Polen unter deutscher Besetzung
30. April, 1945
Die Hand des Schutzhaftlagerführers Klaus Wagner zitterte. Der Schmauchgeruch seiner Luger war unerträglich und verursachte ihm Übelkeit. Für die nächsten zehn Leben hatte er genug erlebt, aber das war das erste Mal, dass er ein Leben durch seine eigene Hand beendet hatte. Normalerweise gab er nur den Befehl dazu, den ein anderer ausführte.
Dreizehn Leben vernichtet.
Er hatte die Leichen hinter einer Reihe Waggons versteckt. Jetzt, da er allein war, hatte Klaus sie allein schleppen müssen.
Er wusste, nun konnte er nie wieder zu seiner Familie zurückkehren. Klaus’ Anwesenheit würde sie nur weiter ins Unglück stürzen. Die Trauer wog schwer in ihm, er würde den kleinen Piotr nie aufwachsen sehen. Tief im Herzen hoffte er, sein Sohn würde sich für einen anderen Weg entscheiden. Dieser hier war einfach zu leidvoll.
Dem Bahnhof zugewandt stand er auf den Gleisen. Hinter ihm, weiter den Haupttunnel entlang, lag die Schatzkammer in ihrer ganzen Pracht. Während er zur Treppe in Richtung Bunker schielte, dachte er an den Boten, den er soeben umgebracht hatte.
Vor zwei Stunden war der junge Soldat durch einen Geheimeingang hineingerannt. Der nächste davon befand sich direkt hinter dem abgestellten Zug und führte zum Hinterhof eines Bauernhofs. Die Besitzer, die Familie des Soldaten, hatten sich einverstanden erklärt, den Geheimtunnel im Blick zu behalten.
»Der Führer ist tot! Der Führer ist tot!«, rief der Nachrichtenüberbringer panisch.
Er hatte Klaus, den hochrangigsten Offizier, der hier noch übrig war, sofort aufgesucht, um ihm die Botschaft direkt aus Berlin zu übermitteln, die von keinem Geringeren als Martin Bormann, Hitlers Privatsekretär, verfasst worden war. Er kontrollierte sämtliche Kommunikationswege zwischen dem Führer und der Welt. Manch einer behauptete, Bormann wäre der mächtigste Mann in ganz Deutschland. Informationen waren überlebenswichtig, und Bormann kontrollierte sie alle.
Schwer atmend und mit weit aufgerissenen Augen versuchte Klaus zu begreifen, was er soeben getan hatte. Er steckte die Pistole ins Holster und wandte sich um, schockiert von dem Anblick, der sich ihm bot. Dort stand eine Gestalt, deren Gesicht im Schatten der schwach beleuchteten Untergrundwelt verborgen lag. Die gestickten Insignien auf dem Kragen verrieten jedoch seine Identität. Genauso wie die Pistole in seiner Hand waren sie gut sichtbar.
»Herr Reichsführer«, sprach Klaus ihn an und hob die Hände, »sind Sie das?«
Heinrich Himmler trat aus den Schatten. Er war noch immer in voller Montur, auch wenn seine Uniform nun schmutzig und an einigen Stellen lädiert war. Offensichtlich war der einst mächtige Nazifunktionär schon eine Weile auf der Flucht, aber die Strapazen schienen seinen Fokus keinesfalls zu trüben. Sein Blick war so scharf und durchdringend wie immer.
»Ja«, antwortete Himmler und grinste dabei wie ein Hai, »aber ich bitte Sie, sparen Sie sich die Förmlichkeiten. Nennen Sie mich einfach Heinrich.«
Klaus schluckte und nahm die Hände langsam herunter, woraufhin Himmler die Luger ebenfalls senkte.
»Und wie stehen Sie zum Führer?«
Himmlers linker Mundwinkel zuckte. »Das ist … kompliziert.«
Jedes Parteimitglied hatte von seinem Verrat an Hitler gehört, aber das spielte keine Rolle mehr. Der Führer war tot, und ohne Leitfigur war jeder mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Außerdem war Himmler bewaffnet und kein Mann, mit dem man sich anlegen wollte.
»Was haben Sie vor?«, fragte Klaus neugierig.
Himmler zuckte mit den Achseln. »Mich so lange wie möglich hier verstecken und rauskommen, sobald sich die Lage dort oben beruhigt hat.«
Es gefiel dem Schutzhaftlagerführer nicht, dass Himmler an Hitlers Todestag aufgetaucht war. Das war mehr als nur ein Zufall, dessen war Klaus sich sicher. Dann begriff er und seine Augen weiteten sich.
»Sie wussten davon, nicht?«
Himmler reagierte nicht, wies Klaus für seine Anmaßung aber auch nicht zurecht.
»All das war Teil des Plans.«
Hitlers rechter Mundwinkel zuckte nach oben. »Ja, Herr Wagner, man hat Vorkehrungen für den Fall getroffen, sollten der Führer oder ich sterben, bevor wir unseren Schatz im Tresorraum unter den Bergen deponieren können. Aus offensichtlichen Gründen wissen nur ein paar Auserwählte davon.«
»So wie Martin Bormann?« Dieser Mann hatte Klaus angewiesen, seine eigenen Männer zu erschießen. Klaus war außer sich vor Wut. »Ich hab sie alle umgebracht! Ich!« Er bohrte sich den Finger in die Brust. »Keiner dieser Männer hat den Tod verdient. Sie sind dem Reich immer treu gewesen!«
Himmler verzog das Gesicht. »Warum überrascht Sie das? Nach allem, was Sie für den Führer getan haben, nach all den Morden, derer Sie hier Zeuge wurden, ist das nun die eine Sache, die sie zweifeln lässt?«
»Was ist mit Ihnen?«, fragte Klaus und zeigte auf Himmler. Der ehemalige Reichsführer festigte seinen Griff um die Pistole, aber er hob sie nicht. Stattdessen hielt er sie noch immer nach unten gerichtet. Klaus versuchte vergeblich, seine Wut im Zaum zu halten.
»Wir wissen alle, was Sie getan haben.«
Er wartete darauf, erschossen zu werden, aber überraschenderweise hielt sich Himmler zurück und seufzte. »Wir alle tun nur, was wir tun müssen, um zu überleben. Mein Leben war nie an diesen Mann gebunden«, er trat nach vorn, »genauso wenig wie Ihres.«
Er lächelte. »Bleiben Sie bei mir, Klaus.«
»Was?« Klaus war schockiert. »Nein!«
»Wir werden reicher als das Königshaus sein – reicher als Hitler selbst es je war.«
»Nein«, wiederholte Klaus. »Ich habe Familie. Ich … ich kann sie nicht zurücklassen.« Er konnte Himmler nicht offenbaren, dass genau das seine Absicht war. Sobald seine Lüge entdeckt würde, wäre das sein sicherer Tod. Der Reichsführer war nicht gerade für seine Nachsicht bekannt.
»In Ordnung«, erwiderte Himmler, »dann gehen Sie schon.«
Himmler war alles andere als erfreut, machte Klaus aber dennoch Platz und sah ihm dabei zu, wie er seine Habe vom Bahnsteig aufsammelte und dann zügig im Tunnel verschwand. Alle paar Meter blickte er zurück, um sicherzugehen, dass er nicht hinterrücks erschossen wurde.
Aber Himmler würde und könnte ihn nicht erschießen, denn er hatte keine Munition mehr.
Er lächelte verschlagen.
Das muss Klaus aber nicht wissen.
Himmler steckte die ungeladene Waffe zurück ins Holster und wartete, bis Klaus sich entfernt hatte. Nach ein paar Minuten machte er auf dem Absatz kehrt und eilte auf die Ansammlung von Reichtümern zu, die er nun schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte. Jahre waren vergangen, seit er einen Fuß in die Höhle gesetzt hatte. Jetzt gehörte alles ihm.
Sein Rundgang durch die überquellende Schatzkammer war kurz, aber schön. Er dachte darüber nach, was er nur mit einem Bruchteil des Goldes kaufen würde. Himmler hatte vor, sich zur Nachtruhe zu begeben, aber nicht, bevor er die Kleidung gewechselt hatte. Seine offizielle Uniform war widerlich, und er hatte nicht vor, sie jemals wieder anzuziehen. Sobald sein erschöpfter Körper sich ihrer entledigt hätte, würde er sie verbrennen.
Als er auf den Bahnsteig geklettert war, seufzte Himmler. Er fühlte sich kein bisschen müde. Also sah er sich um und beschloss, ein wenig die Gegend zu erkunden, bevor er es sich bequem machte. Der Tunnel hinter den Draisinen erweckte seine Aufmerksamkeit. Bisher war er nur in den Haupttunneln des Bunkers und in der Schatzkammer gewesen, das restliche Tunnelsystem war ihm fremd.
Ohne dem frischen Leichenhaufen auf seiner Rechten Beachtung zu schenken, marschierte er los. Klaus hatte gut daran getan, jeden zum Schweigen zu bringen, der es vielleicht auf Hitlers Schatz abgesehen hatte.
Er grinste wieder und korrigierte sich.
Auf meinen Schatz.
Vorsichtig hüpfte er vom Bahnsteig herunter und ging weiter. Weiter im rechten Tunnel entdeckte er einen beeindruckenden Nebenfluss.
Hmmm.
Himmler knipste die klobige Taschenlampe an, ging auf Hände und Knie und quetschte sich in die Felsspalte. Während er sich Zentimeter für Zentimeter vorwärts schob, genoss er die neu gewonnene Freiheit. Er musste niemandem mehr gehorchen. Das war nun sein Leben, und es gefiel ihm außerordentlich.
Der Durchgang führte in eine große, natürliche Höhle. Er nahm sich einen Moment, um sich zu sammeln, und fühlte sich großartig.
Als er stehen blieb, legte er den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Nie hatte die Freiheit so gut gerochen. Und nie in seinem Leben als Erwachsener hätte er geglaubt, wieder allein zu sein, weit fort von den Nationalsozialisten und seiner geliebten Schutzstaffel. Himmler hatte seine Position gemocht, genauso wie seine Männer. Dennoch war seine Leidenschaft für Hitlers Regierung über die Jahre erloschen.
Die eine Sache, die Himmler mehr als alles andere zu denken gab, war der angebliche Tod des Führers. Himmler selbst war dank seines treuen Doppelgängers am Leben, den sie an seiner statt gefasst hatten. Der Austausch hatte in letzter Sekunde stattgefunden und Himmler vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt.
Gestern, am 29. April, hatte Hitler sowohl ihn als auch Reichsminister Hermann Göring, den Begründer der Geheimen Staatspolizei, zu Reichsverrätern erklärt. Nachdem der Führer seinen Posten verlassen und sich versteckt hatte, hatte Göring vorzeitig versucht, die Parteiführung zu übernehmen. Hitler war rasend vor Zorn gewesen.
Und wie ich hatte der Führer seine Doppelgänger immer in der Nähe.
Möglicherweise war das gar nicht Hitlers Leiche, welche die Alliierten in Berlin gefunden hatten. Himmler wusste, dass zahnärztliche und andere medizinische Unterlagen des Führers schon vor Jahren gefälscht worden waren, genauso wie seine eigenen Dokumente. Er verdrängte den beunruhigenden Gedanken und erkundete das Gebiet weiter, während er geradewegs zur Mitte der Höhle spazierte.
Wenn ich nur mein Tagebuch hier hätte, dachte er und bereute, es Elias Schmidt geschickt zu haben. Wie gerne hätte er es während seines Aufenthalts hier ergänzt.
Plötzlich ertönte ein donnernder Knall und er stürzte flach auf den Bauch.
Das Letzte, was er sah, bevor seine Welt im Nichts versank, war Klaus Wagner, der mit qualmender Pistole über ihm stand.
»Tut mir leid, Heinrich«, sagte Klaus, »aber das kann ich nicht zulassen.«
Heinrich Himmler war tot.
– E N D E –
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