Martin Luther und die Obrigkeit1
Abstract In this essay, Martin Luther’s appreciation of secular authority is highlighted on its historical background. In Christian Antiquity and in the Middle Ages, ascetic values prevailed in Christian ethos. Like the begetting and raising of children, the tasks of secular authorities raised apprehensions, as they were thought to be abundant of occasions for sinning and positively dangerous for a Christian’s eternal welfare. On the contrary, “good works” in the spheres of cult and charity were regarded as specifically meritorious. In his novel determination of the essence of Christian faith and life, Luther eliminated the concept of merit and forthwith rendered an unprecedented esteem to all the varieties of human work before regarded as “merely natural” – including the execution of secular authority.
Luther und die Obrigkeit – das ist so ein Thema, zu dem „man“ gemeinhin ziemlich viel weiß. Zunächst: Man weiß, um es mit Heinrich v. Treitschke zu sagen, dass Luther die Sphäre weltlicher Herrschaft „für mündig erklärt“2, also klerikaler Beeinflussung und Steuerung weltlich-politischen Handelns vehement entgegengewirkt hat. Sodann: Man weiß, dass Luther auch dem Bereich, in dem weltliche Obrigkeit schaltet und waltet, Grenzen hat setzen wollen. Hier ist allerdings der Irrtum weit verbreitet, Luther habe in der Folge der mittelalterlichen Abgrenzungsstreitigkeiten zwischen regnum und sacerdotium bzw. im Vorgriff auf neuzeitliche Zuordnungsprobleme von Staat und Kirche Grenzen zwischen Institutionen ziehen wollen. Nein, die verfasste Kirche als äußerliches Herrschaftsinstitut gehörte für Luther mit zur weltlichen Ordnung, also zu Gottes←31 | 32→ Regiment „zur Linken“, während das heilsame, im geistlich zugespitzten Gesetz die Buße und im Evangelium den Glauben schaffende Wirken des Wortes im Gewissen, also Gottes Regiment zur Rechten, sich jeder eindeutigen Fixierung auf institutionelle Zusammenhänge entzieht: „Der seelen soll und kan niemandt gepieten / er wisse denn yhr den weg zu weyßen gen hymel / Das kan aber keyn mensch thun / sondern Got alleyn. Darumb ynn den sachen / die der seelen selickeyt betreffen / soll nichts denn Gottis wort geleret und angenomen werden“.3
Umgekehrt gilt: „Das welltlich regiment hatt gesetz / die sich nicht weytter strecken / denn uber leyb und gutt / und was eußerlich ist auf erden. Denn uber die seele kan und will Gott niemant lassen regirn / denn sich selbs alleyne“4.
Mit dem, was wir uns unter individuellen Freiheitsrechten vorstellen, hat das erschreckend wenig zu tun. Weltliche Obrigkeit, die, wie Luther mit Paulus bzw. einer von diesem hier (Röm 13, 1–8) lediglich weitergeführten communis opinio des Diaspora-Judentums seiner Zeit betont, lediglich deswegen da ist und wirkt, weil sie von Gott eingesetzt ist, hat über ihre Untertanen Verfügungsgewalt in allem Äußerlichen, und die Untertanen sind ihr gerade als Christen, die um den göttlich verbürgten Rang und die göttlich verbürgte Würde der Obrigkeit wissen, innerlich zum Gehorsam verpflichtet – in allen äußerlichen Dingen: „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr‘, Kind und Weib[…]“. Und wenn die Obrigkeit äußere Handlungen fordert, die in den Bereich des Inneren hineingreifen – in dem Fall, um den es hier geht, die Herausgabe der Druckexemplare von Luthers Übersetzung des Neuen Testaments, – dann steht dagegen kein Widerstandsrecht, sondern lediglich die Pflicht zum leidensbereiten Ungehorsam um des an Gott und sein Wort gebundenen Gewissens willen. Es gibt zwar auch nach Luther durchaus ein „Widerstandsrecht“; das haben ihm in den 30er Jahren Juristen in mühevoller Kleinarbeit beigebracht – aber das ist gerade kein solches, das dem Christen als Christen oder „der Kirche“ in corpore zustünde, sondern es ist, wie alles positive Recht, ganz und gar weltlich und bemisst sich nach den positivrechtlichen Befugnissen, welche eine geltende Rechtsordnung bestimmten Rechtssubjekten einräumt, etwa das Reichsrecht bzw. eine Wahlkapitulation den Reichsfürsten gegenüber ihrem erwählten Oberhaupt, dem Kaiser.
Weiterhin weiß man: Luther war, Ausnahmen, wie seinen Landesherrn Friedrich den Weisen, mit dem er jedoch nie ein Wort gewechselt hat, nicht gerechnet, den real existierenden Fürsten seiner Zeit gegenüber höchst kritisch eingestellt:←32 | 33→
Es ist eyn grosser herr unßer Gott / Darumb muß er auch solch edelle / hochgeporne reyche hencker und böttel haben / und will / das sie reychthum / ehre undd furcht von yederman die geusse und die menge haben sollen. Es gefellt seynem gottlichen willen / das wyr seyne hencker / gnedige herren heyßen / yhn zu fussen fallen und mit aller demutt unterthan seyen / ßo fern sie yhr handtwerk nicht zu weytt strecken, das sie hirtten auß henker werden wollen. Geret nu eyn furst / das er klug / frum odder eyn Christen ist / das ist der grossen wunder eyns / und das aller theurist zeychen gottlicher gnaden uber das selb landt5.
Aber man weiß auch: Wenn’s hart auf hart ging, dann stärkte Luther den Fürsten den Rücken, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste, so angesichts der Bauernaufstände der Jahre 1524/25: „Drumb sol hie zuschmeysssen / wurgen und stechen / heymlich odder offentlich / wer da kan und gedencken / das nicht gifftigers / schedlichers / teuffelischers seyn kann / denn eyn auffrurischer mensch / gleich als wenn man eynen tollen hund todschlahen mus / schlegstu nicht / so schlegt er dich und eyn gantz land mit dyr“6.
Und dann weiß man auch noch von allerlei guten, sich durchweg etwas hausbacken lesenden Ratschlägen Luthers für Menschen, die mit hoheitlichen Aufgaben betraut waren, Ratschlägen, die ihren cantus firmus darin haben, dass sie an unvertretbare, persönliche Verantwortlichkeit appellieren: Der Fürst soll sich zwar beraten lassen, muss sich aber auch um den Preis der Einsamkeit die letzte Entscheidung immer selbst vorbehalten. Und bei aller Achtung für das positive Recht darf er sich nicht zu dessen bloßem Vollzugsorgan machen, sondern muss bei allem, was er tut, den Billigkeitsgrundsatz und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Auge behalten, wobei ihm als Globalziel allen seines Handelns und Entscheidens die Wahrung des Friedens vor Augen zu stehen hat. Zumal das Letztgenannte geht uns natürlich leicht ein, ist allerdings keineswegs originell „lutherisch“, sondern Gemeingut mittelalterlichen Rechtsdenkens, klassisch formuliert etwa durch Ivo von Chartres (gest. 1115).
Das sind so die gängigen Wissensbestände. Sie sind in sich bunt und disparat, scheinbar ohne jeglichen zwingenden inneren Zusammenhang, und darum eignen sie sich zur Verwendung für jeden Geschmack: Nationalkonservatives protestantisches Obrigkeits- und Staatspathos hat sich hier lange Zeit gern und reichlich bedient. Das ist allerdings in den letzten zwei Menschenaltern im deutschen Protestantismus gänzlich verstummt zugunsten einer kritischen Dauererregtheit, die sich in mal süffisanten und mal larmoyanten Bekundungen überlegener Distanz zu allem gefällt, was den Staat und gar die Nation←33 | 34→ betrifft – auch diese Haltung findet im großen Zitatenfundus genug Materialien, mit denen sie sich gefällig drapieren kann. An alledem ist nichts eigentlich falsch. Aber es vermittelt auch nicht von ferne einen Eindruck vom geschichtlichen Rang und von der geschichtlichen Bedeutung von Luthers Gedanken zum Thema „Regieren als Beruf“. Wenn man hier weiter kommen will, dann gilt es, sich klarzumachen, worin überhaupt Luthers geschichtliche Bedeutung in seiner Welt, der des Spätmittelalters, gelegen hat, und inwiefern er von hier aus eben auch dem Selbstverständnis derer, die in der Gesellschaft Macht ausübten, also den Fürsten und den städtischen Magistraten, Anstöße zu einem erneuerten Verständnis ihrer Zuständigkeiten und Aufgaben eröffnet hat. Vor jedem Eingehen auf Details hat man sich also Klarheit über die Leitabsichten, über die Grundlagen und über die Reichweite seiner einschlägigen Ausführungen zu verschaffen.
Luther hat nicht die Absicht verfolgt, wie einst Augustin in einer souveränen Darlegung von Gottes vorzeitlichem Ratschluss und den mit eherner Folgerichtigkeit einander ablösenden Stadien seiner Verwirklichung eine material erschöpfende Geschichtstheologie auszuarbeiten. Er hat auch nicht den Versuch unternommen, diesen Entwurf Augustins durch gesellschafts-, herrschafts- und rechtstheoretische Theoriesegmente aristotelischer Provenienz zu unterfüttern, zu ergänzen oder zu korrigieren, wie das Thomas von Aquin, Wilhelm von Occam und andere getan haben. Sein Unterfangen nimmt sich im Vergleich sehr viel bescheidener aus: Er will Menschen, welche sich ernsthaft als Christen verstehen, dazu anleiten, die gesellschaftlichen Ordnungszusammenhänge, in denen sie sich vorfinden, sowie ihr eigenes Handeln innerhalb derselben im Lichte ihres Glaubens zu verstehen, zu deuten und zu bewerten. Zustimmung für seine Ausführungen erwartet er allein von solchen Menschen, die seiner Bestimmung dessen, worin der Wesensgehalt der christlichen Religion liegt, zustimmen. Und genau hier liegt das organisierende Zentrum. So deutlich Luthers Wesensbestimmung der christlichen Religion sich auch problemgeschichtlich in die Geschichte des mittelalterlichen und antiken (westlichen) Christentums zurückverfolgen lässt, sie war doch in ihrer Substanz neuartig, epochal. Dieser historischen Einordnung seiner Person und seines Lebenswerks würde allerdings Luther selbst, wenn er denn irgend könnte, vehement widersprechen: Er lebte ja der Überzeugung, er lehre und vertrete gar nichts Neues, sondern er bringe lediglich den sonnenklaren, jedem entsprechend Vorgebildeten und nicht gänzlich Verstockten und Verblendeten einsichtigen Primärsinn des schlechterdings verpflichtenden weil schlechterdings zuverlässigen Got←34 | 35→tesbuches namens „Bibel“ zur Geltung.7 Das, was Luther zum historisch bedeutsamen Akteur machte, war nicht der Rekurs auf Altes, sondern eine zwar von Altem inspirierte und sich auf Altes abstützende, aber in ihrer Substanz neuartige Wesensbestimmung der christlichen Religion.
Deren Explikation auf immer neuen Themenfeldern und in immer neuen vorgegebenen thematischen und terminologischen Kontexten ist das eine Kernthema von Luthers weitverzweigter Schriftstellerei. Er hat es allerdings nie und nirgends in abstrakter Reinheit ausgearbeitet, sondern immer im Durcharbeiten hergebrachter thematischer Zusammenhänge – als Bibelhermeneutik, als Lehre von Gottes All- und Alleinwirksamkeit, als Lehre von Person und Werk Jesu Christi, als Lehre von der Rechtfertigung. Und so hat er sein neues Wesensverständnis der christlichen Religion eben auch im Durchdenken gesellschaftlicher Strukturen wie der Ehe und eben der weltlichen Obrigkeit expliziert. Verstanden sind Luthers einzelne Voten immer erst dann, wenn deutlich ist, wie und inwiefern er auf diesen Gebieten sein innovatives Primäranliegen zur Geltung gebracht hat, welches allein ihn aus der großen, bunten Reihe der Reformkatholiken aller Zeiten heraushebt und ihm des Rang des Reformators verleiht.
Luthers Ausführungen zum Thema „Regieren als Beruf“ sind also erst dann verstanden, wenn sie als Symptom des christentumsgeschichtlichen Bruchs und Neuaufbruchs durchschaut sind, der sich in Luthers Denken und Agieren vollzogen hat. Und darum ist es unumgänglich, einen Verstehensweg unter die Füße zu nehmen, der in der Frühgeschichte der christlichen Religion beginnt, also in der frühen Römischen Kaiserzeit.
I.
Das frühe Christentum konfrontierte Zeitgenossen mit der Botschaft, es sei ihnen aus göttlicher Gnade die Möglichkeit eröffnet, sich im irdischen Leben für den Eingang in die ewige Seligkeit zu qualifizieren – sei es bei der Wiederkunft des erhöhten Gekreuzigten zum Weltgericht, sei es im individuellen irdischen Sterben.
Wer diese Möglichkeit realisieren wollte, der musste zunächst einmal die Botschaft von dieser Möglichkeit und den näheren Umständen ihrer Bekanntgabe anerkennen – an die Heilsbedeutung des Kreuzestodes und der Auferweckung Jesu Christi „glauben“ (1. Thess 1,9 f. – wohl in der Substanz vorpaulinisch).←35 | 36→ Und dieser Glaube hatte im einzelnen Menschen die Probe auf seine Ernsthaftigkeit und damit auf seine tatsächliche Heilsbedeutung in der Einhaltung bestimmter Regeln für die Lebensführung. Diese Regeln bezogen sich zunächst auf das Binnenleben der Gemeinde und operationalisierten die Generalforderung der Gottes- und Nächstenliebe kultisch (Empfang der Taufe, Teilnahme an der Eucharistie; materielle Beiträge zu ihr) und ethisch (Ethos der selbstlosen Zuwendung zum Hilfsbedürftigen, strikte Monogamie, Ehrlichkeit und Redlichkeit im Alltagsverkehr).
Die Regelungen der Außenbeziehungen der Gemeinden insgesamt und ihrer einzelnen Glieder waren eng verbunden mit diesen kultischen und ethischen Bestimmungen über das Binnenleben: Christliche Lebensführung bedeutete hier in erster Linie Abgrenzung, zentral die strikte Verweigerung der Teilnahme an allen zivilreligiös-kultischen Ritualen in der römisch-hellenistischen Stadtkultur bzw. im Imperium Romanum („Götzendienst“), denn die Teilnahme an derlei Begängnissen beschädigte die kultische Reinheit des einzelnen Christen und damit der ganzen Gemeinde. Vor allem hierin und nicht etwa in einem durchgängig pazifistischen Ethos lag der entscheidende Grund dafür, dass für viele frühe Christen der Militär- und Staatsdienst innere Unmöglichkeiten darstellten.
Rechtsförmige normative Bestimmungen bezeugen, wie schwierig es war, den Alltag gemäß dieser exklusiven Mentalität zu gestalten. Die Decische Christenverfolgung in der Mitte des 3. Jahrhunderts zeigte, dass die Lebensführung in den Gemeinden zu diesen Normen im Widerspruch stand: Männer und Frauen jedweden Alters und Standes, Kleriker und Laien waren so weit in die Mehrheitsgesellschaft integriert, dass sie, sei es spontan-selbstverständlich, sei es unter Lockungen oder Drohungen, den Anweisungen der kaiserlichen Opferedikte Folge leisteten. Es ist hier nicht der Ort, zu erzählen, mit welchen theologischen, seelsorgerlichen und kirchenpolitischen Meisterleistungen es dann gelang, in der Folgezeit die normativen Bestimmungen der Abstandnahme aufrecht zu erhalten und trotzdem die in der Verfolgung „Gefallenen“ nicht preiszugeben.
Wir können den Ertrag dieser kurzen Bemerkungen mit einem Merksatz festhalten, den der durch seine Nichte, die Fromme Helene, bekannt gewordene Onkel Nolte formuliert hat: „Das Gute, dieser Satz steht fest / ist stets das Böse, was man läßt“: Das frühe Christentum hat sein Ethos in Bezug auf das Leben in Staat und Gesellschaft in erster Linie defensiv ausgearbeitet, als Reihe von Geboten der Abstandnahme und Verboten der Partizipation. Kurzum: Die ethischen Richtlinien, die frühchristliche Gemeinden ihren Gliedern auferlegten, waren Bollwerke der Integrationsverweigerung, errichtet unter dem Leitgesichtspunkt, dass im Leben und Treiben außerhalb der Gemeinde für den Christen allenthalben←36 | 37→ Gefahren des Glaubensabfalls durch Götzendienst lauerten, und dass der Christenmensch am sichersten fuhr, wenn er zu alledem Abstand hielt.
In weltlichen Beschäftigungen, also im Staats- und Militärdienst, im Handel und im Handwerk, in der Ehe und in der Familie kann sich der Christenmensch bestenfalls von gravierenden Verstößen gegen spezifisch christlich-kirchliche Lebensnormen freihalten. Wenn er hingegen positiv etwas für sich und sein Heil leisten will, dann hält er sich an die spezifisch innergemeindlichen Forderungen der kultischen Observanz und der karitativ verstandenen Nächstenliebe – das Beten, das Fasten und das Almosengeben sind die drei Grundvollzüge solchen im christlich-kirchlichen Sinne guten Handelns. Und diese spezifisch guten Werke können und müssen gegebenenfalls intensiviert werden, wenn die moralische Lebensbilanz eines Christen durch seine weltlichen Ambitionen und Beanspruchungen negativ zu werden droht.8
II.
Wie instabil und fließend und wie flexibel dieses ganze System der Abstandnahmen und Abgrenzungen war, das zeigte sich nochmals deutlicher nach der sogen. Konstantinischen Wende. Innerhalb weniger Jahrzehnte rückte die Katholische Kirche in die Funktion der religiös-sakralen Leitinstanz des Imperium Romanum ein, und das heißt: Ihr fiel auch die Aufgabe zu, weltliche Herrschaft zu legitimieren. Die Denk- und Deutungsmuster hierfür lagen in reicher Fülle bereit – im Alten Testament, in welchem ja dieselbe politische Theologie des Alten Orients virulent ist, aus welcher dem Imperium Romanum schon zuvor der Kultus erst des vergöttlichten und dann des göttlichen Herrschers zugewachsen war.
Die Mauern, welche Christen von der Übernahme von Verantwortung im Militär und in der Staatsverwaltung hatten fernhalten sollen, wurden nun mit breiteren Durchgängen versehen. Aber sie wurden eben nicht einfach abgerissen. Für viele ernste Christen behielten die alten Vorbehalte ihre Gültigkeit, und für sie blieben die Berührungsängste bedrängend. So entstand in signifikanter zeitlicher Nähe zur Konstantinischen Wende das Mönchtum als außerhalb der städtischen Gemeinden sich stabil organisierende christliche Askese, also die institutionell radikalisierte Abstandnahme von der Welt und ihrem Treiben zugunsten des reineren Gehorsams gegen Gottes Willen, der sich in den Geboten der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams konkretisierte. Dabei ist zu beachten: Die←37 | 38→ Mönche, sofern sie rechtgläubig blieben, verstanden sich nicht exklusiv als die Christen schlechthin, sondern sie verstanden sich im relativen Kontrast zur breiten Masse der zwar guten, aber etwas inkonsequenten Christen als die konsequenteren, besseren Christen.
Der terminus technicus κλῆσις/vocatio/Berufung, der von den Anfängen an das Sich-berufen-Wissen zum christlichen Glauben, den Christenberuf, bezeichnet hatte, spezifizierte sich nun auf das Mönchtum hin. Die in dieser ganzen neuartigen Konstruktion liegende Zumutung, das eigene Christentum als minderrangig, wenn nicht gar minderwertig zu verstehen, wurde seitens der großkirchlichen Christen trotz anfänglichen Widerstrebens weithin akzeptiert – im Rückgriff auf die schon ältere Annahme, dass in der großen Einheit der Kirche eine Art Arbeitsteilung stattfinde: Die Asketen, die konsequenten Christen, tragen das Joch Christi in seiner ganzen Schwere stellvertretend für die anderen mit, und diese gewähren ihnen im Gegenzug Schutz und Unterstützung, tragen also indirekt das Joch Christi mit und profitieren daher legitimerweise mit von den Verdiensten, welche die Asketen erwerben.
In Augustins seelsorgerlichen Briefen an hochrangige Beamte und Offiziere kann man diesen ganzen Problemkreis ausgiebig kennenlernen: Augustin macht diesen Männern Mut zu ihrem Tun. Es ist legitim, weil es trotz der in ihm unvermeidlichen Verstöße wider die Regeln des spezifisch christlichen Ethos doch auch der Kirche zugutekommt, sei es indirekt, indem es den äußerlichen Frieden sichert, dessen sie für ihre Wirksamkeit bedarf, sei es auch direkt, weil die Staatsmacht die ihr zu Gebote stehenden Mittel im Kampf gegen Kirchenfeinde, etwa die schismatischen Donatisten in Nordafrika, einsetzt. Und solchen Christen, die schmerzhaft den hiatus zwischen den Forderungen des christlich-kirchlichen Ethos und den Obliegenheiten ihres Amtes empfinden, empfiehlt er mittel- und langfristig den Ausstieg, also die Taufe und dann eine konsequent christliche Existenz, möglichst als Asket.
Es ist deutlich: Zwischen den Forderungen, welche die christliche Religion einem Menschen auferlegt, der zum ewigen Heil gelangen will, und vielen im Zuge innerweltlicher Machtausübung nun einmal notwendigen Handlungen besteht ein Widerspruch, für dessen inneren Ausgleich schlicht die gedanklichen Mittel fehlen. So muss er notwendigerweise äußerlich überbrückt werden, eben durch die Etablierung eines Zweck-Mittel-Gefüges: Der Zweck, also die Lebensinteressen des göttlichen Heilswirkens auf Erden, also der Kirche, heiligt das Mittel, also die weltliche Machtausübung mit allen ihr inhärierenden Härten. Der einzelne Christ, der hier als Herrscher oder als nachgeordneter Träger obrigkeitlicher Befugnisse involviert ist, kann und muss für die Kompensation←38 | 39→ der moralischen Defizite, die er hier zwangsläufig auf sein Haupt häuft, sorgen – sei es in eigener Person, sei es, dass er zurückgreift auf die Gnadenschätze, welche die Himmel, Erde und bald auch das Fegefeuer umspannende Verdienst- und Solidargemeinschaft „Kirche“ für alle ihre Glieder gegen vergleichsweise geringfügige Eigenleistungen bereithält.
III.
Das Weltchristentum und das mönchisch-asketische Christentum lebten so in schiedlich-friedlicher Arbeitsteilung. Erst in und mit der so genannten Armutsbewegung seit dem 11. Jahrhundert wurden die Grenzen durchlässiger, und seitens der in der Welt lebenden Christen wurden die konsequenten Christen in ihren Klöstern oder Eremitenkolonien als lebendige, drängende Anfrage an die Würde und Gültigkeit ihres eigenen Christseins wahrgenommen. Mit sich erneuernder, verschärfender Dringlichkeit machte sich das Wissen um die werthafte Abstufung zwischen zwei Realisationsgestalten christlichen Lebens geltend: Auf der einen Seite stehen die Weltchristen, die Menschenleben in der Gesellschaft sichern und reproduzieren, d. h. heiraten, Kinder in die Welt setzen, für Nahrung, Behausung und innere wie äußere Sicherheit sorgen, auf der anderen diejenigen, welche ihr Leben ganz und gar dem Willen Gottes weihen, indem sie ganz, so die seit dem 11. Jh. immer wirksamer werdende Begründungsfigur, in Armut, Keuschheit und Gehorsam so leben, wie Christus und die Apostel – indem sie „nackt dem nackten Christus folgen“, wie das mit einem Hieronymus-Zitat (Ep. 58) gern plakativ und einprägsam ausgedrückt wird.
Mit neuartiger Vehemenz wurde die konsequente Askese als die vollgültige Realisationsgestalt der christlichen Religion geltend gemacht, und zwar mit revolutionärem impetus: Monastische Lebensregeln drangen in den Weltklerus, also in die kirchliche Organisation der Bischöfe und Priester ein – es entstand die Programmatik der gregorianischen Kirchenreform. Dieses Programm der konsequenten Entweltlichung der Kirche implizierte allerdings keinen Rückzug der Kirche aus der Sphäre der weltlichen Herrschaft, ganz im Gegenteil: Päpste und Bischöfe bestritten die unmittelbare sakrale Würde weltlicher Herrschaft: Die Vorstellung, dass ein Mensch als Stellvertreter Christi fungieren könne, gerann erst im 11./12. Jh. zum exklusiven Würdetitel des Papstes als „vicarius Christi“.9 Die unmittelbare göttliche Einsetzung weltlicher Herrschaft wurde damit massiv←39 | 40→ bestritten, und zwar mit dem Ziel, die Alleinzuständigkeit der Kirche für deren Legitimation außer allen Zweifel zu stellen: Der Herrscher kann als Christ nur dann guten Gewissen seines Amtes mit aller dazu nötigen Entschlossenheit und Härte walten, wenn er sich dazu und dabei von der Kirche bevollmächtigt weiß. Diejenigen Personen, die ihm die sakrale Würde seines Amtes gewähren, sind Menschen, die für sich selbst eben den höheren, besseren Lebensstand der Askese gewählt haben und realisieren. Man kann das, wenn es einem um behältliche Formeln zu tun ist, mit Fug und Recht als politischen Augustinismus bezeichnen.
Trotz aller sakralen Legitimation des Herrscheramtes gerät der Herrscher, der diesen Gedankengängen Raum gibt, als Person, als Christenmensch in innere Distanz zu dem, was er in seinem Amt zu tun hat. Wie jede andere weltliche Betätigung, wie das Vater- und Muttersein, wie der Broterwerb als Bauer oder als Kaufmann findet die Ausübung des Herrscheramtes, aus dem Blickwinkel eines wesentlich an asketischer Verdienstlichkeit orientierten Christentums gesehen, in einer Sphäre statt, die es seinem Träger schwer macht, Gottes Willen derart zu erfüllen, dass ihn das der ewigen Seligkeit versichern könnte. Der Herrscher kann als Herrscher nicht arm sein, ganz im Gegenteil: Er muss äußerliche Güter bewahren und mehren, auch im Kampf und im Blutvergießen. Er kann sich nicht in demütiger und gehorsamer Selbstverleugnung üben, im Gegenteil: Er muss sich und seine Ansprüche durchsetzen – nötigenfalls auch mit den Mitteln der List und der Gewalt. Und keusch sein kann er natürlich auch nicht, denn er hat ja seine Herrschaft nur auf Zeit und muss für eine geordnete Erbfolge sorgen, indem er Kinder zeugt.
Handlungen, in denen er sein Christsein wirklich unter Beweis stellt, Handlungen, die insofern verdienstlich sind, als sie ihm ewigen Lohn einbringen werden, kann der Herrscher nur vollbringen, indem er von seinem Herrschersein Abstand nimmt, etwas tut, das den Umkreis seiner primären Herrscherpflichten sprengt, etwas Extravagantes, woran er sich als um sein Heil besorgter Christenmensch in deutlicher Selbstunterscheidung von seiner Rolle als weltlicher Machthaber darstellt. Die Geschichte des Hohen und Späten Mittelalters ist voll von Episoden, die genau diese Denkweise bezeugen – man denke nur an Friedrich II. von Hohenstaufen, der sich bekanntlich auf dem Sterbebett in eine Mönchskutte kleiden ließ; man denke an die Unsummen, die spätmittelalterliche Herrscher für kirchliche bzw. karitative Stiftungen verausgabten. Wie wenig das mit moderner Sozialpolitik zu tun hat, zeigt, dass in diese Ausgabensparte ebenso der Ankauf von Reliquien gehörte oder auch die testamentarische Fundierung von tausenden von Seelenmessen. Die Tatsache, dass sich das alsbald auch wieder alles standardisiert und ritualisiert hat, dass also die Akte der ostentativen Selbstdistanzierung←40 | 41→ vom Herrscheramt in das Standard-Repertoire der Inszenierungen dieses Amtes Eingang fanden, darf nicht den Blick auf die primären Triebkräfte verstellen. Sie werden besonders gut sichtbar an einer der populärsten Herrscherinnen-Gestalten des Mittelalters, die ihre Herkunft und die in ihr liegenden Aufgaben gerade dadurch religiös vollendete und überhöhte, dass sie all das gleichsam zum Sprungbrett machte, mittels dessen sie sich auf den Gipfel der asketischen Entsagung emporschwang: Elisabeth war Fürstin, Tochter des Königs von Ungarn und schon als Kind mit dem späteren Landgrafen von Thüringen, einem erstrangig wichtigen Reichsfürsten, verheiratet. Zur Heiligen wurde sie, weil sie ihre Rolle als Fürstin sublimierte, ja, travestierte, indem sie sie als Grundlage eines Programms ehrgeiziger religiöser Selbstoptimierung benutzte. Elisabeth war eine fromme Frau. Bei Lebzeiten ihres Mannes erfüllte sie ihre Standespflichten, tat sich aber darüber hinaus mit besonderen Anstrengungen der Demut und der Wohltätigkeit hervor. Als dann ihr Ehemann auf dem Wege ins Heilige Land den Tod gefunden hatte, da entsagte sie dem höfischen Leben. Ihre drei kleinen, offenbar mit Lust und Liebe empfangenen Kinder gab sie weg. Den Verwandten ihres verstorbenen Mannes trotzte sie ein Witwengut ab und errichtete in Marburg ein Spital. Sie entsagte in aller Form ihrem Eigenwillen und begab sich unter die Kuratel Konrads von Marburg, des ersten päpstlichen Ketzer-Inquisitors in Deutschland, und vollbrachte an chronisch Kranken Akte der ostentativen Demut: Sie suchte den Ekel und die Ansteckungsgefahr, und sie gefiel sich in der für sie grell extravaganten Rolle der Köchin. Das hatte sie nicht gelernt, und entsprechend fielen die Ergebnisse ihrer Anstrengungen aus. Das machte aber nichts. Es kam ja auch nicht so sehr darauf an, den Kranken Stärkung oder gar Genuss zu gewähren, sondern die leitende Absicht bestand darin, den freiwilligen Abstieg von der Höhe der Fürstin in die Niederungen des Küchendienstes als frommes, gottgefälliges, verdienstliches Werk zu inszenieren.
Wir ziehen eine knappe, abstrahierende Bilanz: Das ethische Denken der mittelalterlichen Kirche nimmt die Motivation des Menschen zu jeder Art von innerweltlich-zweckbestimmter Arbeit als naturgegeben an. Das Zeugen, Empfangen und Aufziehen von Kindern, der Broterwerb und die ihn ausweitenden und stabilisierenden Formen der Daseinsvorsorge, die Aufrechterhaltung der gegebenen Besitz- und Rechtsordnung gegen innere und äußere Gefährdungen, Spiel und Kunst: All das betreiben Menschen von ganz allein. Die von Gott in Christus als Kirche errichtete Heilsordnung, in der und durch die der Mensch zum Ewigen Leben zu gelangen vermag, steht neben alledem. Sie stellt an den Menschen ihre ganz eigenen Forderungen, die deutlich unterschieden sind von den Anforderungen des Weltlebens mit seinen naturwüchsigen Ordnungen.←41 | 42→ Aus der Warte der Heilsordnung kommen die naturwüchsigen Lebensordnungen und -vollzüge deshalb primär insofern in Betracht, als in ihnen allenthalben die Möglichkeit des Verstoßes gegen die Ge- und Verbote der Heilsordnung lauert, also die Sünde. Damit der nun einmal in der Welt lebende Christ sie vermeiden kann, bedarf er der Instruktion und der Möglichkeit zur (Selbst-)Kontrolle. Der Mose-Dekalog diente in Katechese und Predigt, insbesondere aber in der Beichte als Basis für ins unendliche erweiterte und verfeinerte Schemata, anhand derer individuelle Lebensgänge und überindividuelle Lebensgewohnheiten auf das Maß ihrer Kontamination mit wirklicher oder möglicher Sünde hin überprüft werden konnten. Der Wille Gottes kam in Bezug auf das Leben und Handeln des Menschen in den naturwüchsigen Strukturen seiner sozialen Welt in erster Linie als Limitation und Restriktion in Betracht. Andersherum: Die natürlich-weltlichen Lebenszusammenhänge sind Gefahrenzonen, in welchen für die religiös-moralische Lebensbilanz zwar andauernde Defizite akkumuliert werden, aber keine Überschüsse zu deren Deckung. Gottes positiver, verpflichtender, zu bestimmten Handlungen motivierender Wille distanziert den Menschen von alledem. Er verweist den Menschen, dem es um sein ewiges Ergehen zu tun ist, auf eine Gegen- oder Nebenwelt zu seiner naturwüchsigen Lebenswelt – hier kann er etwas für sich tun, und hier wird ihm dabei auch noch geholfen. Je wichtiger ihm der ewige Sinnbezug seines Lebens wird, desto fragwürdiger wird ihm seine naturwüchsige Lebenswelt; wenn er sich dem Himmel nähern will, muss er zum Erdenleben auf Distanz gehen. Eigentlich gibt es nur einen einzigen Ort, wo der Mensch das wirklich tun kann: Das Kloster, verstanden als institutionalisierte Befreiung von allen innerweltlichen Fesseln zum Gottesdienst in Armut, Keuschheit und Gehorsam.
IV.
Luthers geschichtliche Bedeutung liegt darin, dass er hier nicht wie all die vielen Kirchenreformer vor, neben und nach ihm an Einzelheiten gemäkelt und gebessert hat, sondern dass er, schöpferisch an und mit bestimmten paulinischen Gedankenkomplexen weiterarbeitend, ein wesentlich neuartiges Gesamtbild von Gott und seinem Handeln am Menschen ausgearbeitet hat. Ich zeichne – sehr abstrakt – wesentliche Hauptlinien nach.
Gottes worthafte Selbstmitteilung besteht nicht darin, dass er ein Gefüge von Möglichkeitsbedingungen und Hilfen errichtet, mit dessen Hilfe der Mensch sich sein ewiges Heil zu erarbeiten vermag. Wenn Luther von Gottes Wort spricht, dann meint er vielmehr den worthaften, also den Menschen als vernünftiges, auf worthaftes Sichverstehen hin angelegtes Wesen beanspruchenden Zugriff Gottes←42 | 43→ auf den je einzelnen, konkreten Menschen in dessen Gewissen. Gottes in der Bibel ein- für allemal zuverlässig dokumentierte Selbsterschließung ereignet sich so immer neu als Gottes worthaftes Handeln an individuellen Menschengewissen. Luther kennt also eigentlich keine objektiven, abgesehen von ihrer je individuellen An- und Zueignung unabhängigen „Heilstatsachen“ oder heiligen Gegenstände, sondern diese werden immer nur insofern heilsam oder heilig, als in und mit ihnen Gottes heiliger, heilsamer Wille sich in und an einem menschlichen Gewissen zur Geltung bringt.10 Wenn Luther von Gottes Wort redet, dann meint er insofern keine statische, objekthafte Größe, als er damit formelhaft die Erfahrung von Gottes dynamischem, der worthaften Rechenschaft fähigen Willenswirken bezeichnet, die bestimmten, individuellen Menschen in ihrem Gewissen widerfährt, indem sie sich derart angesprochen erfahren, dass sie sich diesem Ergriffenwerden nicht zu entziehen vermögen. So meint Wort Gottes eben kein Informiertwerden über Tatbestände oder Optionen, sondern ein lebendiges inneres, geistiges Bestimmtwerden: Wem sich Gott im Wort des Gesetzes, also in der Forderung der völlig selbstlosen, uneigennützigen Gottes- und Nächstenliebe, vernehmlich macht, der empfängt nicht Informationen zum Thema Sünde oder Ratschläge zu deren Vermeidung, sondern er wird in seinem Gewissen zum Verstehen seiner selbst als Sünder genötigt – nicht durch Druck und Zwang, sondern durch das Widerfahrnis einer Plausibilität, die ihn im Hier und Jetzt seines Lebensstandes und Lebensgeschicks gleichsam zum Belastungszeugen gegen sich selbst macht und ihn dem Zorn Gottes ausliefert, indem er sich genötigt sieht, zu Gottes Nein gegen sich sein Ja zu sagen. Und im Vernehmen des Evangeliums erfährt sich der solchermaßen durch das Gesetz Erschütterte als Adressat der Selbstvergegenwärtigung von Wort, Weg und Werk Jesu Christi – so, wie Luther oftmals provokant formuliert, als ob Jesus Christus allein um dieses einzelnen Menschen an seinem konkreten Lebensort und in seinem individuellen Lebensgeschick willen in die Welt gekommen wäre. Er vernimmt also das Evangelium so, dass es Gottes erlösendes, befreiendes Ja zu sich als individueller Person ist, zu einer individuellen Person, welche in ihren sozialen Bezügen steht, die sich ihr im Lichte des sich ihm zueignenden, ihn aneignenden Evangeliums als beanspruchender und schenkender Gotteswille zeigen: Das meint die Auslegung des ersten Glaubensartikels im Kleinen Katechismus.
Es ist diese Dramatik des Ergriffenwerdens von Gott, dieses „bejahte Gotterleiden“ (Em. Hirsch), für die Luther den herkömmlicher Weise ganz anders gefüll←43 | 44→ten und konnotierten Terminus „Glaube“ reserviert, wobei er originär und spezifisch paulinische, schon im Frühen Christentum singulär dastehende Gedanken weiterführend aufnimmt. Und es ist der so verstandene Glaube, mit dem das Christsein, verstanden als ein lebenslanges dynamisches Ergriffenwerden, also als Christwerden, erschöpfend bezeichnet ist. Der Glaube ist die subjektive Seite des Prozesses, in dem Gott seinen schöpferischen Willen an einem Menschen in die Tat umsetzt, und insofern ist der Glaube die Erfüllung des göttlichen Willens schlechthin. Er und nur er macht den Menschen so, wie Gott ihn haben will, weil der Mensch sich in ihm wahrhaftig erkennt und ineins damit Gott wahrhaftig als seinen Schöpfer und Herrn anerkennt.
Diesen Glauben, das wortgewirkte Werk Gottes im Menschen, identifiziert Luther im fast schon spielerischen Anschluss an gängige katechetische Sprachtraditionen des Spätmittelalters mit dem Gehorsam gegen das I. Dekalog-Gebot und zieht daraus Schlüsse, die eine neuartige Gestalt des christlichen Ethos begründen: „Dann in diesem werck mussen alle werck gan / und yhrer gutheit gleich wie ein lehen von ym empfangen“11. Die sittliche Qualität einer Handlung bemisst sich also nicht an einem äußeren Normenkanon, sondern allein an der innerlichen Verfasstheit ihres Urhebers. Im Glauben erfüllt der Mensch den Willen Gottes, weiß sich mit ihm in Übereinstimmung. Und diese Übereinstimmung ist zugleich der Sachgrund und der Erkenntnisgrund dafür, dass bzw. ob eine konkrete Handlung, in der der Mensch sich selbst vollzieht, gut ist:
dan findet er sein hertz in der zuuorsicht / das es gote gefalle / ßo ist das werck gut / wan es so gering were als ein strohalmen auffheben / ist die zuuorsicht nit da / odder tzweiffelt dran / ßo ist das werck nit gut / ob es schon alle todten auffweckt / unnd sich der mensch vorbrennen ließ12.
Und es sind nicht allein die quantitativen Differenzen zwischen den Werken, die aus dieser Perspektive ihren kategorialen Rang einbüßen; dasselbe gilt auch für qualitative Differenzen wie „heilig“ und „profan“:
In dießem glauben / werden alle werck gleich / und ist einß wie das ander / fellet ab aller unterscheidt der werck / sie sein groß / kurtz / lang / viel adder wenig. Dan nit die werck von yrer wegen / sundern vonn des glaubens wegen / angenehm seind / welcher einig und on unterscheid / in allen und iglich wercken / ist. Wirckt / und lebet / wieuil und unterschidlich sie ymmer sein / gleich wie alle glidmaß von dem heubt / leben / wircken / und den namen haben13.←44 | 45→
Gottes souveränes Willenswirken in seinem Wort ergeht nicht als Aufrichtung eines Ordnungsgefüges oder als Einweisung in ein solches ins Allgemeine, sondern es betrifft und bestimmt konkrete einzelne Menschen in ihrer Lebensgeschichte und ihrem Lebensgeschick, also immer an einem bestimmten sozialen Ort innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft. Anders gewendet: Gottes worthaftes Wirken im Gewissen erschließt dem je einzelnen Menschen sein Lebensgeschick und seinen geschichtlich-sozialen Lebensort als göttliche Anrede. Die Forderung der gänzlich vorbehaltlosen, selbstlosen Gottes- und Nächstenliebe, also die Forderung der lückenlosen Willensgemeinschaft mit Gott, ist immer schon individualisiert in den Lebensgeschicken und in den Lebensbezügen eines einzelnen Menschen.
Dem einzelnen Menschen, dem durch das Wort Gottes sein Lebensort, sein Lebensgeschick zum unleugbaren Indiz dafür wird, dass er aus eigenen Kräften der im Gewissen bejahten göttlichen Forderung nie wird gerecht werden können, wird genauso individuell Jesus Christus in seinem Wort und in seinem Geschick zum wirksamen Zuspruch der Vergebung. Der wirksame Zuspruch der Vergebung wird im Menschen zum Glauben, in dem sich der konkret-individuelle Mensch in seinem Geschick und an seinem Ort von Gott bejaht weiß, allein um Jesu Christi willen.
Wie ihn die Erlösung als anklagendes, freisprechendes und ermächtigendes Gotteswerk mitten in seinem Geschick und in seiner Geschichte, also inmitten der gegebenen sozialen Strukturen trifft, in denen er lebt, so beansprucht Gott ihn auch genau an diesem seinem gegebenen Lebensort. Der Glaube stellt den Menschen nicht an einen anderen Lebensort. Er weist ihm auch nicht den Weg in eine neu- oder andersartige Sonderwelt. Er entfremdet ihn also nicht seiner bisherigen Lebenswelt, aber er lässt ihn diese auf neue Weise wahrnehmen, nämlich als den Ort, an dem Gott seinen Dienst will – in der Freiheit des Glaubens, der für sich nichts mehr erlangen oder verdienen will noch muss und daher frei ist, sein Leben in den gegebenen Strukturen im Dienste der selbstlosen Nächstenliebe zu führen.
Dem Glauben wird also nun das Gefordertsein durch die naturwüchsigen sozialen Strukturen zum göttlichen Ruf – zum Beruf (s. o.) in des Wortes religiösem Sinne: Es war Luther, der dieses Substantiv aus der technischen Terminologie des Mönchtums herausgelöst und als religiöses Interpretament innerweltlicher geordneter, zielgerichteter Tätigkeit auf neue Weise gefüllt hat.
Um das zu konkretisieren und für die ethischen Denkgewohnheiten seiner Zeitgenossen begreiflich zu machen, arbeitet Luther mit einem Verständnis des Dekalogs, das der Sache nach ganz neuartig ist, in den Formulierungen jedoch auf Schritt und Tritt an allbekannte Gedankenverbindungen und Redewendun←45 | 46→gen anknüpft. Der Dekalog, zuvor, wie gesagt, von Bedeutung als Matrix aller diagnostischen Instrumentarien, die mögliche und tatsächliche sündhafte Verstrickungen anzeigen, vermisst und kartiert in dieser neuen Verwendungsweise gleichsam das Gesamtgebiet menschlichen Lebens in seinen gegebenen sozialen Bezügen als Gebiet, auf dem der Glaube seine Handlungsfelder findet.
Das heißt nun weiter: Luther entfaltet das christliche Ethos nicht als einen spezifisch christlich sein sollenden materialen Normenkanon oder als eine Fundamentalkritik am gegebenen ethischen Bewusstsein seiner Zeit, sondern er will lediglich zeigen, wie der Glaube in den gegebenen, gewachsenen Formationen des objektiven Geistes, in welchen er sich vorfindet, den Ort seines Tätigwerdens und Selbstvollzuges hat.
Das heißt für unser Thema: Auch Menschen, die in der vorgegebenen gesellschaftlichen Ordnung obrigkeitliche Ämter innehaben, will er diese als den Ort zeigen, an denen Gott ganz konkret und individuell ihren Dienst haben will. Das gilt auch und gerade von allen Diensten und Ämtern, die mit weltlicher Herrschaft befasst sind; Luther knüpft sie an das IV. und V. Dekaloggebot an. Und daraus folgt:
Denn das schwerd und die gewallt / als eyn sonderlicher gottis dienst / gepürt den Christen zu eygen / fur allen andern auf erden. […] Wie nu eyn man kan Gott dienen ym ehlichen stand / am ackerwerck oder handwerck / dem andern zu nutz / und dienen müste / wenn es seynem nehisten nott were / also kan er auch ynn der gewallt Gott dienen / und soll drynnen dienen / wo es des nehisten notturfft foddert / Denn sie sind Gottis diener und handwercks leutt / die das böße straffen und das gutte schützen14.
Damit ist keinesfalls der Kirche oder der Christengemeinde ein sozialmoralischer Elitestatus mit innergesellschaftlichem Dominanzanspruch („Wächteramt“) zugesprochen, sondern die Stoßrichtung des Arguments zielt auf den einzelnen Christen, dem sich die ganz schlichte Arbeit in den gegebenen Strukturen und nach den gegebenen Regeln als Ort seines Gottesdienstes erschließt: „ Darumb wenn du sehest / das am henger / böttell / richter / herrn oder fursten mangellt / und du dich geschickt fundest / solltistu dich datzu erbieten und darumb werben“15.
Alles, was mit der Ausübung weltlicher Obrigkeit zu tun hat, ist damit als „Beruf“ in des Wortes anspruchsvollem Sinne qualifiziert – aber eben nicht in platter, vordergründig-gegenständlicher Objektivität, sondern dann und nur dann, wenn einem Christenmenschen sich sein faktisches Gestelltsein an einen solchen sozialen Ort als Gottes Ruf erschließt.←46 | 47→
Sehr schön wird dieses Verständnis deutlich in Luthers am übelsten beleumundeter Schrift aus dem Bauernkrieg.16 Dort ermutigt er alle Inhaber weltlicher Gewalt zum drakonischen, brutalen Niederschlagen der Bauernaufstände. Und dann geht er in einem deutlich hiervon abgesetzten Gedankengang eigens auf solche Obrigkeitspersonen ein, die sich dezidiert als Christen verstehen. Sie sollen zunächst einmal die Aufstände selbst im Lichte der Frage nach höheren Ursachen deuten: Erschließen sie sich bei ernsthaftem Nachdenken als zugleich strafende und gnädige göttliche Fingerzeige, die auf Schuld und Versäumnisse hinweisen und Besserungen anmahnen? Sodann soll er sich und sein Geschick ganz und gar dem göttlichen Ratschluss anheimstellen.
Wenn nu das hertze so gegen Gott gerichtet ist / das man seynen götlichen willen lesst wallten / ob er uns wölle oder nicht wölle zu Fürsten und herren haben / soll man sich gegen die tolle bawren zum uberflus (ob sie es wol nicht wird sind) zu recht und gleichem erbieten. Darnach wo das nicht helffen will / flux zum schwerd greyffen. Denn eyn Fürst und herr mus hie dencken / wie er Gottes amptmann und seyns zorns diener ist Ro. 13 dem das schwerd uber solche buben befolhen ist17.
Wie gesagt: Jeder Gedanke an ein spezifisches Regelwerk, das den christlichen Fürsten von anderen unterschiede, ist absent. Was den christlichen Fürsten von anderen Standesgenossen unterscheidet, ist lediglich, dass er sein Handeln in und nach den von ihm vorgefundenen Ordnungen als Gottes ihm persönlich gegebenen Beruf, als den Ort der Verwirklichung seiner christlichen Existenz sieht und deswegen seine Standespflichten, die er materialiter mit allen seinen Amts- und Standesgenossen teilt, besonders gewissenhaft erwägt und erfüllt. Er ist Christ nicht neben seinem Fürstsein oder trotz seines Fürstseins, sondern als Fürst – ebenso, wie er es als Ehemann und Vater ist und als Bauer, Handwerker, Gelehrter oder Pfarrer wäre.
V.
Als Luther während des Augsburger Reichstags 1530 auf der Veste Coburg weilte und, ähnlich wie neun Jahre zuvor auf der Wartburg, in der erzwungenen Distanz zum Berufsalltag in einen förmlichen literarischen Produktionsschub verfiel, da verfasste er auch eine ausführliche Auslegung des 82. Psalms in deutscher Sprache.18 Die atl. Vorlage imaginiert eine Gerichtsszene aus der religiösen←47 | 48→ Vorstellungswelt des Alten Orients: Der Eine Gott wendet sich an die weltlichen Machthaber, die ihrerseits als ihm nach- und untergeordnete Götter prädiziert werden. Sie haben ihre Amtspflichten vernachlässigt, das Recht nicht geschützt und sich der Armen und Geringen nicht angenommen. Und so gilt ihnen beides „Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter und allzumal Söhne des Höchsten“ – aber auch: „aber ihr werdet sterben wie Menschen und wie ein Tyrann zugrunde gehen“ (V 6).
Hieran knüpft Luther weit ausgreifende Erwägungen zu den Pflichten und den Rechten weltlicher Obrigkeit. Für unseren Zusammenhang sei nur auf einige wenige hervorstechende Einzelheiten hingewiesen. Einmal: Luther zählt die weltlichen Obrigkeit zu den von Gott gestifteten Ständen in der naturwüchsigen sozialen Welt, in der „gemeine“19, die Gott selbst eingerichtet hat und erhält. Die Obrigkeit ist hier insofern von elementarem Rang, als sie äußerlich Ordnung hält und insofern dafür sorgt, dass die für jedes Leben notwendige Sozialität nicht der Sünde und ihren Folgen zum Opfer fällt. Die institutionalisierte Kirche kommt nicht wie bei Augustin als übergeordneter Zweckbezug weltlicher Herrschaft in Betracht, sondern als ihr Aufgabenbereich – sie gehört als soziale Gegebenheit eben in Gottes Reich „zur Linken“: Eine Obrigkeitsperson, die ihr Amt richtig führen will, muss dafür sorgen, dass„Gotts Wort geschutzt und gehandhabt wird“20. Wie kann ein Mensch im Obrigkeitsamt das tun? Nun, er muss „einen rechten frumen, gottfürchtigen pfarherr odder prediger“21 fördern und erhalten. Das ist eine ganz unscheinbare, unspektakuläre Aufgabe, zumal im Vergleich mit dem Errichten prachtvoller Kirchenbauten:
Aber eine marmel kirchen bawen, gülden kleinot schencken, den todten steinen und holtz dienen, das gleisst, das scheinet, das heissen königliche, fürstliche tugent. Wolan, las scheinen, las gleissen; ynn des thut mein ungleissender pfarherr die tugent, das er Gottes reich mehret, den himel füllet mit heiligen, die hellen plundert, den teuffel beraubt, dem tode weret, der sunden steuret, darnach die welt unterricht und tröstet, einen iglichen ynn seinem stande, erhellt frieden und einigkeit, zeucht fein jung volck auff und pflantzt allerley tugend ym volck. Und kurtz, eine newe wellt schaffet er und bawet nicht ein vergenglich elendes haus, sondern ein ewiges schönes paradis, da Gott selbs gerne ynne wonet22.
All das kann der Inhaber des Amts weltlicher Obrigkeit befördern – nicht etwa in extravaganten Sonderanstrengungen neben seinen Alltagspflichten oder ober←48 | 49→halb ihrer, sondern schlichtweg in der Ausübung seines Amtes. Luther nimmt also die herkömmliche Erwartung auf, dass ein Fürst reiche Stiftungen für äußerlichen Kultus leisten muss – man denke etwa an Karl IV. oder auch an die riesige Reliquiensammlung Friedrichs des Weisen von Sachsen. Aber eben im Anknüpfen wird der Bruch durch radikale Umakzentuierung vollzogen: Es geht nicht um aufwendigen äußeren Kultus mit repräsentativer Prachtentfaltung, in der ein Herrscher sich von seinem Herrschersein distanziert, indem er aparte „Gute Werke“ tut, sondern um effizientes, planvolles volkspädagogisches Wirken im Rahmen der Erfüllung seiner Berufspflichten.
Der Prediger ist sodann seinerseits verpflichtet, den Fürsten nötigenfalls zu kritisieren: Richtschnur und Grundlage ist das „Wort Gottes“: Denn das Predigtamt ist „nicht ein hofe diner oder baurn knecht. Es ist Gottes diener und knecht, und sein befelh gehet uber herrn und knecht“23. Diese Kritik ist notwendig, denn das Lob weltlicher Obrigkeit gilt immer primär der göttlichen Stiftung und allenfalls in zweiter Linie den faktischen Amtsinhabern. Luther führt im Anschluss an Ps 82,6 („Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter und allzumal Söhne des Höchsten“) aus :
Es ligt aber alles ynn dem wort ‚Ich hab gesagt‘. Denn wir nu offt gesagt, das Gottes wort heiliget und vergöttet alle ding, dazu es gesetzt wird. Darumb heissen solche stende, so mit Gottes wort gestifftet sind, alles heilige, Göttliche stende, ob gleich die personen nicht heilig sind. Als Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Herr, Fraw, Knecht, Magd, Prediger, Pfarherr, etc. sind alles heilige, Göttliche stende und möchten doch drinnen wol die personen buben und schelcke sein. Also weil Gott die Oberkeit hie mit seinem wort stifftet und fasset, heissen sie billich Götter und Gottes kinder umb des Göttlichen standes und Gottes worts willen und sind doch böse buben, wie er hie klagt und schilt24.
Darum ist das Amt weltlicher Obrigkeit ein solches, in dem der Christ seinen Glauben realisieren kann und muss – indem er nach den jeweils geltenden geschichtlich gewordenen Gesetzen und Kunstregeln tut, was dieses Amt ihm ermöglicht und von ihm verlangt. Mitten in den Kerngeschäften seines Amtes greift Gottes Wille nach ihm, und nicht in irgendeinem Raum neben, über oder unter ihnen.
Luther verdeutlicht das durch den ironischen Hinweis auf Elisabeth von Thüringen und ihre demonstrativen Wohltätigkeitsübungen – „ein trefflich ding, das da gleisset und kan augen auff sperren und sich rhumen lassen uber alle←49 | 50→ tugent“25. Aber wenn der Fürst sich ganz an den Kernbereich seiner Tätigkeiten gibt und dafür sorgt, dass in seinem Territorium in Handel und Wandel alles rechtmäßig zugeht und den Schwachen und Benachteiligten ihr Recht wird, dann tut er viel mehr: „Was ists aber gegen diese göttliche tugent, da ein fürst ohn unterlas wol grösser und mehr dienst thut allen, die arm sind odder sonst arm werden müsten. Dis lobet und rhümet niemand, Denn niemand kennets noch achts“26. Die Wertsetzungen einer Leistungs- und Verdienstfrömmigkeit, die sich in einer kirchlichen Gegen- und Sonderwelt mit eigenen Regeln und Gesetzen auslebt, verstellen den Blick auf die wahrhaft christlichen Handlungsoptionen im Amte weltlicher Obrigkeit:
Da sihe nu, welch ein Spital solcher fürst bawen kan und darff widder stein noch holtz, widder bawleute, noch stifft odder rente dazu machen? Es ist freylich an yhm selber ein köstlich, gut werck, Spital stifften und armen leuten helffen. Aber wenns so gros wird, das ein gantz land und sonderlich die rechten armen desselbigen geniessen, So ists ein gemein, recht fürstlich, ja ein himelisch und Göttlich Spital27.
VI.
Während Luther auf der Coburg wie ein Besessener schrieb, wurde in Augsburg dem Kaiser und dem Reichstag ein Positionspapier überreicht, in dem die der Reformation nach Wittenberger Typus Raum gebenden Reichsstände ihre kirchlichen Reformmaßnahmen und deren Begründungen darlegten und rechtfertigten – die Confessio Augustana, späterhin das wirkungsreichste normative Dokument der lutherischen Reformation. Im 16. Artikel28 wird hier die reformatorische Auffassung weltlicher Obrigkeit dargelegt – in erster Linie gegen deren täuferische Infragestellung, aber auch gegen deren herkömmliche mönchisch-papstkirchliche Abwertung, mit der das Täufertum sehr viel enger verwandt war, als es nicht nur dessen zeitgenössische Protagonisten, sondern auch manche moderne Historiker wahrhaben wollten und wollen. Das Evangelium, so wird betont, löst weltliche Strukturen und Institutionen wie den Hausstand und die öffentliche Ordnung keineswegs auf, sondern fordert, „sie zu bewahren als Ordnungen Gottes und in diesen Ordnungen die Verantwortung des Glaubens auszuüben“29.←50 | 51→ Im lateinischen Text steht „exercere caritatem“, was gewohnheitsmäßig mit „Liebe üben“ übersetzt wird, aber für unsere Sprachgewohnheiten das Gemeinte schlechterdings nicht wiederzugeben vermag, da wir nun einmal den Begriff der Liebe immer mit einer bestimmten positiven emotionalen Regung konnotieren, welche dem Begriff der caritas ursprünglich fremd ist. Und so würde eben bei der Übersetzung mit Liebe alles schief, wenn man sich vor Augen führt, was die CA damit praktisch meint, nämlich dass es Christenmenschen „erlaubt ist, obrigkeitliche Ämter auszuüben, Gerichtsverfahren durchzuführen, Streitsachen nach kaiserlichen und anderen gültigen Gesetzen zu entscheiden, rechtmäßig Bluturteile zu fällen, gerechte Kriege zu führen, Kriegsdienst zu leisten, rechtmäßig Verträge abzuschließen, Eigentum zu haben, Eide zu leisten, wenn die Obrigkeit das fordert, eine Frau heimzuführen, zu heiraten“30. Sehr viel näher an das Gemeinte könnte eine (selbstverständlich rein terminologische!) Anleihe bei J. G. Fichte heranführen: Nach reformatorischem Verständnis wird die geschichtlich gewachsene und sich unablässig verändernde soziale Welt zum „versinnlichte[n] Materiale unserer Pflicht“31.
Es ist deutlich: Luthers Aufwertung des Regierens zum Beruf ist ein Teilaspekt in einer radikalen Neubestimmung des christlichen Ethos, nämlich der Verabschiedung der Vorstellung, es gebe ein durch bestimmte materiale Normen ausgezeichnetes christliches Sonderethos, das dem Christen bestimmte gesellschaftlich akzeptierte Tätigkeiten gar nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zugesteht und ihm im Gegenzug bestimmte aparte Felder spezifisch verdienstlichen Handelns eröffnet.
Wird dadurch das christliche Ethos profaniert, oder wird dadurch das weltliche Ethos geheiligt? Dieser Streit ist so alt wie die konfessionelle Ausdifferenzierung der abendländischen Christenheit, und er wird nie gelöst werden, solange sie fortdauert, weil sie sich an keinem geringeren Gegenstand entzündet hat als am christlichen Verständnis Gottes und seines Willens. ←51 | 52→ ←52 | 53→
1 Der folgende Essay lag einem Vortrag zugrunde, den ich am 19. Mai 2015 in der Alten Reformierten Kirche in Wuppertal-Elberfeld im Rahmen der Reihe „UM GOTTES WILLEN! Macht und Religion in der Geschichte“ gehalten habe. Ich verifiziere im Folgenden ausschließlich wörtliche Zitate. Wollte ich ansonsten über allbekannte und deshalb nutzlose Trivialitäten hinaus Belege geben, so würde das die Grenzen dieses Beitrags sprengen. Dass mir beim Durchdenken und Rekonstruieren der Zusammenhänge Ernst Troeltschs „Soziallehren“ vor Augen gestanden haben, dürfte auch ohne weitläufige Zitationen keinem Kundigen verborgen bleiben – gerade an Stellen, wo ich zu ganz anderen Ergebnissen komme als Troeltsch.
2 So pointiert Treitschke, Heinrich von: „Luther und die deutsche Nation“ (1883). In: id.: Aufsätze, Reden und Briefe Bd. I, hg. v. Schiller, K. M. Hendel: Meersburg 1929, S. 233–249, hier S. 241.
3 WA 11, S. 263 (Von weltlicher Obrigkeit, 1523).
4 Op. cit., S. 262.
5 Op. cit., S. 268; s. auch S. 273.
6 WA 18, S. 358 (Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern, 1525).
7 Dieses Selbstmissverständnis, dem Luther mit geschichtsnotwendiger Zwangsläufigkeit erlag, ist über den Einzelfall hinaus bedenkenswert; außergewöhnlich anregend in dieser Hinsicht ist Holtzmann, Heinrich Julius: „Buchreligion und Schriftauslegung“. In: Archiv für Religionswissenschaft 3/1900, S. 324–357.
8 Was durch dieses Kompensationsdenken (klassisch 2. Clem 16,4) aus der Ethik wird, das lässt sich unschwer im Rückgriff auf Schleiermachers Akademie-Abhandlung „Über den Begriff des Erlaubten“ (KGA I/11, S. 491–514) ermessen.
9 Cf. Harnack, A. v.: Christus praesens – Vicarius Christi. Eine kirchengeschichtliche Skizze (Sitzungsberichte der Berliner Akademie, Philosophisch-Historische Klasse 1927 Heft 4). Walter de Gruyter: Berlin 1927.
10 Es ist alles andere als nebensächlich, dass Luther auch im und nach dem Streit mit den Schweizern und Oberdeutschen ausdrücklich keine Realpräsenz Christi in den Abendmahlselementen extra usum lehrt!
11 WA 6, 204 (Sermon von den Guten Werken, 1520).
12 WA 6, S. 206 – man beachte die umbiegende Anspielung auf 1. Kor 13,3!
13 Ibid.
14 WA 11, S. 258 (Von weltlicher Obrigkeit, 1523).
15 WA 11, S. 255.
16 Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern (1525), WA 18, S. 357–361.
17 Op. cit., S. 360.
18 WA 31/I, S. 189–218.
19 Op. cit., S. 193 u. ö.
20 Op. cit., S. 197.
21 Op. cit., S. 199
22 Ibid.
23 Op. cit., S. 198.
24 Op. cit., S. 217.
25 Op. cit., S. 201.
26 Ibid.
27 Op. cit., S. 200.
28 Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 19767, S. 70 f.
29 Op. cit., S. 71 (lat. Fassung in eigener deutscher Übersetzung).
30 Op. cit., S. 70.
31 Fichte, J. G.: „Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung“ (1798). In: id: Sämmtliche Werke, hrsg. von I. H. Fichte, Bd. V. Neudruck. Walter de Gruyter: Berlin 1971, S. 177–189, hier: 185. Cf. auch id: „Appellation an das Publikum“ (1799). In: op.cit., S. 193–238, hier: S. 211.