waren sie ihm bereits einen Schritt voraus. Zu ihren Füßen lagen vier kleine, zerrissene Stoffbündel, die sie als Ohrstöpsel benutzt hatten, um die Schüsse in den beengten unterirdischen Gängen zu dämpfen. Der Knall konnte damit zwar nicht vollständig unterdrückt werden, aber es war ausreichend.
Emma und Günther warteten zehn weitere Minuten auf ihren Freund. Dann stand Emma auf und lief aufgebracht um den Tisch herum.
»Emma!«, zischte Günther.
Sie warf ihrem Bruder einen giftigen Blick zu und brachte ihn damit ohne ein Wort zum Schweigen. Dieser biss sich auf die Unterlippe und folgte ihr, während er den Bereich hinter ihnen im Blick behielt. Der Amerikaner entpuppte sich als gerissen. Seine Fähigkeit, vorauszuplanen, und sein Unwille, zu sterben, machten den sonst so stoischen Söldner unruhig, was sonst nur den Wenigsten gelang.
Er respektierte Jack.
»Wir müssen sehr vorsichtig sein«, sagte er ruhig.
Emma schenkte ihm keine Beachtung. Die Wut hatte sie völlig vereinnahmt. Sie war einzig und allein auf die Vernichtung des Mannes konzentriert, der ihre jahrelange Planung mit einem Schlag zunichtegemacht hatte. Sicher, Jack Reilly musste sterben, Günther machte sich allerdings Sorgen, dass die blinde Wut seiner Schwester sie dabei ebenfalls mit ins Grab reißen würde. Er liebte Emma, aber sie war eine erwachsene Frau und traf ihre eigenen Entscheidungen. Günther konnte sie nur begrenzt vor sich selbst beschützen. Allerdings …
Tut mir leid, Emma, dachte er. Wenn’s drauf ankommt, ist mir mein eigenes Überleben wichtiger als Jacks Tod.
Der Weg war eben und geradlinig, ohne die kleinste Steigung, eine unfassbar präzise Konstruktion. Schweigend liefen die beiden weiter, bis sie das Rauschen von Wasser hörten. Die Hängebrücke und der gewaltige Abgrund boten einen atemberaubenden Anblick. Vor allem aber war alles unheimlich still, was Günther sehr beunruhigte.
Von Karl und Jack fehlte jede Spur.
»Glaubst du, sie sind drübergelaufen?«
Ohne zu antworten und ohne die Stabilität der Brücke genauer zu untersuchen, ging Emma ganz in Gedanken vertieft weiter. Günther wartete, bis seine Schwester die Hälfte überquert hatte, bevor er ihr folgte. Beim Gehen achtete er darauf, genau dorthin zu treten, wo sie vorher gelaufen war. Nach ein paar Metern bemerkte Günther eine beschädigte Stelle im Geländer zu seiner Linken, die die Stabilität der Brücke jedoch kein bisschen zu beeinträchtigen schien. Er blieb nicht lange genug stehen, um nachzusehen, ob der Schaden erst vor Kurzem entstanden war.
Je näher sie der anderen Seite kam, desto schneller bewegte sich Emma. Die Brücke war stabil und sicher. Im Licht seiner Waffe sah Günther, wie Emma zügig und ohne sich umzudrehen den Tunnel betrat.
Bevor er ihr nachlief, hielt er inne, leuchtete über den Abgrund hinweg zur anderen Seite hinter sich und wartete mit angehaltenem Atem. Als nach einer Weile niemand auftauchte, atmete er wieder aus, drehte sich um und verschwand in den Tunnel.
Jack blieb versteckt, bis Günther außer Sichtweite war. Nachdem er in den zweiten Stock des Tempels geklettert war, rannte er in den kreisrunden Schlafsaal und war erleichtert, diesen leer vorzufinden. Wie Jack erwartet hatte, sahen Emma und ihr Bruder zunächst nach Karl. Falls er die falsche Entscheidung getroffen hatte, würden sie vermutlich stattdessen zur Schatzkammer zurückkehren.
Unglücklicherweise war Jack nun mit seinen Feinden gleichauf: Er hatte keine Ahnung, was vor ihm lag. Sicher, zum Zug zurückzukehren, war eine Möglichkeit. Dabei könnte er den Schmidts eine Falle stellen und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, entschied er sich, seinem Bauchgefühl zu folgen, und lief zurück zur Hängebrücke.
Günther war gerade erst in den nächsten Tunnel verschwunden, aber Jack musste sich trotzdem ruhig verhalten und die Augen offen halten. Falls sie erwarteten, verfolgt zu werden, konnte sich das Blatt schnell wenden.
Der Weg über die Brücke gestaltete sich zunächst problemlos, zumindest bis Jack an die Stelle kam, die er im Gerangel mit Karl beschädigt hatte. Sobald er links auftrat, neigte sich die Brücke gefährlich in dieselbe Richtung und sein Knie gab nach. Jack konnte sich fangen, aber seine Pistole fiel in die reißende Strömung.
»Tja, scheiße …«, fluchte er und sah dabei zu, wie sich die beleuchtete Waffe ein paar Mal überschlug, bevor sie mit einem letzten Platsch ganz verschwand.
Da sich seine einzig effektive Verteidigungsmöglichkeit gerade in Fischfutter verwandelt hatte, zog Jack den deutschen Grabendolch aus der Scheide, den er am Anfang seiner Reise gefunden hatte. Das war die einzige Waffe, die er noch hatte. Ohne Licht tastete Jack seine Kleidung von oben bis unten ab und spürte irgendetwas in den Westentaschen. Dankbar zog er sechs Knicklichter heraus. Er nahm eines davon, brach es und schüttelte kräftig. Der orangefarbene Schein der filzstiftgroßen Stange beruhigte Jacks aufkeimende Angst ein wenig. Trotzdem ging er langsam und testete jedes Brett auf eventuelle Schwachstellen, bevor er darauf trat.
Sobald er die andere Seite erreicht hatte, kniete sich Jack vor den Tunneleingang und wartete ab. Obwohl er die Leuchtstange weit vor sich hielt, konnte er rein gar nichts erkennen, was gut war, denn das hieß, er war allein – oder zumindest hoffte er das.
Dann erhob er sich und nahm das Knicklicht in die gleiche Hand, in der er auch das Messer hielt. Als Nächstes streckte er sich nach der Decke aus, die er ungefähr 30 Zentimeter über seinem Kopf ertastete. Während er zur Orientierung mit der leeren Hand an der Decke entlangfuhr, schlich er behutsam weiter. Um das Licht weitestgehend zu verstecken, umklammerte er den Messergriff und die Leuchtstange so fest wie möglich. Ganz ohne Waffe war Jack entschieden im Nachteil, also musste er auf Schleichen statt auf Stärke setzen. Er folgte den Stimmen, die er vor sich hörte. Ein dutzend Schritte später tauchte er aus dem Tunnel auf und ging schnell hinter einem dicken Stalaktiten am Rand einer weiteren riesigen Höhle in Deckung. Nachdem er das Knicklicht in seiner Tasche verstaut hatte, lehnte er sich nach vorne und erspähte einen weiteren Ring aus orangefarbener Chemolumineszenz in der Ferne. Die Lichter waren mittig im Raum verteilt, in dem Emma und Günther standen.
Jack schätzte den Durchmesser der Kaverne auf 60 bis 90 Meter. Der Boden war überwiegend glatt, bis auf einige riesige, natürliche Säulen und ein paar kleine Vertiefungen, die mit kristallinem Wasser gefüllt waren – der Lebenssaft der Felsformationen.
Die Schmidts hatten ihm den Rücken zugewandt und richteten ihre Taschenlampen auf einen Klumpen am Boden. Emma kniete darüber und hielt sich die Hand vor den Mund, mit der anderen fasste sie sich an die Brust. Eine emotionale Geste, die völlig untypisch für sie wirkte. Seit er Emma zum ersten Mal getroffen hatte, konnte er sich nicht an viele Gefühlsregungen ihrerseits erinnern. Was auch immer sie entdeckt hatten, es musste atemberaubend sein.
Jack wollte ebenfalls einen Blick darauf erhaschen.
Es gab nicht viel, was einem herzlosen Menschen wie Emma Schmidt Emotionen entlocken konnte. Wenn es sie aber sogar auf die Knie zwang, dann würde es Jack garantiert komplett von den Socken hauen. Selbst Günther schien fassungslos. Im Anbetracht ihrer Familiengeschichte und Motivationen nahm Jack an, dass es irgendwie mit den Nationalsozialisten zusammenhing.
Er wartete 15 geschlagene Minuten, bevor Emma und Günther den Rückweg antraten. Mit weit aufgerissenen Augen suchte Jack nach einem geeigneten Versteck. Da er keine andere Möglichkeit sah, klammerte er sich an den Stalaktiten fest und hoffte, nicht entdeckt zu werden. Emma hatte zwar keine Waffe bei sich, aber Günther. Er hielt das Gewehr noch immer einsatzbereit in den Händen, während er sich pausenlos umsah.
Jack konnte es nicht riskieren.
Mit der Säule zwischen sich und den Schmidts schlich Jack an den Rand und zuckte bei jedem Schritt zusammen. Als Emma und Günther ihn passierten, kamen sie bis auf drei Meter an sein Versteck heran. Der Stalaktit reichte gerade so aus, um ihn zu verstecken. Außerdem hatte Jack ihnen keinen Anlass gegeben, sich von ihm verfolgt zu fühlen.
Als sie wieder den Tunnel betraten, der zurück zu den Templerhöhlen führte, wischte sich Jack den Schweiß von den Brauen und hastete zur Raummitte. Die Leuchtstäbe waren noch nicht aufgebraucht, aber das Licht war gar nicht das Problem. Das Problem war eher, zu begreifen, was genau das dort auf dem Boden war, oder viel eher, wer das war.
Wie vorher Emma kniete sich auch Jack nun hin, um die Sache genauer zu untersuchen.
Das Erste, was ihm auffiel, war die Uniform des Mannes. Trotz des Schmutzes von acht Jahrzehnten erkannte Jack diesen als einen hochrangigen Offizier der Nationalsozialisten. Die beiden im Kragen eingestickten Insignien verrieten schließlich seine Identität.
Eine Sache hatten die Historiker falsch überliefert: Er hatte sich nicht umgebracht, zumindest nicht in britischer Gefangenschaft, wie bisher angenommen.
»Heinrich Himmler.«
Hier lag der Reichsführer der Schutzstaffel in Fleisch und Blut vor ihm – oder eher, was von ihm noch übrig war. Deswegen war Emma so ergriffen gewesen. Sie idealisierte diesen Mann noch immer. Der Leiche zufolge nahm Jack an, er war den Alliierten entkommen und dann hier unten gestorben, vielleicht sogar aus eigenem Willen. Jack nahm ihn genauer unter die Lupe, konnte ihn im Dämmerlicht aber nur teilweise sehen. Der Anblick war schwer zu verarbeiten, und er wusste, das dürfte für Emma kaum zu verkraften gewesen sein.
Langsam fügten sich die Puzzleteile in Jacks Kopf zusammen, denn nun erinnerte er sich an einen Artikel, den er einst über die professionellen Doubles der Nazikommandanten gelesen hatte. Die Doppelgänger mussten alles über ihre Originale gewusst haben, und Jack war sich sicher, dass deutsche Spione auf der Seite der Alliierten Himmler geholfen hatten. Damals waren sie überall. Es war gut möglich, dass die Alliierten lediglich Himmlers Doppelgänger erwischt hatten, der sie ablenkte, während sich der echte Himmler aus dem Staub machte.
»Und dann bist du hierhergekommen.« Jack blickte sich um und dachte an alles, was er seit Betreten des Todesblocks gesehen hatte.
Medizinische Aufzeichnungen waren leicht zu fälschen. Digitales gab es damals nicht, und gedruckte Dokumente konnte man leicht austauschen. Vielleicht hatte man das schon einige Jahre vor Kriegsende bewerkstelligt, aber Jack konnte nur raten.
Bedeutete das, Hitler hatte vielleicht ebenfalls überlebt? Sein Tod war schließlich höchst verdächtig gewesen. Wie Himmler hatte er sich das Leben genommen, aber da die Echtheit seines Schädels von einigen nach wie vor angezweifelt wurde und die Obduktionsberichte durchaus gefälscht sein konnten, war dies kein Indiz. Es gab sogar Theorien, die besagten, Hitler oder sein Double wären ermordet worden, und man hätte den Tod als Suizid inszeniert.
Es ergab Sinn, dass Himmler hierhergekommen war. Hier gab es genügend Vorräte und nur wenige wussten von der Existenz des Bunkers. Da Himmler fast so viel Leid und Schmerz wie der Führer persönlich über die Welt gebracht hatte und daher ebenso verhasst war, brauchte er ein sicheres Versteck. Nur wenige hatten sich je eine solche Machtposition wie Himmler sichern können. Tatsächlich fiel Jack nur ein Vergleich ein: Erwin Rommel, der Generalfeldmarschall und Befehlshaber der deutschen Truppen in Nordafrika.
Himmler war hierher zurückgekehrt, weil ihm irgendetwas am Herzen lag.
»Der Schatz«, flüsterte Jack und richtete sich dabei auf, ohne die Leiche aus den Augen zu lassen. »Du bist wegen des Schatzes zurückgekommen, stimmt’s? Vermutlich sofort, nachdem sich Adolf die Kugel gegeben hat.«
Falls das wirklich so passiert ist.
Der Gedanke daran, dass es vielleicht eine Welt gab, in der Männer wie Hitler, Himmler und Mengele allesamt entkommen waren, verursachte ihm Übelkeit. Der Naziarzt war den Behörden – ja, selbst dem Mossad – jahrelang entkommen. Zum Glück sah es für die Menschheit so aus, als wären die anderen beiden Verbrecher kurz vor oder nach Kriegsende gestorben. Nur, weil Himmler entkommen war, hieß das noch lange nicht, dass Hitler es auch geschafft hatte.
Jack blinzelte und versuchte, sich wieder zu konzentrieren. Er durfte sich seiner Paranoia nicht hingeben, außerdem musste er Emma und Günther einholen, bevor sie ebenfalls entkamen. Ihnen zu folgen wäre ebenso einfach wie gefährlich, vielleicht sogar ein wenig naiv. Da sie ihn aus den Augen verloren hatten, nahm Jack nicht an, dass sie nach ihm auf der Jagd waren. Mit Sicherheit waren sie vorsichtig, aber sie würden bestimmt nicht um jeden Preis versuchen, ihn zu finden und zu töten.
Zumindest hoffte er das.
Jack war erschöpft. Er brauchte eine Pause, um wieder zu Kräften zu kommen, kämpfte sich aber trotzdem weiter. Die Natur würde ihm schon den Weg weisen. An der gegenüberliegenden Höhlenwand befand sich ein hoher Durchgang, der so schmal war, dass er anfangs Schwierigkeiten hatte, sich hineinzuquetschen. Seine Weste erschwerte ihm das Vorhaben zusätzlich, aber sobald er einmal drin war, wurde die Passage so breit, dass er sich frei bewegen konnte.
Im dämmrigen Licht seines Leuchtstabes blickte Jack hinauf. Die Decke verschwand hoch oben in der Finsternis, der Boden unter ihm war uneben und schwierig zu beschreiten. Seiner Einschätzung nach – das hatte Bull ihm beigebracht – wurde dieser Pfad regelmäßig benutzt, als noch mehr Leute regelmäßig durch diese Höhlen marschierten.
Jack nahm an, er war fast einen Kilometer weit gelaufen, als irgendetwas die Regelmäßigkeit des schmalen Tunnelstreifens unterbrach. Die Höhlendecke fiel so weit ab, dass der Weg vor ihm nur noch knapp unter einem Meter hoch war. Murrend steckte Jack den Grabendolch wieder in die Scheide und ging auf Hände und Knie, um gut sechs Meter weit vorwärtszurobben, bis er schließlich etwas Vertrautes erblickte. Als er den Kopf hervorstreckte, erkannte er die Schienen. Dann drehte er sich nach rechts und grinste breit.
Dort standen die altbekannten Draisinen. Freudestrahlend sah er, dass er zum Bahnhof zurückgefunden hatte. Jack richtete sich auf und humpelte um zwei Waggons herum auf den Rand des Bahnsteigs zu. Dort waren auch die beiden Leichen, die sie vorher entdeckt hatten.
Diesen Anblick wollte Jack weitestgehend vermeiden.
Als er die Höhle wieder betrat, sah er die Schubkarre, in der Emma und er die Goldmünze gefunden hatten. Es fühlte sich an, als wäre das eine ganze Ewigkeit her. Jack beäugte die Lukentür und dachte darüber nach, noch einmal hineinzugehen, um sich an der Waffenkammer zu bedienen, zweifelte aber daran, dass er nach 80 Jahren noch irgendetwas finden würde, das funktionierte. Stattdessen zog er seinen Dolch aus der Scheide und sah ihn an.
»Jetzt sind’s nur noch wir zwei, kleiner Freund.«
Jack steckte sich den Dolch nicht etwa hinten in den Gürtel, sondern in die Scheide, in der vorher Karls taktisches Messer untergebracht war. Anschließend bewegte er sich auf die Vorderseite des Bahnsteigs zu, setzte sich hin und rutschte so elegant wie möglich nach unten.
Mit dem Knicklicht in der Hand machte er sich dann auf den Weg, um die Geschwister Schmidt zum, wie er hoffte, letzten Mal zu konfrontieren. Nach Hause zu fliegen und den Grizzly zu umarmen, erschien ihm gerade einladender.