Kapitel 21

 

Jack rannte um sein Leben. Er hatte genug vom Kämpfen, größtenteils, weil er nur mit einem Messer bewaffnet vor einer pistolenschwingenden Wahnsinnigen flüchtete. Emma kreischte wie eine Todesfee und versuchte verzweifelt, ihm in den Rücken zu schießen. Glücklicherweise hinderte sie ihr Gefühlsausbruch am akkuraten Zielen. Dass sie ihm vor einer knappen Minute die Pistole aus der Hand geschossen hatte, war reines Glück gewesen. Jack betete, dass ihre Glückssträhne damit zu Ende wäre, und dachte an das Volksmärchen vom Pfefferkuchenmann.

Run, run as fast as you can! You can’t catch me, I’m the Gingerbread Man.

Auf den nächsten Knall folgte der Luftzug einer Kugel, die haarscharf an seinem linken Ohr vorbeisauste.

Er schlug einen Haken nach rechts. »Scheiße!« Vielleicht zielte sie doch nicht so schlecht? So oder so rannte er, so schnell er konnte, auf die unerforschte Schienenausfahrt zu. Der Rucksack, der auf und ab wippte, behinderte ihn dabei erheblich, aber er hatte keine Zeit, um anzuhalten und in den zweiten Tragegurt zu schlüpfen. Also rannte er weiter, während dieser ungelenk an einer Schulter baumelte.

Während er rannte, knickte er zwei Leuchtstäbe und schleuderte sie vor sich. Er hoffte, das Licht würde ihm dabei helfen, über seine nächsten Schritte nachzudenken, aber leider erwartete ihn dort nur noch mehr Dunkelheit. Es gab nicht einmal eine Versteckmöglichkeit. Der Tunnel war breiter als die anderen, die er bisher gesehen hatte. Das gab ihm – und Emma – ausreichend Platz zum Rennen.

Alle paar Sekunden schleuderte sie ihm vulgär klingende Begriffe auf Deutsch entgegen. Jack nahm an, sie beschimpfte ihn. Warum auch nicht?

Eine Kugel schlug in die linke Wand ein, aber statt nach rechts auszuweichen, rannte er geradeaus weiter, zählte bis drei und änderte dann den Kurs. Sobald seine Bewegungen zu berechenbar wurden, würde Emma einen Treffer landen.

Und das tat sie.

Ein Schlag mitten in den Rücken schleuderte Jack zu Boden. Hätte er nicht die Kevlarweste getragen, dann wäre er nun tot. Es fühlte sich genauso an wie die beiden Kugeln, die vorher in seinen Rippen gelandet waren. Er schlug mit dem Bauch auf dem Boden auf und schlitterte ein paar Meter weiter, bis er schließlich mit den Händen an den Rippen liegen blieb. Sein Gesicht wurde vom Knicklicht orange angestrahlt.

»Ahh«, ächzte er, stützte sich ab und drehte sich herum.

Dann ließ er sich auf den Rücken fallen und keuchte. Sämtliche Luft war ihm soeben mit Wucht aus der Lunge geschlagen worden. Seine alles andere als elegante Landung war ebenfalls keine Hilfe. Der Sturz hatte ihm einen weiteren Schnitt am Kopf eingebracht. Falls er vorher nicht schon ein blutiges Wrack gewesen war, dann war er es spätestens jetzt.

»Ohh, armer Jack.«

Zusätzlich musste er sich nun außerdem mit einer siegessicheren Soziopathin herumschlagen. Er würde keinen Widerstand leisten – diesmal nicht. Falls Emma entschied, dass es nun Zeit für ihn war, zu sterben, dann war das eben so.

Jacks Zählung zufolge hatte er elf ihrer Männer getötet, plus/minus einen. Sie hatte jedes Recht darauf, ihn tot sehen zu wollen. Wären ihre Rollen vertauscht, würde er es vermutlich genauso machen, auch wenn Jack sich nie auf ihr Niveau herabgelassen hätte. Sie war der Bösewicht, er war der Held, ganz einfach. Jack war nie der Böse in dem Sinne gewesen, und er würde es auch nie sein.

Er würde nie wie Emma sein.

»Wisch dir das Grinsen aus dem Gesicht, du Hexe«, sagte er und richtete zitternd den Finger auf sie.

Emmas Grinsen verschwand, aber nur um von einem Gesichtsausdruck abgelöst zu werden, den er nun schon ein paar Mal bei ihr gesehen hatte: Wut.

»Das war’s für dich, Jack«, erwiderte sie und richtete die Pistole auf ihn. »Gibt’s noch irgendwelche Beleidigungen, die du mir an den Kopf werfen willst, bevor ich dein erbärmliches Leben ein für alle Mal beende?« Sie ging einen Schritt auf ihn zu. »Irgendwas?«

»Tatsächlich, ja«, antwortete er und hielt inne, als er spürte, wie irgendetwas über seinen rechten Fuß kroch. Er hatte keine Ahnung, was es war, und konnte nicht nachsehen, ohne sich zu bewegen. Seiner ersten Vermutung nach musste es eine Schlange sein, auch wenn er nicht wusste, welche. Vielleicht war es auch einfach nur ein Windzug aus dem Tunnel. Hinter sich spürte er eine leichte Brise, die ihm aus der unbekannten Schwärze entgegenwehte. Seine Kevlarweste war allerdings zu sperrig, um einen Blick nach unten zu werfen. Also fragte er stattdessen einfach Emma. Vielleicht konnte er mit einem Gespräch genug Zeit schinden, um sich einen Fluchtplan auszudenken.

»Was ist dort auf meinem Fuß?«

Emma sah hin, während sich das, was auch immer dort lag, wieder bewegte. Das war kein Steinbrocken; das Ding war lebendig. Er trat in die Luft und schleuderte ihr die Kreatur gegen den Kopf. Jacks Fußballtraining zahlte sich aus. Eine knapp einen Meter lange Schlange wand sich nun um Emmas Hals. Das Zickzackband der europäischen Kreuzotter war unverkennbar. Die Giftschlange war eines der gefährlichsten Tiere der Region.

Emma reagierte genauso, wie Jack es sich erhofft hatte. Sie packte die Schlange mit beiden Händen und ließ dabei ihre Pistole fallen. Jack, der sie fallen sah, richtete sich unter Schmerzen auf und fing sie aus der Luft. Er rückte sie in seinen schwitzigen Händen zurecht, hob sie auf Höhe ihres Gesichts und drückte ab. Die Kugel traf Emma mit voller Wucht in der Stirn, der Schädelknochen stellte keinen Widerstand dar. Hirn- und Knochenfragmente spritzten gegen die Tunnelwände, als das Projektil aus ihrem Hinterkopf austrat.

Mit der Waffe noch immer in der Hand sackte Jack auf den Boden und kicherte. Nichts an dem, was soeben geschehen war, war in irgendeiner Weise lustig. Jack lachte, weil er froh war, noch am Leben zu sein. Er scherte sich nicht einmal darum, wo die Kreuzotter gelandet war. Darum würde er sich kümmern, sobald sie ihm wieder in die Quere kam. Jetzt gerade blieb Jack einfach nur liegen und kam wieder zu Atem.

»Wie bist du bloß hier reingekommen?«, murmelte Jack, während er an die Schlange dachte.

Ist vermutlich hier runtergekommen, um zu überwintern.

Er setzte sich auf und sah dem Tier nach, das sich in Richtung Schatzkammer schlängelte. Wenn es dieser Kreatur gelungen war, hineinzukommen, vielleicht konnte Jack dann irgendwie nach draußen gelangen. Während er sich aufrichtete, öffnete er die Westengurte. Er hatte keine Verwendung mehr dafür. Die einzigen Gegenstände, die er behielt, waren Emmas Pistole, seine verbliebenen Knicklichter, beide Messer und sein Rucksack. Als Nächstes griff er mit finsterem Blick nach Emmas Brust, um die rechtwinklige Taschenlampe von ihrer Weste zu lösen.

Jack leuchtete den gesamten Tunnel ab, auf der Suche nach dem Loch, durch das die Schlange hineingekommen war. Dann lief er auf und ab, fand aber keinen Ausgang und bewegte sich notgedrungen nach Norden. Zumindest glaubte er, dass es Norden war. Dennoch musste die Schlange irgendwo hineingelangt sein.

Bevor Jack seine Wanderung antrat, stellte er den Timer an seiner Uhr. Seine Füße schmerzten, allerdings nicht so sehr wie der Rest seines Körpers. Eine Stunde lang trottete er vor sich hin, bevor sein Blick endlich auf etwas Brauchbares fiel. In der rechten Tunnelwand befand sich ein rechteckiger Durchgang. Freudestrahlend hastete Jack darauf zu.

»Treppen …«, flüsterte er und wünschte, er hätte genug getrunken, um zu weinen.

Im Schein seiner Lampe kletterte er die Stufen nach oben und sah, dass ein eingestürzter Teil des Tunnels den Großteil des Weges versperrte. Dieser Anblick machte ihn wütender als alles, was er bisher erlebt hatte – was immerhin eine ganze Menge war. Mitten in seinem Wutanfall hielt er inne und blickte erneut die Treppen hinauf. Falls Jürgens Rucksack ähnlich wie der Karls ausgestattet war, dann befände sich darin die Lösung seines Problems.

Jack nahm den Rucksack von der Schulter und öffnete den Reißverschluss, um ein Fach zu durchsuchen, das er bisher übersehen hatte. Er grinste, als er das fand, wonach er gesucht hatte. Dort; in einem rechteckigen Behältnis; lagen zwei Stangen Plastiksprengstoff. Er stieg die Stufen hinauf und steckte einen der Klumpen so weit wie möglich in den Geröllhaufen. Als Nächstes waren die Sprengkapsel und der Timer dran.

Er rannte wieder in den Tunnel und wartete, während er mithilfe seiner Uhr herunterzählte. Auf dem beleuchteten Display las er: »Zwei, eins, null«, und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. Das laute Wumm wurde größtenteils von den umliegenden Steinwänden gedämpft. Jack sah dabei zu, wie tausende Tonnen Gestein auf die Treppe herabstürzten, ein paar rollten sogar bis auf die Gleise.

Er wartete, bis sich Staub und Trümmer gelegt hatten, bevor er sein Werk genauer unter die Lupe nahm. Anschließend kletterte er über die Felsbrocken hinweg zu seinem erhofften Fluchtweg hinauf. Der Weg dorthin war nach wie vor voller Geröll, zwischen Decke und der Spitze des Steinhaufens erspähte er jedoch eine begehbare Passage. Diese war so eng, dass er gezwungen war, den Rucksack abzunehmen und vor sich hindurchzuschieben. Zwölf Meter weiter wartete dann die nächste Blockade auf ihn.

»Ach, komm schon!«, rief er und schlug mit der rechten Faust gegen die Wand.

Er griff in den Rucksack und nahm die letzte Stange Sprengstoff heraus, dann stellte er auf dem Timer eine ausreichende Zeitspanne ein. So schnell wie möglich zog er sich zurück und schaffte es sogar noch mit etwas Zeitpuffer in den Tunnel. Zwei Minuten später erschütterte ein zweites Wumm das unterirdische Versteck. Nicht besonders hoffnungsvoll trottete Jack wieder zur Treppe und blickte die steilen Stufen hinauf. Was er dort sah, war schier unglaublich.

Tageslicht.

Er hechtete regelrecht in den blockierten Durchgang, während er seine Habe hinter sich herschleifte. Dort oben öffnete sich sein Weg in die Freiheit. Plötzlich fühlte sich Jack viel ruhiger. Er war nun in der Lage, auf Händen und Knien zu krabbeln, auch wenn er Schwierigkeiten damit hatte, Halt zu finden. Das Geröll gab unter seinem Gewicht zweimal nach. Er bewegte sich zu schnell, zu unüberlegt, also wurde er etwas langsamer und bemühte sich um mehr Vorsicht. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war ein weiterer Einsturz.

»Ruhig, Jack.« Das Licht wurde heller. »Gleich hast du’s geschafft.«

Das hoffte er zumindest.

Obwohl er sich immer wieder zur Ruhe mahnte, wurde er automatisch schneller, je näher er dem Licht kam. Dann, als würde ihn Mutter Natur höchstselbst gebären, glitt Jack aus dem Loch nach draußen. Er landete in einem verschneiden Feld und rutschte ungefähr drei Meter in die Tiefe, bevor er vor einem hohen, kahlen Baum zum Stillstand kam.

Der Himmel war noch hell, aber die Sonne ging langsam unter. Wo auch immer er war, es war friedlich hier. Neugierig setzte sich Jack auf, nur um festzustellen, dass er sich in einem Hinterhof befand. Der Bauernhof war gigantisch und lag direkt am Fuß eines Felshügels. Es sah ganz so aus, als wäre der zweite Eingang zum berüchtigten Goldzug der Nazis für ein knappes Jahrhundert direkt vor der Nase der Öffentlichkeit versteckt gewesen. Jack nahm an, die Eigentümer dieses Anwesens mussten irgendwann genau wie Piotr Nazisympathisanten gewesen sein. Er blickte zu seinem Ausgang zurück, konnte aber außer einem eingestürzten Loch nichts mehr erkennen. Wo auch immer der geheime Durchgang gewesen war, er war wieder verschwunden.

Jack stützte sich am Baum ab und stand auf. Sobald ihm das gelungen war, fühlte er sich wie neugeboren. Manchmal wirkte die Kälte wahre Wunder, andere Male war sie einfach nur extrem deprimierend. Jetzt gerade fühlte sich Jack aber lebendig – was er ja schließlich auch war! Seit er Emma begegnet war, hatte er dem Tod mehrmals ins Auge geblickt.

Jack griff in die Tasche, entsperrte sein iPhone und öffnete Google Maps, womit er zügig Auschwitz anpeilte. Er grinste, als er sah, dass er sich nur sechs Kilometer nordöstlich davon befand. Dann wandte er sich in Richtung des Eulengebirges um und fragte sich, was sich dort verbergen könnte, falls es dort überhaupt irgendetwas gab. Nach seinen Erlebnissen schätzte Jack, das Eulengebirge war ein Ablenkungsmanöver gewesen, um die Leute glauben zu machen, der Goldzug wäre dort versteckt, und um Schatzjäger auf eine falsche Fährte zu locken. Er erinnerte sich an ein Zitat, dessen Ursprung er nicht kannte und das im Laufe der Geschichte mal Hitler selbst, mal Joseph Goebbels zugeschrieben wurde: »Wenn man eine große Lüge erzählt und sie oft genug wiederholt, dann werden die Leute sie am Ende glauben.«

Jack wich gerade rechtzeitig vor dem neuen Felsspalt zurück, bevor dieser einstürzte und, wie er hoffte, mindestens für die nächsten 80 Jahre verschüttet bleiben würde. Er schwor sich, niemandem von seiner Entdeckung zu erzählen. Diese war zu wertvoll, zu gefährlich, um in die Hände der modernen Menschheit zu fallen. Jack würde seinen Fund für eine Weile geheim halten.

Vielleicht sieht man sich ja irgendwann wieder.

Er hoffte, das Sicherheitsteam in Auschwitz würde es ihm gleichtun. Jack hatte den Schatz absichtlich nicht erwähnt und nahm an, dass niemand Piotr glauben würde. Ein Nazisympathisant, der irgendetwas von einem Goldzug unter Auschwitz faselte, klang absolut lächerlich – wären da nicht die terroristischen Verbrechen, für die er festgenommen worden war. Das Museum würde einen neuen Direktor anstellen, einen, der nichts vom Verbleib des Goldzugs oder vom geheimen Kellerzugang wusste. Dessen war Jack sich sicher. Außerdem war er noch immer im Besitz von Piotrs Schlüssel.

Sowohl der Goldzug der Nazis als auch der Schatz der Templer würden unangetastet bleiben.

»Obwohl’s ganz nett gewesen wäre, wenigstens einen Teil davon abzustauben.«

Er grinste und hob die Augenbrauen, als ihm das halbe Dutzend Goldmünzen einfiel, das er in seinen Rucksack gesteckt hatte. Ursprünglich hatte er vorgehabt, Emma damit abzulenken, während er flüchtete, aber dazu war es nie gekommen. Stattdessen hatte Jack nun ein kleines Souvenir von seiner Entdeckung der größten historischen Antiquitätensammlung behalten. Das brachte ihn auf den Gedanken, was sich wohl noch alles in der Welt verbarg. Vielleicht müsste er das irgendwann genauer unter die Lupe nehmen.

»Man weiß ja nie.« Er kniete sich hin, hob eine Handvoll Schnee auf, die er sich behutsam ans Gesicht hielt, und seufzte.

»Man weiß ja nie …«

 

Eine Stunde später kam Jack in Auschwitz an. Auf dem Weg dorthin hatte er seine Verletzungen weiterhin mit Schnee gekühlt, der zwar auf seiner Haut brannte, aber die Schmerzen ein wenig linderte. Außerdem ging damit die Schwellung zurück. Glücklicherweise lagen auf dem Weg zurück zu seinem Mietauto Unmengen davon. Jetzt brauchte er nur eine Handvoll Ibuprofen und einen ordentlichen Drink zu seinem Glück.

Während er in seinen Geländewagen stieg, sah er jemanden, der ihn zum Lächeln brachte. Das junge Mädchen, das ihm in Auschwitz aufgeholfen hatte, verließ gerade den Gebäudekomplex. Vermutlich war sie gerade von der Polizei befragt worden, die um das ganze Gebiet herumschwirrte. Glücklicherweise waren sie zu sehr mit dem Lager selbst beschäftigt, um den Leuten auf dem Parkplatz Beachtung zu schenken.

Als sie Jack erkannte, winkte sie ihm fröhlich zu. Er erwiderte den Gruß mit einem Zwinkern und einem scherzhaften Salut. Die Geste war kurz, aber sie sprach Bände.

Jack ließ sich in den Mietwagen fallen. Sobald er es sich bequem gemacht hatte, rief er Bull an. Sein Partner war der einzige Mensch, mit dem er über das, was er soeben erlebt hatte, sprechen konnte. Während Jack den Parkplatz verließ, fiel sein Blick auf die Armbänder.

Stärke und Mut.

Das brachte ihn wieder zum Lächeln. Jack wusste, wenn die Kacke wirklich am Dampfen war, dann würde er immer für diese Werte einstehen, ganz egal, wo er war.

Stärke und Mut.