Folkart Wittekind

Zur Genese der Theologie Barths in der Abwendung von Wilhelm Herrmann

Abstract Starting with that kind of individualist-ethical theology which Barth developed before World War I following Wilhelm Herrmann, this essay will show how Barth’s critique of human ways of normative assignment in ethics leads to a new theological foundation of ethics, now reflecting on the foundational function of normative orientation. This will be elaborated and explained by reflecting its Christological, Trinitarian and scripture related dimensions. Normative structures of justification and historical-developmental notions will be understood as deeply intertwined. Out of this process, the fundamental notion of theology developed, which Barth had promoted since 1919.

Einleitung

Weite und zentrale Teile des Werks von Hartmut Ruddies gelten der Frage nach den historischen Umständen, Bedingungen, Inhalten und Konsequenzen des theologiegeschichtlichen Übergangs von der liberalen zur dialektischen Theologie.1 Die zentrale Figur in diesem Kontext ist dabei immer wieder Karl Barth und die Entwicklung seiner Theologie gewesen. Im Blick auf die Arbeiten Ruddies’ fällt allerdings auf, dass er die historische Frage nach der Genese der dialektischen Theologie immer zugleich mit der Frage nach der Sachhaltigkeit der Theologie im Sinne einer Eigenständigkeit der Religion verknüpft. Bei dem Versuch, diese von ihm immer wieder behauptete „eigentümliche Realität der Religion im Ensemble der Kultur“2 näher zu bestimmen, fällt allerdings auch auf, dass hier erstaunlich wenig systematische Anstrengungen unternommen wurden.←141 | 142→ Insbesondere der historische Liberalismus Harnacks und Troeltschs wird tendenziell als ein ‚Kulturprotestantismus‘ verstanden, der die Religion in die Kultur aufgelöst und so das Eigene der Religion vernachlässigt habe. Gegner ist hier die Münchener Barthdeutung und Grafs historismustheoretische Troeltschdeutung. Dagegen wird die Bedeutung der liberalen Theologie im eigentlichen Sinn darin gesehen, die Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Religion im Sinne der Eigenständigkeit selbst bereits erkannt und gestellt zu haben. Dafür steht der Name Wilhelm Herrmann, der an einer individualitätsbezogenen Lesart der Religion festhielt und die Innerlichkeit als Refugium des Eigenen der Religion für unauflösbar in historische Zusammenhänge erklärte. (Allerdings sind auch bei Harnack und Troeltsch entsprechende Elemente neben der Historisierung und Inkulturation von Religion erkennbar.)3 Barth als Schüler Herrmanns hat zunächst an einer solchen Denkweise Anteil, entwickelt aber in Absetzung auch von dieser Innerlichkeitsthese der liberalen Theologie eine eigentlich ‚sachbezogene‘ Theologie, die Gott und seine Offenbarung in den Mittelpunkt der Bestimmung des Religiösen stellt.4

Ruddies hat keinen Zweifel daran gelassen, dass Eigenständigkeit der Religion nicht kulturelle Abständigkeit bedeuten darf. Dass Religion für die Welt dazusein hat, ist das allein mögliche Feld ihres Allgemeingültigkeitsanspruchs unter modernen Bedingungen. Wenn sie zwar für die Welt, aber nicht aus der Welt ist, fragt sich, wie die Sache, um die es der Religion geht, überhaupt bestimmt werden soll. Hier hat Ruddies mit identitäts- und grundsetzenden Argumenten gearbeitet: Gott sei das „Rekursfundament“ für die Behaup←142 | 143→tung einer „Priorität des göttlichen Handelns“5 vor allem nachgängigen menschlichen Handeln. Doch welche Funktion für die Welt hat dieses göttliche Handeln? „Es gibt gegenüber der sittlichen Anstrengung des Menschen, die allemal in der Misere enden muß, ein überlegenes Handeln Gottes, dessen erster und primärer Zweck genau diese negative Erkenntnis unserer ethischen Misere ist, dessen zweiter und primordialer Sinn unser wirkliches (und also illusionsfreies) und wahrhaftiges (und also trugfreies) Leben ist.“6 Damit kann der Sinn der Religion als Kritikermöglichung bestimmt werden. Und zwar einer solchen Kritik, die grundsätzlich ist, weil sie nicht in die Kultur – als Ensemble des Kritisierten – oder in das menschliche Leben – als zu kritisierender Akteur – hineingehört. Die Kritik darf nicht als Selbstkritik der Kultur und des Menschen erklärt und begründet werden, weil dann immer noch der Verdacht ideologischer Befangenheit bestünde. Damit wird eine Grundsätzlichkeit und Allgemeingültigkeit der Kritik beansprucht, die nicht funktional, erkenntnistheoretisch oder inhaltlich eingeholt und gerechtfertigt werden kann. In diesem Sinn wird die Sachhaltigkeit der Theologie Barths, der Bezug auf das Wort Gottes, gedeutet.

Ruddies’ Barthianismus erweist sich damit als ein Kind der 1960er Jahre und der theologischen Rezeption der Ideologiekritik. In der Aufeinanderbeziehung von ‚Religion für die Welt‘ und ‚grundsätzlicher Kritik‘ wird die Modernität der theologischen Theoriebildung einsichtig. Barths Theologie wird damit in einer grundsätzlichen Weise überfrachtet, die ihren historischen Ort nicht mehr gut erkennen lässt. Insbesondere die Entwicklung der Theologie des jungen Barth muss an einen Ort geführt werden, an dem politik-, sozial- und kulturtheoretische, religionsphilosophische, theologiegeschichtliche, biographisch-genetische und fundamentaltheologische Ansprüche vereint beantwortet werden können. Die Vereinigung besteht in einer theologischen Konstruktion eines nicht kritisierbaren Grundes genereller Ideologiekritik. Dieser kann dann aber nur noch behauptet werden, und zugleich muss gerade diese Behauptung als Sachhaltigkeit der Theologie ausgegeben werden, damit das Konzept funktioniert.←143 | 144→

Dagegen soll im Folgenden noch einmal7 der theologischen Frage nach der frühen Entwicklung der Theologie Barths nachgegangen werden. Drei Aspekte seien vorweg dafür genannt. Der erste Aspekt betrifft die Verfügbarkeit der Schriften Barths von 1914–1921 in dem 2012 edierten Band der Barth-Ausgabe.8 An ihn haben sich eine Reihe von neuen Zusammenfassungen alter Thesen angehängt.9 Er bietet die Gelegenheit, das Bild der Entwicklung Barths quellengestützt auf seine theologischen und theoretischen Überlegungen dieser Zeit zu präzisieren. Das Zweite ist die Reichweite der Theologie Barths. Wenn man nicht die Wort-Gottes-Variante der Offenbarungstheologie zum Maßstab der Dinge machen will, dann gilt es zu akzeptieren, dass Barth innerhalb einer bestimmten Theologietradition (der ritschl-herrmannsch-ethischen) argumentiert und auch seine ‚eigene‘ Theologie in diesem bestimmten Traditionsstrang verstanden und erklärt werden muss. Wie Barths Sicht des Sozialismus damit zusammenhängt, ist ein Unterkapitel dieser Bestimmung gerade des Besonderen und eben nicht theologisch für allgemeingültig zu Erklärenden von Barths Theologie. Und drittens: Barths Theologie steht nicht für die eine sachhaltige theologia perennis, sondern für eine bestimmte Variante der Selbstbesinnung der modernen Theologie. Wenn man schon von einer gewissen paradigmatischen Funktion seiner Theologie meint sprechen zu müssen, dann dürfte sie vor allem darin liegen, dass sie (als eine von vielen zeitgleichen Neuansätzen) unter radikal pluralen Bedingungen des Denkens und nach dem Verlust einer bewusstseins- und geistbezogenen Einheitskonstruktion die Frage nach dem Wesen der Theologie als einer eigenständigen und auf die Religion als einem radikal eigenständigen Feld menschlicher Sinndeutung bezogenen Wissenschaft stellt. Die Frage nach der Theologie als Gegenstand der Theologie löst die alte Frage nach einer theologischen Begründung des Religionsbegriffs ab.10 Dieses Paradigma mag dann inner←144 | 145→halb einer bestimmten Form von systematischer Theologie (nämlich einer solchen, die das liberale wissenschaftliche Denken des 19. Jahrhunderts im Sinne einer voraussetzungskritischen Selbstaufklärung weiterentwickelt) immer noch die gültige Problemstellung sein.

I. Religiöse Forderung nach Realisierung des Guten im Anschluss an W. Herrmann

Ausgangspunkt der Entwicklungsbeschreibung muss die Position sein, die Karl Barth am Vorabend des Ersten Weltkriegs einnimmt und für die besonders seine Besprechung der Zeitschrift „Die Hilfe“ (1914) steht, mit welcher er seine Position im Gegensatz zu der Naumanns (und Troeltschs) skizziert. Die Anpassung des Gottesglaubens an die Zwänge der Welt wird hier als Hauptkritik genannt. In der Vorarbeit zum gedruckten Text formuliert Barth am Ende deutlicher: „Wir möchten von Gott mehr erwarten, – stellen uns darum kritischer zum Bestehenden, positiver zum Seinsollenden in der Politik.“11 Als Orientierung gilt der Glaube Jesu, der sich auf Gott und nicht auf moralische Probleme richtet – Barth moniert ein „[m]oralistisches Mißverständnis des Evangeliums“ als „Diskussion der ethischen Einzelforderungen […] – statt auf die von Jesus aufgeworfene Gottesfrage einzutreten.“12 Die eigene Position wird von Barth so eingeführt: „Es gibt nun eine Richtung, die hat einen höheren politischen Glauben […] in apriorischem innerm Gegensatz zu allen Vorläufigkeiten […]“13. Dies ist die internationale Sozialdemokratie und ihr „Wollen zeichnet sich dadurch vor allen anderen Arten von Politik aus, dass da mit dem Absoluten, mit Gott politisch Ernst gemacht wird. Die Gerechtigkeit ist hier die einzige, die revolutionäre Wirklichkeit.“14 Die Position, die Barth damit vor Augen hat, ist durch die Verbindung von Kantianismus und Frömmigkeit für die ethischen Entscheidungen bestimmt – es ist im Wesentlichen die Position Wilhelm Herrmanns, für den zunächst im Glauben die Orientierung am Seinsollenden erschlossen wird, und diese Orientierung dann als inhaltliche Norm in die ethischen Entscheidungen eingeführt wird. An der strikten Normativität, die mit göttlicher Absolutheit religiös verbunden ist, ent←145 | 146→scheidet sich die Differenz der moralisch-religiösen Stellung des einzelnen. ‚Ernst‘ meint die auf die individuelle Persönlichkeit bezogene Beschreibung des gewandelten Standpunkts: Das Gute um seiner selbst willen zu tun wird zum entscheidenden Kennzeichen gegenüber allem möglicherweise gut gemeinten Handeln in der Welt. Die Inhalte des sozialdemokratischen Wollens (mit dieser Entscheidung radikalisiert Barth die sozialen und karitativen Momente der liberalen Theologie) sind deshalb strikt allgemein: Humanität, Solidarität, Leidensbereitschaft und Gerechtigkeit sind Pflichten und schließen jede Ausbeutung, jeden Klassendünkel und jede Möglichkeit zum Kriegführen aus.15

Barth hat diese Position auch in der Ansprache anlässlich der Taufe seines ersten Kindes 1914 in Form einer Aneignung des Credos formuliert. Gott ist die Norm der Erkenntnis und als diese das „Ziel unsrer Seele“16. Jesus Christus hat die Funktion einer vorbildhaften Hinführung zur Hingabe an Gott als dem Guten. Die sündhafte Unvollkommenheit des Menschen wird gedacht als seine Orientierung an innerweltlichen Zielen. An Jesus Christus kann der Mensch finden, „was Gott uns Menschen zu schenken hat: klare Erkenntnis über das, was vor Gott recht ist […]“17. Der Geist hilft, die Schwachheit der Orientierung an dem Nicht-Rechten zu überwinden und angesichts ihrer nicht zu verzagen. Damit kann die Orientierung an Gott strukturell parallel zu jeder zielbezogenen Handlungsstruktur verstanden werden. Religion erweist sich dann als richtige Normenwahl, nämlich als Wahl der einen göttlichen Norm, des Guten um seiner selbst willen, das dann ethisch als Wahrheit, Güte und Liebe ausbuchstabiert werden kann. Religion ist damit bessere Ethik, nämlich die Gewissheit der Richtigkeit der absoluten Norm des Guten und die Entscheidung zu seiner Wahl. Zwischen dem weltlichen Handeln und dem religiösen Handeln gibt es zwar eine klare inhaltliche Differenz hinsichtlich der Norm, aber keine strukturelle Differenz hinsichtlich des Handelns. Entscheidung für das Gute ist so nur eine Alternative zur Entscheidung für andere, weltliche Ziele. Und Barth ist der Meinung, dass man dann, wenn man sich für das Gute entscheidet, eigentlich nur zu einer ein←146 | 147→deutigen Anwendung kommen kann, die dann entsprechend wie das Gute selbst auch allgemeingültig ist.

II. Religion als Voraussetzung der Geltung der Norm im Anschluss an Kutter

II.A. Kritik an den Idealen

Nach Kriegsausbruch und seiner Enttäuschung über die nationalistische Entscheidung und die Vereinnahmung der Christen und Sozialisten auf den feindlichen Seiten diagnostiziert Barth einen Mangel an Ernsthaftigkeit bei Christen und Sozialisten und fordert ein tieferes Erfassen der Ideale: „Nicht die Ideale haben versagt, aber ihre Bekenner! Sie müssen tiefer erfaßt, ja nicht etwa aufgegeben werden.“18 Das Versagen der intellektuellen Eliten, der normalen Christen und auch der Arbeiterpartei stellt die Orientierungskraft der Ideale für das Leben auf den Prüfstand. Es geht um die Struktur des Unterstellungsaktes unter die Norm. Wie kann hier Gewissheit, Ernst und Erleuchtung erreicht werden? Und wie kann die Allgemeingültigkeit der Struktur dieses Aktes gedanklich erhalten werden, wenn jeder (sogar ethisch Ernstmeinende wie Barths Lehrer W. Herrmann) zu einem anderen Ergebnis hinsichtlich der Anwendung kommt und damit die früher gedachte Allgemeingültigkeit des humanen Ziels brüchig wird?

Die Zielorientierung der Struktur bleibt zunächst erhalten, aber es schimmern erste Neubegründungen hinter der Forderung auf: Zu vermeiden ist „[g]edankenloses Weitermachen, als ob unsere bisherige Art, unsern Idealen zu leben, genügen könnte.“19 Damit wird eine ganz neue Art gefordert, wie die Ideale im Leben realisiert werden können. Diese neue Art ist nicht mehr handlungs- und entscheidungsbezogen, sondern fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit einer solchen, auf die wahre Norm bezogenen Entscheidung. „Hinter der Geschichte waltet ein ewiger Wille, der uns nicht zufällig und umsonst diese Ereignisse erleben läßt, sondern damit wir zu neuen bessern Erkenntnissen und Einstellungen kommen.“20 Zwar wird noch wie vorher die Erkenntnis des Guten gefordert, aber ihre Möglichkeit wird hier nicht in die Entscheidung des Menschen, sondern in übergeordnete Mächte, nämlich den ewigen Willen Gottes hinter der Geschichte, gelegt. Damit wird eine vorher nicht beachtete grundsätzliche Differenz zwischen Normorientierung und einzelnem Handlungskontext aufgemacht: „Innerliche←147 | 148→ Trennung [der Christen im Glauben] von Kirche und Staat!“21 Das Einüben in die Unterstellung unter die Norm wird jetzt in seiner Eigenart bedacht und als religiöse (christliche) Grundstruktur von dem bürgerlichen Leben abgesetzt: „Wir haben dem Ewigen gedient mit Worten und Gefühlen, statt es ernst zu nehmen und ihm entscheidenden Einfluß zu geben auf unsere Stellung zur Welt. […] In diesem weltfreien und weltüberwindenden Christentum liegen die Kräfte, die auch den Krieg unmöglich machen.“22 In dem ‚Dienen‘ wird die vorherige Zielorientierung religiöser Ethik formuliert, während das ‚Ernstnehmen‘ mit einer veränderten Stellung zur Welt ausgedrückt wird. (Zusätzlich wird ein Hiat im Menschen gesetzt zwischen Worten und Gefühlen einerseits und Ernst und Stellung andererseits.23) Damit wird die Bedingung der Möglichkeit der Entschei←148 | 149→dung zum Guten in einer anderen, vorgelagerten Form innerlicher Umwendung gedacht. Diese Umwendung ist nicht entscheidungsabhängig, ist keine Alternative zu anderen Möglichkeiten (dies nennt Barth ‚in Worten und Gefühlen dienen‘), sondern resultiert selbst aus dem vorgängigen Gelten des Absoluten.24 Unterstellung unter die Norm funktioniert nur, wenn das Gelten der Norm nicht vom Akt der Entscheidung abhängig gemacht wird, sondern wenn gedacht wird, dass dieses Gelten die Norm in ihrem Wesen verändert (bzw. dass es sie schon geändert hat, dass sie als immer schon geltend gedacht werden muss) und zu einem Konstitutionspunkt religiöser Entscheidung macht. Barth ordnet diesen Konstitutionspunkt hier der Innerlichkeit des Subjekts zu, und formuliert auf dem Boden dieser neuen Überlegungen immer wieder, dass alle Christen, egal wie sie konkret handeln, immer schon eigentlich in ihrem Innern um diese vorgängige Gültigkeit der göttlichen Norm des Guten (bzw. der Norm in ihrer neuen Konstitutionsfunktion) wissen.25

Von diesem vertieften, radikalen Standpunkt in Bezug auf die Normunterstellung aus kann Barth dann seine eigenen politischen Vorkriegsaktivitäten einordnen und kritisieren. In dem Artikel „Friede“ von Februar 1915 äußert er den umfassenden Verdacht, dass alle Positionen (also auch seine eigene von vor dem Krieg) und ethischen Unternehmungen der Menschen nicht dem Willen Gottes entsprechen können – und er versucht zum ersten Mal, den Gottesgedanken nicht als Norm und Zielorientierung, sondern als fundamentale Notwendigkeit, als Voraussetzung aller Möglichkeit der Anerkennung zu formulieren: „Diese höchste Notwendigkeit wartet eigentlich in [!] einem Jeden von uns, wartet seit 2000 Jahren im Evangelium Jesu auf unsere Anerkennung. […] Gott wartet auf uns […] darauf, dass jene höchste Lebensnotwendigkeit in uns allen ganz anders drängend und klar werde […]“26.←149 | 150→

Die gesteigerte denkerische Erfassung der Struktur, mit welcher es im Menschen zur Anerkennung der göttlichen Norm kommen kann, und zwar als Voraussetzung dafür, dass im realen Handeln in der Welt Ideale verwirklicht werden können, führt Barth also zu einer neuen Begründung. Diese Anerkennung kann nicht selbst auf der Ebene des Handelns liegen, hier ist eine teleologische Forderung nicht am Platz. Die göttliche Norm ist nicht das Seinsollende mehr, sondern die gegebene Notwendigkeit des inneren Lebens. Auf die Ausarbeitung dieser Gegebenheitsweise des Anzuerkennenden im Leben richtet sich die neue Theologie, die durch die Kritik an dem Vorkriegsgegensatz zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik (in modernen Begriffen) erst entsteht. „Das Gottesreich, wie es Jesus verkündigt hat, war niemals das Endziel der natürlichen Weltentwicklung, sondern der Wiederanbruch der Geltung Gottes.“27 Die Orientierung am Guten als Norm, am Seinsollenden, die in der Vorkriegszeit für das Religiöse im Menschen stand, wird abgelöst durch die Einsicht in die Konstitutionsfunktion, durch die ein Handeln zum Guten überhaupt erst im eigentlichen Sinn (nämlich als Anerkennung, als Geschehen des ‚Wiederanbruchs der Geltung‘) möglich wird.

Barth denkt, und das macht das Besondere der nun erreichten Position aus, dieses Konstituiertsein der Norm als Begründungspunkt der Selbsterfassung des Subjekts. Man kann dies eine Erweiterung seines vorherigen kantischen Standpunkts auf Fichte und Hegel hin nennen, also eine neuidealistische Wendung, mit der Barth die neueste Entwicklung innerhalb der Theologie (cf. Tillich oder Hirsch) mitvollzieht. Barth benutzt aber als Ausdrucksform für diese Einsicht nicht idealistische Spekulation, sondern rezipiert die Schriften Kutters und zeigt sich affiziert von der Lebensphilosophie.

II.B. Gott als Voraussetzung der Gültigkeit der Idee des Guten

Die ethische Abrechnung in „Kriegszeit und Gottesreich“ (1915, „Sackgasse, in der sich alle Ethik befindet“, S. 190) nimmt den Weg von der Ablehnung der bisherigen ethischen Denkweise zur Neubeschreibung der Geltung Gottes. Die „Welt der Naturkraft“28, für die das tautologische „Welt ist Welt“ gültig ist, weil sie von sich aus nicht erkennt, was ihr fehlt, wird zum umfassenden Überbegriff für alle ethischen Anstrengungen des Menschen, für die vom menschlichen Geist und Bewusstsein aus erreichbaren Ideale, Normen, Selbstverständigungen, autonomen Bestimmungen etc. Da hinein gehört auch der Gott der←150 | 151→ Religion, der nur ein Abbild der ethischen Freiheitsversuche des Menschen ist. Dagegen gilt es, das wahrhaft Neue, das der Gott des Evangeliums Jesu bringt, zu entdecken: Gott ist „keine Idealität, die von ihrem Gegensatz lebt, keine formale unreale Grösse, die schliesslich auch wieder in die Welt hineingehört, keine Idee der Gerechtigkeit oder der Liebe im Wetteifer mit den Ideen der Ethik, sondern die Wirklichkeit, aus der unsre ganze Welt herausgefallen ist, so dass sie nur noch Welt ist“29 – er ist „[u]nser Schöpfer und Ursprung in der andern für uns ganz neuen Welt!“30. (Der Schöpfungsgedanke wird hier bereits genannt, aber noch nicht ausgearbeitet.) Dafür kommt es Barth hier auf den Wechsel der Denkungsart an, der mit der Anerkennung der ursprungshaften Geltung der Norm (und nicht ihrer Inanspruchnahme als Ziel im Handeln) zusammenhängt. Auch Barth redet (wie Tillich in den 20er Jahren) vom „prinzipiellen Durchbruch“31, der von dem „Neuen Ursprünglichen von Gott her“32 erfolgt. Der Punkt ist aber der, dass der Durchbruch gedacht wird als ein Sich-Einlassen auf die vorgängige Gültigkeit der Norm, welches sich als menschliche Bewusstseinshaltung grundsätzlich von der Wahl der Norm zur Bestimmung des Handelns unterscheidet: „Es handelt sich darum, ob der Gotteswille, der sich da vor uns auftut, uns so in Anspruch nimmt, uns einen so bezwingenden Eindruck macht, dass wir erkennen und bekennen müssen: dieser Gott ist Gott.“33 Barths Konzeption des Durchbruchs fußt (im Gegensatz zu der Tillichs) auf einer kantisch-ethischen Grundüberlegung, nicht auf einer bestimmungslogisch-symbolkritischen.

„Kriegszeit und Gottesreich“ ist so aufgebaut, dass in einem ersten Punkt die inneren Unmöglichkeiten des ethischen Handelns beschrieben werden, und zwar für die Bereiche Ethik, Politik (Patriotismus, Sozialismus, Pazifismus) und Christentum. Diese Unmöglichkeit besteht darin, dass alle Positionen benutzbar sind und letztlich keine eindeutige Orientierung erzielt werden kann. Diese Erkenntnis, die über die Herrmann-Kant-Rezeption einer ethischen Religiosi←151 | 152→tät hinausführt, setzt Barth jetzt voraus. Allgemeingültigkeit im Hinblick auf ethisch bestimmtes Handeln in der Welt ist überhaupt nicht zu erreichen. Diese negative Einsicht führt in einem zweiten Punkt zu der Neubeschreibung des Gottesgedankens, von dem her allein noch etwas wirklich Neues erwartet werden kann. Diese Neubeschreibung funktioniert zugleich in sich als eine Neubegründung der Geltung der Ethik und der Normgeltung überhaupt. Barth sieht bereits hier das Neue Testament und Jesus als Darstellungsfiguren dieser Position. Seine Funktion besteht im Kontext des Zweifels an der Ethik darin, überhaupt erst wieder eine Alternative zur ‚Normalethik‘, also zum teleologischen Verständnis der Norm als Zielorientierung des Handelns, aufzubauen. In diese Entscheidung will der Text führen. Damit wird die kantische Revolution der Denkungsart34 aufgenommen, aber in einer Weise gewendet, die nicht zwischen der weltlichen, eudämonistischen Ethik und der der absoluten Norm des Guten verpflichteten Ethik den Hiat setzt, sondern zwischen der Norm als Sollensbeschreibung und der Norm als ihre eigene Gültigkeit bereits konstituierende (bzw. konstituiert habende) Kraft der Orientierung. Das reine Gute ist nicht bloß ein Ideal der praktischen Vernunft, sondern es ist die Wirklichkeit dieser praktischen Vernunft selbst, so wäre vielleicht Barths kutterrezipierende und deshalb theologisch ursprungs-, unmittelbarkeits- und schöpfungsbezogen formulierte Kantkritik am ehesten auf den Begriff zu bringen. Allerdings gilt es diese Wirklichkeit erst noch anzuerkennen, sie wirkt nicht gleichsam naturhaft im Bewusstsein. Erst in der Anerkennung wird sie wieder wirksam in einer Weise, die ihrem Bereits-Gegebensein entspricht.35 Diese Anerkennung ist ‚Glaube‘ – als Entscheidung zwischen den←152 | 153→ zwei beschriebenen und grundsätzlich verschiedenen Grundkonzeptionen der Gültigkeit des ethischen Gedankens.

Und erst auf der Basis dieser Grundentscheidung kann dann in einem weiteren Schritt, dem „dritten Punkt“36, die ethische Realisierungsfunktion der neuen Idee geklärt werden. Dabei bleibt dieser Schritt jetzt immer, und das ist das ethisch Neue, auf die Grundentscheidung bezogen. An jedem einzelnen ethischen Abwägepunkt muss die Geltung der ursprünglichen Gutheit Gottes erst wieder ins Gedächtnis gerufen werden, bzw. genauer, es muss die Notwendigkeit der Entscheidung für die Unterordnung unter diese Geltung bewusst gehalten werden.37 Zugleich aber ist Barth der Meinung, dass diese Rückführung aller ethischen Entscheidung auf die Anerkennung des übergeordneten, bereits gegebenen Guten zu einer „sachliche[n] Stellung zu den Lebensproblemen und Konflikten“38 befähigt. Denn die „neue[] Gesamtrichtung des Lebens“39 lässt gleichzeitig verschiedene ethische Entscheidungen zu und beansprucht nicht mehr (wie in der Vorkriegsoption für einen religiösen Sozialismus) eine religiöse Deutungshoheit über ethische Fragen im Einzelnen. „Das Ja oder Nein oder Sowohl-Als auch, das aus dem Glauben stammt, kann nicht Sünde sein […]“40.

II.C. Gott als umfassende Wirklichkeit des Lebens

Dem Dreischritt ‚Kritik-Beschreibung der Entscheidungssituation-Neubegründung der Ethik‘ setzt Barth in der sozialistischen Ansprache „Religion und Sozialismus“ von Dezember 1915 eine andere Gliederung entgegen, die von der (mit zuhörerschaftbedingter heftiger Religionskritik einhergehender) Beschreibung der Wirk←153 | 154→lichkeit Gottes als Voraussetzung des Lebens ausgeht (wofür das Gewissen und Jesus Christus zwei Erkenntnisquellen sind), dann den Sozialismus als ethischen Anwendungsfall der Anerkennung der Wirklichkeit Gottes im Bereich politischer Stellungnahme beschreibt, und schließlich den realen Sozialismus und seine Religionskritik mit dem realen Christentum und seiner Arbeiterfeindlichkeit konfrontiert. Der Text behauptet, in dieser Gliederung nur so etwas wie ein „persönliches Bekenntnis“41 Barths zu sein. Aber mit der Vorordnung einer ausführlichen Beschreibung der Wirklichkeit Gottes und dem Versuch, diese umfassend mit lebensbezogenen Begriffen zu beschreiben, tritt eine neue Perspektive in die Wahrnehmung des Reiches Gottes. Zwar werden noch Gewissen und Jesus als Erkenntnisquellen genannt, aber diese Quellen können ihrem Wesen nach die behauptete umfassende Wirklichkeit Gottes nicht erkenntnismäßig begründen. Mit der Notwendigkeit, die Tatsache Gottes, also die konstituierende Gültigkeit der Norm vor ihrer Anerkennung, zu beschreiben, wird der Gegensatz von Worten, Gefühlen und Sache zum entscheidenden Zugangsweg zur Erkenntnis Gottes. Die Wissenschaftlichkeit des theologischen Gottesgedankens wird hier sowohl über die Anmutung, dass jeder einzelne seine vorausgesetzte Gültigkeit eigentlich immer schon weiß, als auch über den anders gelagerten Gedanken, dass die Wirklichkeit Gottes allem Leben immer schon vorausliegt, behauptet. Erkenntnisforderung und Allgemeingültigkeitsbehauptung beginnen, sich gegeneinander zu wenden. Barth kommt als Neukantianer von der Frage nach dem Wissenkönnen her, aber in dem Versuch, das Wesen der Geltung der absoluten Norm des Guten zu beschreiben, wird die Konstitutionserkenntnis als allgemein behauptet und dadurch die Frage nach dem Wissenkönnen von dieser Weise des Geltens stillgestellt bzw. in die Allgemeingültigkeit aufgenommen. Der kosmologisch-schöpfungstheologische Aspekt des neuen (eigentlich ethisch-erkenntnistheoretisch generierten) Gottesbildes beginnt sich zu verselbständigen.42←154 | 155→

Barth verständigt sich mit seinen Hörern über die appellative Einholung der Anerkennung. „Die Frage nach Gott ist nicht kompliziert und schwierig, sondern kindereinfach. […] giebt es überhaupt eine Wahrheit über der Thorheit und über der Lüge? giebt es überhaupt eine Gerechtigkeit über der Ungerechtigkeit? giebt es überhaupt eine Liebe über der Gleichgiltigkeit und über dem Hass? […] Und da bin ich mir nun einfach sicher, dass kein Mensch hier im Saal ist, wie er immer im Übrigen denken und sein mag, der auf diese Frage nicht einfach mit Ja antworten muss.“43 Die Entscheidungsfrage ist der Anerkennung der Wirklichkeit nachgeordnet. „Das ist sehr die Frage, ob Wahrheit und Gerechtigkeit gelten in der Welt. Das ist die Frage, ob wir Liebe und Frieden haben in unsrer Seele und in unserem Leben, ob wir von wirklicher Freude etwas wissen, aber das fragt sich doch nicht, dass es alle diese Dinge tatsächlich giebt, dass sie sind.“44 Gelten, Haben und Wissen stehen jetzt für die Ebene der ‚Naturkraft‘, also der ethischen Entscheidungen, die wechselnd gemäß Idealen und Normen getroffen werden sollen, aber die Voraussetzungsbehauptung gilt der Möglichkeit dieses ethischen Geltens. Barth löst die Voraussetzungsbehauptung als pure Existenzsetzung auch sofort wieder auf. Nicht das naturhafte positionelle ‚Es gibt‘ ist das entscheidende Problem, sondern die Beziehung dieses Voraussetzungscharakters der Normen auf die Möglichkeit, überhaupt ethisch handeln zu können: „Und diese Dinge sind nicht nur, sondern sie leben: sie geben sich uns zu erkennen und sie sind uns zugänglich, wir sind in Unruhe, wenn wir sie vermissen müssen, […] und eine unsichtbare Macht geht von ihnen aus, die uns zwingt, sie zu suchen und zu ergreifen, weil wir wissen, dass wir ohne sie nichts sind. Sie bilden ein heiliges sonniges majestätisches Wesen für sich. Dieses Wesen nimmt uns in Anspruch, schafft an uns, will von uns Besitz ergreifen, es stellt uns immer wieder vor die Entscheidung: für mich? oder gegen←155 | 156→ mich? Es geht Kraft und Seligkeit von ihm aus und es fragt sich, ob die Menschen und die Menschheit sie von ihm annehmen wollen.“45 Hier formuliert Barth erkennbar platonisch im Hinblick auf das (‚sonnige‘) Wesen ‚dieser Dinge‘ bzw. auf das Wesen selbst, aber zugleich denkt er die Konstitutionsfunktion als eine Dauerinanspruchnahme des Denkens. Das heißt, dass die Konstitutionsfunktion gerade darin ihren Sinn hat, dass sie auf der Ebene des Konstituierten (also des ethischen Bewusstseins) bewusstwerden soll, um ihre Funktion erfüllen zu können. Die platonische Idee funktioniert als ewige Begründung und Formierung des Wissenkönnens, auch ohne dass sie im menschlichen Bewusstsein reflektiert wird. Aber die ethische Idee des Guten nicht bloß als einer Norm, eines gedachten Ideals, sondern als einer realen Begründung für die Möglichkeit der Entscheidung zum Guten soll in diesen Entscheidungen selbst jeweils reflexiv präsent sein. Die Forderung reflexiver Bewusstheit führt erst die Begründungsfunktion zu ihrem Abschluss, denn es geht nicht um ein naturales, naturhaftes Begründetsein des Bewusstseins, sondern um die religiöse Bewusstheit als Ermöglichung wahrhaft guten Handelns. Die aktualitäts- und vollzugsorientierte Fassung des Barthschen Glaubensverständnisses resultiert also aus der ethischen Ausgangsfragestellung, die zugleich kantisch nicht über das Wissenkönnen des (ethischen) Bewusstseins von sich selbst hinausgeht. Allerdings wird die Möglichkeit des Bewusstseins, sich ethisch am Guten zu orientieren, einer neuen Begründung zugeführt. Nicht freie Selbstbestimmung im Sinne der Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs, sondern das Einziehen seiner Gültigkeit in die Begründung der (Möglichkeit der) Selbstbestimmung wird gedacht.

Dadurch dass die vorausgesetzte Wirklichkeit Gottes ihre Funktion darin hat, die Möglichkeit ihrer reflexiven Einholung zu begründen, und diese reflexive Einholung als der eigentliche Sinn ihrer vorausgesetzten Existenz (Tatsache) behauptet wird, fällt die reale Situation der ethisch ungenügenden Situation der Gegenwart in eine nicht recht verständliche Mitte. Besser gesagt: Es gibt aus der Voraussetzung und ihrer Begründungsfunktion keine Möglichkeit zu begreifen, warum es zu einem ‚Sündenabfall‘ der Menschen oder gar der Welt als Ganzes gekommen ist. Barth muss die Situation des Abfalls einerseits immer voraussetzen, weil sie die Situation ist, in die seine Erkenntnisforderung hineinspricht. Religion ist die Wiedereinholung des Ursprungs als des Ermöglichungsgrundes für wahrhaft (und nicht nur menschlich zielorientiertes) gutes Handeln.46 Ei←156 | 157→gentlich weiß jeder Mensch und der Mensch allgemein aufgrund der Struktur der Vernunft und des Handelns das immer schon. Andererseits soll er es verwirklichen. Das fordert eine Erklärung der Möglichkeit der Missachtung des Rufs des Guten durch den Menschen. Bisher hat Barth allein aus der ethisch indifferenten Lage des Handelns bei Kriegsausbruch hergeleitet, dass es hier ein prinzipielles Problem der Normorientierung des Handelns gibt.47 Die Verallgemeinerung dieser Kriegsausbruchssituation wird seine Theologie und ihre Rezeption immer begleiten. Und es ist aus der ethischen Anlage verständlich, wie es dazu kommt – allerdings werden die Probleme, die noch die Behauptung einer eigentlichen Unmöglichkeit der Sünde tragen, nie einer eigenen befriedigenden Lösung zugeführt.

II.D. Die Wirklichkeit Gottes im Menschen

In dem Vortrag „Die Gerechtigkeit Gottes“ von Dezember 1915 fasst Barth die erreichte Position in einem theologischen Gesamtbild zusammen. Hier wird jetzt nicht mehr die ethische Situation des Kriegsausbruchs zum Ausgangspunkt genommen, sondern direkt die Gerechtigkeit Gottes, und es wird die grundsätzliche Sündenfallsituation (von der der Kriegsausbruch nur noch ein Beispiel ist) als Durchgangsstadium mit abgeleitet. Im Hinblick auf die Weiterführung der Theologie Barths ist aber zu sagen, dass die Christologie hier noch nicht in die Gotteslehre eingearbeitet ist, sondern noch als ethische Hinführung zur Bewusstwerdung gedacht wird. Das wird nach der Verarbeitung der Begegnung mit Blumhardt und der Anwendung der Bibel darauf anders – nämlich dann, wenn←157 | 158→ Barth statt von der ursprünglichen Gerechtigkeit Gottes davon ausgeht, dass Jesus Christus lebt, wenn also Christologie und Auferstehung zu Ausdrucksgrößen der Voraussetzung der Gültigkeit der Norm werden. Hier steht noch das Gewissen als Zeuge für das Wissen darum ein.

‚Gerechtigkeit Gottes‘ wird als umfassender Begriff anstelle des Reiches Gottes gewählt. Es scheint, als ob das angemessene religiös-christliche Bild, mit dem die gemeinte ethische Struktur beschrieben wird, noch gesucht wird. Die Voraussetzungsstruktur wird nur noch in der zuvor geübten Beschreibung des Inhalts benannt, nicht mehr erschlossen. „Wir freuen uns über Gerechtigkeit, da wo wir einen Willen wahrzunehmen meinen, der in sich selber klar und beständig, frei von Willkür und Wankelmut ist, einen Willen, der in sich selber eine Ordnung hat, die gilt und nicht gebogen werden kann.“48 Diese anthropologisch-ethische Formulierung klingt immer noch sehr nach Herrmann. Aber sie wird jetzt religiös-allgemeingültig gewendet: „Und nun sagt uns das Gewissen, dass das Letzte und Tiefste in Allem [!] ein solcher Wille ist, dass Gott gerecht ist. Wir leben davon, dass wir das wissen. Wir vergessen es zwar sehr oft […]“49. Die Wahrnehmung dieses Wissens unterbricht das Handeln des Menschen in den ethischen Feldern der Welt, in Familie, Beruf und Staat und in der Religion. Das Leben des Menschen ohne Bezugnahme auf die Geltung Gottes (hier: seiner Gerechtigkeit) ist ethische, politische, aber auch logisch-rationale Unordnung50. Barth spricht von einer dauerhaften, beständigen Ahnung des Menschen von der Gerechtigkeit Gottes, die überführt werden soll in Gewissheit. Das ist die Grundstruktur ethischen Bewusstseins: Die Ahnung von der Grundfunktion der absoluten Norm für das Leben, die in der Anwendung immer wieder beeinträchtigt wird und die eigentlich zu einer Glaubensgewissheit von der Existenz dieser Norm des Guten hinführen soll, aus der heraus ethische Anwendung jederzeit kraftvoll möglich ist.

Barth bemüht sich hier zum ersten Mal um eine theologische Anthropologie, die die allgemeine Situation des Menschen im Angesicht Gottes (bzw. seiner auf den Menschen wirkenden Gerechtigkeit) unabhängig von den ethischen Fragen des Kriegsausbruchs beschreibt. Er tut dies in der Doppelheit von Hochmut und Verzagtheit einerseits und Demut und Freude andererseits. ‚Hochmut‘ verbindet die Turmbaugeschichte mit dem Sündenfall, dem „tiefsten, dem eigentlich tragischen Irrtum der Menschheit“51 – er besteht in dem Versuch, die Norm direkt in←158 | 159→ Handeln zu übertragen („die tumultuarische Frage: was sollen wir tun?“52, anstatt erst ihre konstitutive Kraft für dieses Handeln bestehen zu lassen und von hier aus das Handeln in Angriff zu nehmen. Mit dieser ethischen Anwendung will der Mensch wie Gott sein, will er „seine Gerechtigkeit ohne Mühe in eigenen Betrieb nehmen“53. Verzagtheit andererseits ist das Ausweichen vor der in der Gerechtigkeit Gottes liegenden Forderung der grundsätzlichen Änderung, „dass wirklich etwas Anderes und Neues in uns und unter uns anfangen könnte“.54

Diese beiden Umgangsweisen werden dann in bekannter Weise durch die ethischen Anwendungsfelder durchgeführt: Moral, Staat, Recht und Religion zeigen, dass der Mensch in ihnen selbsttätig ist, ohne sie auf das wahre Gute hinzuführen, weil er es an der notwendigen Umkehr mangeln lässt.

Demgegenüber wird in dem weiteren argumentativen Gang verdeutlicht, wie die Begründung rechten ethischen Handelns aus der vorausgesetzten und reflexiv eingeholten Gerechtigkeit Gottes im Glauben aussehen soll. Dazu fordert Barth Demut, denn „statt zu reden, zu reflektieren, zu räsonieren“55 gilt es „stille [zu] werden“ und „Gottes Sache“ nicht zu „überhören“56. Grundlagenreflexion wird hier der ethischen Tätigkeit des Menschen in der Welt gegenübergestellt und mit dem Bild des ernsthaften Hörens auf Gottes Wort ausgemalt. Diese Grundlagenreflexion wird als ethische Differenz zum Erfüllen des Guten dargestellt, und, insofern das Tun des Guten in der Macht des Menschen steht, als Selbstaufgabe gezeichnet: „Denn es handelt sich dabei darum, dass wir uns selbst aufgeben, um uns Gott zu übergeben und seinen Willen zu tun. Gottes Willen tun heißt aber mit Gott neu anfangen. Gottes Wille ist keine bessere Fortsetzung unseres Willens. Er steht unserem Willen gegenüber als ein gänzlich anderer. Ihm gegenüber gibt es für unseren Willen nur ein radikales Neuwerden.“57 Die ethisch-kantische, an Herrmanns Religionsverständnis angelehnte Ausgangsbasis von Barths Denken wird hier in der Überführung in die theologische Reflexion noch einmal deutlich sichtbar. Aber es wird wiederum die Radikalisierung der Neuorientierung als Gewisswerden der bereits vorausgesetzten Wirklichkeit des Willens Gottes ausgesprochen.

Freudigkeit meint die Ersetzung des Verzagtseins, nämlich die Grundlegung des ethischen Wollens im Kontext der Welt in der neugewonnenen Gottesorien←159 | 160→tierung. Das Bewusstsein von der nicht zu zerstörenden, vielmehr immer schon als geltend vorausgesetzten Norm ermöglicht ein erfolgsunabhängiges, misserfolgsresistentes Verhalten. Dieses „Mehr zu erwarten“ von Gott nimmt sprachlich noch einmal die Hilfe-Rezension von 1914 auf, aber es geht gerade nicht mehr um die Behauptung der Norm bzw. des Seinsollenden gegenüber der Wirklichkeit, sondern um die Behauptung der Wirklichkeit Gottes gegenüber seiner Auffassung als eines ‚Seinsollenden‘.

Beides zusammen ist Glaube, und Glaube kann jetzt auch – darin vollendet sich die ethische Kritik an der ‚Religion‘, der Barth als einer menschlichen Betätigung das Reich Gottes entgegensetzt, – umgekehrt als Durchsetzung Gottes im Menschen beschrieben werden: „Wenn wir glauben, so heißt das, dass wir statt alles Rumors still werden und Gott mit uns reden lassen, den gerechten Gott, denn es gibt keinen anderen. Und dann wirkt Gott in uns. Dann fängt in uns das radikal Neue an […] Denn jetzt ist etwas Reales geschehen, das einzige Reale, das geschehen kann: Gott selbst hat nun seine Sache an die Hand genommen.“58 Hier wird sichtbar, wie die Theologie des Wortes Gottes und die ‚Realitätsbezogenheit‘ der dialektischen Theologie (sowie die Rede von dem radikal Neuen) aus dem ethischen Problem – nämlich der Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit der Anwendung der Norm des Guten in allem weltlichen Handeln – herauswächst.59

III. Einsicht in die Gültigkeit des Guten als Gottes Geschichte mit den Menschen im Anschluss an die Bibel

III.A. Der Weg der Erkenntnis Gottes

Aus der bisher erarbeiteten Position ist noch keine klare neue Sprache erkennbar. Barth experimentiert mit verschiedenen Elementen in verschiedenen Kontexten – ‚Leben‘ im außerreligiösen Bereich der Sozialdemokratie, ‚Gottes Gerechtigkeit‘ in religiös-ethischen Zusammenhängen, ‚Gottes Reich‘ in theologischen. Zudem ist die Fassung der Gültigkeit der Norm im Gottesbild bzw. in der Voraussetzung Gottes als des Ursprungs noch zu gegenständlich – jedenfalls dann, wenn die Anerkennung dieses Ursprungs daneben doch noch eine For←160 | 161→derung an den Menschen und an sein Gewissen bleibt.60 Auch zu warten und stille zu werden ist ja eine Forderung, die man als ethische Forderung in Parallele zu den alten Forderungen der ethischen Religion verstehen könnte.

Bezieht man zusammenfassend die neue Aussagereihe von Gott und Welt auf die ethische Problemstellung, dann ergibt sich als ihr Zentrum, dass es theologisch gesehen notwendig ist, diejenige Reflexionsbewegung im ethischen Subjekt zu beschreiben, mit deren Hilfe die Gültigkeit der ethischen absoluten Norm als Voraussetzung erkannt wird. Und zwar als Voraussetzung für die Möglichkeit einer jeden wahrhaft ethischen Handlung. Ziel bleibt, wie Barth immer betont, die Neueinstellung des Christen in die Forderung nach gutem Handeln in der Welt. Aber die Religion entscheidet nicht mehr anhand der Norm über die Güte des Handelns. Sondern die Religion macht durchsichtig, dass dem guten Handeln (wenn es, schleiermacherisch gesprochen, kräftig und stetig sein soll) eine notwendige Reflexion auf die Gültigkeit der Norm selbst vorausliegen muss. Barth versucht, und das macht die Suchbewegung der Texte aus, eine Beschreibungssprache für diese Reflexionsbewegung zu entwickeln, die einerseits theoretisch anspruchsvoll und erklärend ist, andererseits religiös anschlussfähig und zum Dritten ethisch-appellativ.61 Die Aufnahme der Kutterschen Unmittelbarkeitsbegriffe wie auch die Aufnahme der durch Heinrich Barth vermittelten platonischen Begrifflichkeiten gibt nur ein Bild der vorausgesetzten Position, die in der Bewegung der Reflexion erkannt werden soll, aber sie erklärt eben nicht, wie es von der Voraussetzung aus zu der einholenden Reflexion kommen kann, und sie gibt auch kein genaues inhaltliches Bild für die Möglichkeit dieser Reflexion.

Die Behauptung für den folgenden dritten Teil der Entwicklung ist nun, dass Barth über die im Frühsommer 1916 angeregte Rezeption Blumhardts dazu kommt, die Bibel als eine Geschichte zu lesen, die selbst als Ganzes Ausdruck der geforderten Reflexionsbewegung ist. Die 1919 erreichte und bleibende trinitarische Grundlegung ist nur das theologische Ausdrucksmittel für die Ad←161 | 162→aption der biblischen Sprache. Die theologische Begründung der Ethik wird in einen trinitarischen, schöpfungs-, erlösungs- und vollendungsbezogenen Rahmen gespannt, der die früheren anthropologischen Aufnahmeinstanzen der Reflexion (Innerlichkeit, Person, Gewissen, Glaube) ablöst (und so auf Dauer überflüssig macht), weil er sie christologisch (in der Beschreibung des Reichs der Gnade) mit enthält.

In der Blumhardt-Besprechung von 1916 spannt Barth die Andachtsaussagen Blumhardts in sein eigenes ethisch-religiöses Problemfeld ein. Das zeigt sich auch an der zeitgenössischen Kritik von Ragaz, der behauptete, Barth benutze Blumhardt für seinen eigenen theologischen Kampf. Denn Barths Gegenbehauptung, Blumhardt gleichsam überpositionell und insofern nur im Hören auf seine religiösen Äußerungen gedeutet zu haben, funktionalisiert diese Überpositionalität gerade in bewusstem Gegensatz zur sonstigen theologischen Deutung religiösen Handelns. Blumhardts mystische, auf die Transzendenzbezüge von Innerlichkeit und Natur lauschende Frömmigkeit wird von Barth als Ausdrucksgestalt seiner eigenen ethischen Problemkonstellation gelesen.62 „Ich müsste nun von den Gebeten reden, […] von dem Beten, das durch Alles hindurchgeht, von diesem ganzen lebendigen Harren auf Gott für die Welt, das den Nerv des Buches bildet.“63 Inhaltlich meint Barth mit „Gott für die Welt“ einen neukantianisch-ethischen Begründungszusammenhang, den Blumhardt gar nicht vor Augen hat.

Was aber neu ist, ist die Einzeichnung Jesu in den Realisierungszusammenhang des Guten von sich selbst her, also das Aufgeben des Aneignungsproblems der Gültigkeitsvoraussetzung. Außerdem benutzt Barth im gleichen Zusammenhang Blumhardts Natur- und Kosmosaussagen, um die Unabhängigkeit der Gültigkeit der Norm von der Aneignung im einzelnen Menschen deutlich herauszustellen. Dadurch rückt der allgemeingültige Kollektivsingular ‚Menschheit‘ an die Stelle des Gewissens, und der Appell tritt etwas zurück: „Denn – und hier liegt die Lösung der Lösungen – mit Jesus hat ja das Gute tatsächlich schon angefangen, für das die Menschheit wie die Natur bestimmt ist, und ragt auch in unsere Zeit hinein und geht einer Offenbarung und Vollendung entgegen.“64←162 | 163→

III.B. Christus als Bild der Gotteserkenntnis und der Geschichte Gottes

Die biblische Sprachwelt Blumhardts ist die Überleitung für eine Neulektüre der Bibel unter dem erreichten Problemstand. „Die neue Welt in der Bibel“ von Januar 1917 kann als hermeneutischer Auftakt zur Römerbriefauslegung (und als Vorform von „Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke“ von 1920) gelesen werden. Der Vortrag enthält das Programm einer geschichtstheologischen Bibellektüre, deren eigentlicher Kern aber darin besteht, dass diese Geschichte der Bibel mit der Reflexionsbewegung im ethischen Subjekt identisch sein soll. Barth konstruiert diesen neuen Sinn der Bibel über die Differenz von immer bloß menschlicher Deutung und eigentlich gemeinter Sache, dahinter steht die Kritik an der ethischen Anwendung, die zu schnell kommt und nicht auf die Besinnung auf die Geltung der Norm wartet. Die Sache der Bibel wird dadurch identisch mit der ethischen Grundlagenbesinnung.65

Barth überführt die Geschichtserzählung in der Bibel in die ethische Problematik: Der Bibel „ist nicht das Tun des Menschen die Hauptsache, sondern das Tun Gottes – nicht die verschiedenen Wege, die wir einschlagen können, wenn wir guten Willen haben [!], sondern die Kräfte, aus denen ein guter Wille erst geschaffen werden soll […]“66. Der Entscheidungsappell bleibt bestehen: „Aber das ist sicher, dass uns die Bibel, wenn wir sie aufmerksam lesen, gerade auf diesen Punkt losführt, wo es zu dieser Entscheidung kommen muss: Annahme oder Verwerfung der Königsherrschaft Gottes.“67 Die Geschichte, die die Bibel erzählt, ist also die Geschichte Gottes als der Bewegung, die den Leser in die Entscheidung stellt, Gottes Geschichte anzuerkennen. Damit ist die reflexive religiöse Funktion der Gotteserzählung auf den Begriff gebracht. Denn die Entscheidung ist keine ethische Forderung: „Nicht wie wir mit Gott reden sollen, steht in der Bibel, sondern was er uns sagt, nicht wie wir den Weg zu ihm finden, sondern wie er den Weg zu uns gesucht und gefunden hat […] der Bund, den er mit allen […] geschlossen und in Jesus Christus ein für allemal←163 | 164→ besiegelt hat. Das steht in der Bibel. Das Wort Gottes steht in der Bibel.“68 Die Gottesgeschichte enthält also nicht nur den Bund als Zusage, sondern auch die christologische Besiegelung. Die Wegmetapher steht für die Bewusstwerdung im Innern der ethischen Subjektivität, ihre Passivitätswendung steht für die Unmöglichkeit, die Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit ethischen Handelns selbst als eine ethische Forderung an den Menschen zu formulieren. Immer noch schimmert durch die biblische Gottesgeschichte die Struktur des kantischen Gesinnungswandels hindurch.

Barth fasst Geschichte Gottes, also die religiös-christliche Sprache, und ethische Reflexionsbewegung in den Ausdruck ‚Lebensprozess‘ zusammen: Wir „können begehren danach, in den Kräften Gottes und des Heilandes mitzuwachsen und mitzureifen in dem großen Lebensprozess, der den Inhalt der Bibel bildet, können dem Geist dieses Buches gehorchen und einmal Gott Recht geben, statt selber Recht haben zu wollen, können es wagen zu – glauben.“69

Damit sind die Elemente der sich abzeichnenden biblischen Theologie benannt: Die Hermeneutik der Bibel liest diese als eine bildhafte Erzählung von einem bereits geschehenden Geschehen im Innern des sich ethisch orientierenden Menschen70, und die Christologie gewinnt jetzt neu den Stellenwert, die Forderung nach Anerkennung Gottes in die Geschichte Gottes selbst hineinzuverlegen bzw. die Möglichkeit der Reflexion als implizites Moment der Konstitutionsfunktion des Guten selbst aufzufassen.

Am Ende des Bibelvortrags entwickelt Barth zum ersten Mal ein komplettes Bild der trinitarischen Beschreibung der Wirklichkeit Gottes, wie sie von da an seiner Theologie zugrunde liegen wird.71 Der Fortschritt in Bezug auf Gott besteht darin, dass die Voraussetzungskonstruktion der Kutterphase jetzt selbst in Bewegung versetzt wird und damit Anschluss an die geforderte menschliche Re←164 | 165→flexion gewinnt. Zum anderen wird gerade wegen der umfassenden geschichtlich-weltlichen Bildhaftigkeit dieser neuen Gottesrede jetzt die Innerlichkeits-, Gefühls- und Entscheidungskritik konsequent durchgeführt. Die Wirklichkeit Gottes, die in Jesus Christus bereits für die Welt offenbar geworden ist, bedarf keiner weiteren Glaubensaufforderung: Glaube ist vielmehr ein Sich-unterstellen unter die geschehende Bewegung von Gott her. Diese Bewegung wird als welt- und menschheitsumspannende trinitarische Heilsgeschichte gezeichnet. Zunächst Gott: Die transzendenzorientierte Innerlichkeit der modernen Gottesvorstellung wird neu als Bewegung der ganzen Welt gesehen. Dann Christus: Die innerlichkeitsorientierte Erlösungsvorstellung der modernen Christologie wird neu als menschheitsallgemeingültig gewendet. Und schließlich der Geist: Die ekklesiologisch und so kirchlich-religiös enggeführte Glaubensorientierung der modernen Pneumatologie wird aufgebrochen und neu als ethische Verwirklichung des Glaubens in allem Handeln aus der reflexiven Begründungseinsicht heraus gedeutet.

IV. Konstruktion der biblischen Geschichte in einem theologisch-trinitarischen Gesamtbild

IV.A. Die trinitarische Gliederung des Erkenntniswegs

Der vor jungen Religionslehrerinnen gehaltene Vortrag „Religion und Leben“ (1917) ist der entscheidende Zusammenfassungs- und Durchgangspunkt für die weitere Konstruktion der Theologie Barths. Er ist auch deshalb wichtig, weil sich hier Tendenzen erahnen lassen, die durch Barths Konzentration auf die Römerbriefauslegung im folgenden Jahr keinen eigenen schriftlichen Niederschlag gefunden haben. Er erklärt nämlich den Ansatz dazu, warum Barth 1919 mit dem Ausdruck „Jesus lebt“ eine allgemeingültige Tatsachenbeschreibung als Ausgang für die trinitarische Heilsgeschichtskonstruktion in Anspruch nimmt, wie sie dann auch dem Tambacher Vortrag „Der Christ in der Gesellschaft“ (1919) und seiner christologischen Umdeutung des Titels zugrunde liegt. Die trinitarische Konstruktion wird hier zum ersten Mal mit den Reichsbegriffen verbunden, die dann das Reich Gottes aufspannen in das Reich der Natur, das Reich der Erlösung und Gnade und das Reich der Vollendung.

Barth greift in diesem Vortrag noch einmal auf die kuttersche Formel vom vorausgesetzten Leben zurück, die er in außerkirchlichen Zusammenhängen verwendet. Wichtig ist aber, dass der Begriff des Lebens jetzt für zwei Zusammenhänge steht, nämlich für die allgemeine humane ursprüngliche Wahrnehmung dieses Lebens (jenseits seiner aktiven Deutungen, Zuschreibungen, Bearbeitungen durch←165 | 166→ den Menschen) und andererseits für die Beschreibung, die die Bibel davon liefert und damit auf die religiöse Bewusstheit für dieses Leben hinzielt. Damit wird jetzt deutlich, dass der Lebensbegriff zu einem Bewegungsbegriff umgewandelt ist und den ‚Lebensprozess‘ aufnimmt. Das Leben „ist die große Unbekannte in der Mitte, das Geheimnis, an das wir nicht herankommen“72, es „stößt uns von beiden Seiten zurück […]“73. Mit dieser etwas selbstwidersprüchlichen Bildwahl verdeutlicht Barth das Aufgespanntsein des ethischen Entscheidungsprozesses zwischen der Voraussetzung der Gültigkeit der Norm, der Anerkennung dieser Voraussetzung und schließlich der Anwendung dieser Anerkennung auf jedes einzelne Handeln. „Leben“ steht für das Gedrängtwerden zum reflexiven Einholen der eigentlich bereits gegebenen Grundlagen normativen Handelns.

Barth verknüpft nun, und das macht die Stellung des Aufsatzes so wichtig, in der Beschreibung des reflexiven Prozesses die alten Ursprungsbeschreibungen mit dem neuen trinitarischen Modell, geht dabei aber von den ethikkritischen Funktionen der trinitarischen Personen aus, wie er sie am Ende des Bibelvortrags entfaltet hatte. Dadurch wird der Zusammenhang von Ethik/Ethikkritik und Trinität deutlich, wie sie der Theologie dann im Folgenden zugrunde liegen wird. Oder anders gewendet: Die trinitarisch-heilsgeschichtliche Konstruktion der Theologie Karl Barths erweist sich an dieser Stelle als ein theologischer Beschreibungsversuch für die gemeinte ethische Grundlagenreflexion, nämlich wie die Gültigkeit des Guten in der Normenwahl des Menschen als bereits vorausgesetzte gewusst werden kann.

Der erste Punkt der trinitarischen Beschreibung führt Allgemeingültigkeit und Gottesgedanken parallel, und zwar als Kritik an einem modernen Religionsverständnis, das Religion zur Privatsache des Einzelnen erklärt. Hier geht es dagegen um die Beschreibung allgemein geltender Grundlagen: „Das Leben ist das Allgemeinste, das Umfassende, das Wahre.“74 Gott wird auf dieses Allgemeine als Schöpfer bezogen, er gilt für alle Menschen, diese Allgemeingültigkeit Gottes für die Menschheit und darüber alles Leben des Menschen auf der Erde (Barth denkt im Unterschied zu Blumhardt, der solche Aussagen bibelfromm ernst meint, immer kantisch-anthropologisch!): „Das Leben selber aber ist keine Privatsache, kein persönliches Erlebnis, sondern die herrlichste, naheliegenste Allgemeinheit.“75 Diese Aussagen setzen seine eigene Frühtheologie mit ihrem Ausgang von Persönlichkeit, Gewissen und Erlebnis insofern fort, als natürlich←166 | 167→ auch schon früher Barth der Meinung war, damit allgemeingültige Sachverhalte des menschlichen Selbstverhältnisses und Geistes benannt zu haben. Hier geht es einmal mehr um die Voraussetzungsstruktur im menschlichen Selbstverhältnis, die vor seiner Realisierung gedacht werden muss, bzw. die als normative Steuerung des Selbstverhältnisses aller seiner Realisierung bereits eingeschrieben ist. Die Funktion der Bibel besteht gerade darin, dass sie Gott als diese auf das allgemeine Wesen des Menschen bezogene Kraft anspricht. Sündenfall und Christuserlösung sind Bilder für vorauszusetzende Elemente dieses allgemeinen menschlichen Wesens.

Der zweite Punkt gilt der christologischen Innerlichkeitsbestreitung. Die Christologie zeigt Gottes (als des Schöpfers) inkarnatorische Anteilhabe an der Welt in der Situation des Lebens als handelnder Entscheidung. Klassenkampf und Weltkriegsproblematik werden als Hintergrund angedeutet und als Beweis für die von Gott abgefallene Welt gesehen. Die Bibel als Beschreibungsschilderung des ethischen Bewusstseins wird als Bericht von der Überwindung des gefallenen Bewusstseins in Christus gelesen. Neben Schöpfung tritt die Gnade: „Das ist das neue Leben aus dem Geiste der Gnade Gottes, der sich selber mit dem Menschengeiste wieder versöhnt hat.“76 Denn Christus ist „die ganze sichtbare und greifbare Offenbarung der Urheimat und der Urwahrheit des Menschendaseins […]“77. Der Reflexionsprozess wird als allgemeine Rückkehrnotwendigkeit zu der gegebenen Begründung des Guten gedeutet, oder besser: Die Rückkehrnotwendigkeit selbst wird gerade dadurch aus dem Bereich möglicher Forderung herausgenommen, weil sie in Christus immer schon heilvoll vorgezeichnet ist. Damit wird die Anerkennung der ‚Urwahrheit‘ selbst theologisch begriffen. Der letzte Schritt zur christologischen Abrundung des ethischen Verstehenswechsels ist gemacht. Christus ist nicht mehr Vorbild der Entscheidung, sondern Urbild der möglichen Wirklichkeit dieser Entscheidung, welche Wirklichkeit für alle Menschen bereits gilt.

Schließlich wird der dritte Punkt als Nachvollzug der christologischen Entscheidung als Leben im Geist gegen die religiöse Gesinnung gestellt. Der Punkt richtet sich gegen die ethische Forderung für die Einzelentscheidungen, für ihr Einziehen in die gewandelte Grundgesinnung. „Es bleibt immer irgendwie dabei, dass der Mensch zu allerlei Tatsachen außer ihm, zu Gott, Welt und Mitmenschen von sich aus eine Stellung beziehen möchte.“78 Dagegen werden←167 | 168→ die Kräfte des Lebens in der Natur und in den kulturellen Einzelsystemen gestellt. Ethische Entscheidungen hängen nicht so sehr von der Anwendung von Normen in der jeweiligen Situation ab. Sondern es gilt, sich klarzumachen, dass solche Anwendungen auf den jeweilig gültigen Normen beruhen. Für den Glauben heißt das, dass es bei ihm einfach darum geht, sich der gültigen Norm des Religionssystems – bei Barth: dem Geist des Gottesreichs – zu unterstellen. „Denn der große Kampf, der durch dieses ganze Buch [sc. die Bibel] hindurchgeht, ist doch wirklich nicht der Gegensatz zweier Gesinnungen oder Stimmungen. Sondern da sind es eben auch Kräfte, Gewalten, Herrschaften, die miteinander ringen, und zuletzt das Reich – hören Sie es? Das Reich! – Gottes, das siegreich durch Alles hindurchbricht.“79 Die Vollendung des ethischen Reflexionswegs besteht in dem Geltenlassen der als immer schon vorausgesetzt erkannten Norm (Gott als Schöpfer) in dem realen ethischen Handeln. Jesus wird hier als Bild der kraftvollen Realisierung beschrieben, die der Geist den Glaubenden mitteilt: „Neue Stimmungen machen nichts anders in der Welt, von Jesus aber heißt es: es ging Kraft von ihm aus […]“80. Auf diesen Geist kommt es in der Realisierung an: „Glauben ist eben das viel Tiefere und Radikalere, das entscheidend hinter den Stellungnahmen des einzelnen Menschen steht. Glaube ist selbst schon Kraft, göttliche oder dämonische Kraft. Glaube ist das Ja oder Nein des Menschen, das jenseits aller Gesinnungen und Stimmungen steht, durch das er sich den Mächten, die über ihm sind, zu eigen gibt oder verweigert.“81 Wieder findet sich der Anklang zu Luthers Auseinandersetzung mit Erasmus, die im ethischen Sinne des konstitutionstheoretisch vertieften Gesinnungswandels gelesen wird. Außerdem sei hingewiesen auf die oben zitierte frühe Forderung Barths, nicht die Normen zu ändern, sondern ihre vertiefte Wahrnehmung zu reflektieren. Hier ist diese Vertiefung jetzt endgültig gottesreichstheologisch, trinitarisch82 und human-allgemeingültig theoretisch zu Ende gedacht.←168 | 169→

IV.B. Zusammenfassung: Das ganze Leben als trinitarische Darstellung der Geschichte Gottes

Der Vortrag über Religion und Sozialismus enthält, so zeigt sich, neben der theologischen Durchdringung mit der trinitarischen Struktur des dogmatischen Aufrisses zugleich einen neugefassten Anwendungsbegriff des Lebens. Leben ist nicht mehr nur das Ursprüngliche im Sinne der von Barth ethisch gedeuteten Kutterschen Unmittelbarkeit, also das vorausgesetzte Gelten der Norm als Ausgangspunkt des ethischen Bestimmungsprozesses. Sondern ‚Leben‘ wird jetzt auf jeden einzelnen Punkt des Prozesses übertragen. Damit ändert sich auch die gesinnungswandelbezogene Ausrichtung des Glaubensbegriffs. Glauben bzw. religiöse Reflexivität wird jetzt zur Durchsichtigmachung der Grundstruktur der Möglichkeit ethischen Handelns überhaupt. Religion ist damit nicht mehr selbst konstruiert nach der alten hermannsch-kantischen Entscheidungsfrage zum Guten.

Man kann das damit Erreichte auch so formulieren: In allen Stadien des trinitarischen Deutungsprozesses des ethischen Lebens der Menschheit wird ein religiöses Gesamtbild von der Welt entworfen. Das Reich der Natur, das Reich der Gnade und das Reich der Vollendung sind Beschreibungsinstanzen für das Selbstverhältnis des Menschen als eines ethischen Wesens. Die Allgemeinheits- und Voraussetzungshaltigkeit der Besinnung auf die Gültigkeit der Norm überschreitet allerdings den (erkenntnisbezogenen) Ausgang von dem einzelnen handelnden Subjekt. Die Beschreibung der objektiven Struktur der Welt wird zum Spiegelbild der gemeinten Beschreibung des ethischen Prozesses. Das erste Stadium, das den Gottesgedanken des Vaters und Schöpfers mit der Allgemeingültigkeit der Voraussetzung der Geltung der Norm verknüpft, beschreibt die ethische Grundstruktur der Orientierung am Guten, das allem denkbaren Handeln in seiner Unmittelbarkeit immer schon eingeschrieben ist. Das zweite Stadium, das den Gedanken des Sohnes als Erlösers mit dem Abgefallensein des Menschen von der Unmittelbarkeit und insofern dem Aufrichten eigener normativer Orientierung und Konstitution des Guten durch den Menschen verknüpft, skizziert die ethische Lage der Entscheidung zum Guten bzw. der Notwendigkeit seiner reflexiven Anerkennung in der ganzen Menschheit. Und das dritte Stadium, in dem der Heilige Geist mit der Kraft der Bewältigung der Aufgaben im Kontext der Welt verknüpft wird, schildert die Möglichkeit guten Handelns aus der durch reflexive Einsicht wiedererreichten Übereinstimmung mit dem Guten.

Alle diese drei Stadien bestehen in der Welt nebeneinander, seit es die Offenbarung Jesu Christi in der Welt gibt. Jede beschreibt die Gültigkeit der religiösen←169 | 170→ Sicht auf die Welt ganz. Und trotzdem wohnt der Abfolge der drei Stadien ein bleibender Zug auf angewandte Realisierung inne. Denn das Gesamtbild der drei Stadien im Leben ist seinerseits aus der alten Idee gewonnen, dass die Geschichte Gottes mit der Welt ein Bild und Darstellungsmittel ist für den ethischen Prozess der Reflexion auf die Möglichkeit der Anerkennung des Guten als Norm und insofern ein Bild für den Gesinnungswandel des handelnden Subjekts bedeutet.

IV.C. Der Zusammenhang von ethischer Reflexivität, religiöser Erkenntnis, trinitarischer Struktur und biblischem Geschichtsbild in der Christologie

Damit kann nun abschließend das kurze Vortragsskript „Christliches Leben“ von 1919 erläutert werden. Die Elemente, aus denen dieser Vortrag aufgebaut ist, wurden im Vorhergehenden im Einzelnen abgeleitet. Ihre Funktion im Kontext der Neubegründung des theologischen Denkens in der Problembearbeitung aus der ethischen Ausrichtung der Religionstheorie im Kontext des Herrmannschen Denkens heraus wurde dargestellt.

Der Aufbau des Vortrags folgt der bisher erarbeiteten Struktur, die Voraussetzungsbehauptung für die Möglichkeit ethischer Orientierung an den Anfang zu stellen und dann in einem dreistufigen Bild des Entscheidungsprozesses zu entrollen. Die Behauptung der vorausgesetzten Geltung der Normativität im Leben wird jetzt kurz christologisch gefasst und dadurch die selbstbezügliche Reflexivität des religiösen Denkens ausgedrückt. Denn die geforderte Anerkennung der Voraussetzung ist im Laufe der Entwicklung in die Voraussetzung selbst mit eingeschrieben worden, so dass die Anerkennungsforderung in der Darstellung der Entscheidungssituation aufgeht. Genau dafür aber steht die Auferstehung Christi, bzw. die Aussage „Jesus lebt“83: „Der Erweis dieser Macht mag uns problematisch sein. Die Tatsache selbst, daß Gott eben Gott ist und als solcher das letzte Wort behält, ist uns nicht problematisch. Wir gehen von ihr aus, wir kommen von ihr her. Das ist keine spezifisch[e?] religiöse Position.“84 Barth beschreibt dies zwar als „Standort“85, aber es handelt sich nicht um einen positionellen Standort des Glaubens oder der christlichen Religion, sondern um die reflexive Einholung der (ethischen) Wahrheit. Der Ausgangspunkt der Wahrnehmung ist deshalb ein Ausblick auf den Prozess, durch den er entsteht: „Das Reich Gottes trium←170 | 171→phiert über die Weltreiche. Es begreift sie in sich, es erklärt und erleuchtet sie, es richtet sie auf und stützt sie, es ist ihr letzter Sinn und ihr oberstes Ziel. Gott der Schöpfer, der Erlöser, der Vollender […] das ist das neue Licht, in dem die Weltverhältnisse stehen.“86

Jesus lebt, insofern er auferstanden ist – das ist die Voraussetzung für die Dogmatik, die in den drei Reichen beschrieben wird. Es ist bereits erkennbar, wie diese Auferstehungsbehauptung als hermeneutische Bestimmung des Standorts (der keine religiöse Position meint) in die spätere Lehre von der Offenbarung im Wort Gottes eingeht. Denn die christologische Ausgangs- und Grundbehauptung nimmt der Schöpfungslehre ihre Naturhaftigkeit, mit der sie nur unbestreitbare Grundlagen benennen, aber keinen Reflexionsprozess darstellen könnte. Christologie ist die in der Geschichte ermöglichte Erkenntnis der Struktur ethischen Handelns, sie beschreibt die Möglichkeit und die Notwendigkeit87 des Reflexionsprozesses für den (bzw. alle) Menschen, um dem (ethischen) Sein des Menschen zu entsprechen – und zugleich die gedankliche Tatsache, dass der Reflexionsprozess die Gültigkeit dessen, was in ihm erkannt wird, bereits voraussetzen muss, um möglich zu sein. Die Offenbarungslehre überträgt die Struktur der ethischen Voraussetzungsnotwendigkeit (die oben für die Möglichkeit, der ethischen Norm entsprechen zu können, abgeleitet wurde) auf den religiösen Erkenntnisprozess.

In der Kurzprogrammatik am Beginn des Vortragsskripts hat Barth die ethische Ausgangsfrage in dieser Weise verallgemeinert: „Es steckt darin die Frage nach dem göttlichen Sinn des Lebens überhaupt.“88 Auch hier wird diese Frage nach dem göttlichen Sinn überhaupt sofort in die Zeitperspektiven der drei Reiche (als Stadien des Heilswegs) auseinandergelegt: „Wir können sie selber [sc. die Frage] nicht lösen. Gott hat sie gelöst, löst sie und wird sie lösen.“89 Diese Lösung von Gott her wird mit dem ethischen und dem erkenntnisbezogenen Aufklärungsprozess im Menschen parallelisiert: „Wir können sie nur wieder einmal in uns bewegen, uns von ihr bewegen lassen, in der Hoffnung und mit dem Vorsatz,←171 | 172→ uns weiter von ihr bewegen zu lassen.“90 Der theologische Denkweg wird mit der religiösen Erkenntnis und der ethischen Bewegung in Eins gesetzt. Das ist das Gesamtprogramm für die Dogmatik.

Die ‚Schöpfungsordnungen‘ als Reich der Natur decken den vorausgesetzten ethischen Sinn in der Welt vor allem ethischen Handeln auf. „Was in sich selber ruht und vollendet und gesund ist, und wenn es eine gesunde Bosheit wäre, ein gutgehendes Geschäft, eine wohlüberlegte wissenschaftliche Leistung, ein reines Kunstwerk, eine bismarckische Staatsaktion, das solide Produkt eines Handwerks, das hat eine Verheißung, das trägt in sich eine Analogie, ein Gleichnis des Gottes Reichs.“91 Denn das Konstituiertsein des entsprechenden Handelns durch die gültige Norm geht der jeweiligen faktischen Entscheidung innerhalb des im jeweiligen Zusammenhang (Recht, Ökonomie, Wissenschaft, Kunst, Staat, Beruf) Möglichen voraus. Barth nähert sich damit vom theologisch-ethischen Standpunkt aus der Eigenständigkeit und der inneren Funktionalität der Systeme der Gesellschaft.

Die ‚gegenwärtige Übergangszeit‘ als Reich der Gnade (bzw. genauer der aufgrund der Sünde notwendig gewordenen Gnade) ist die Zeit der Entscheidung, des Kampfes um Licht und Schatten. Dazu muss überhaupt erst einmal Entscheidung möglich sein – das beschreibt der Sündenfall. Erst dann ist die Neueröffnung ethischen Handelns in Überwindung der Entscheidung möglich – das beschreibt die Christologie. Barth redet wegen der komplexen Situation der Entscheidung von einer „doppelte[n] Erschütterung, in der jetzt alle Verhältnisse sich befinden durch die Kraft des Abfalls und durch die Gott Lob und Dank noch größere Kraft der Erlösung.“92 Damit ist die ethische Situation, von der aus das ganze theologische Denken Barths ausgegangen ist, anthropologisch-christologisch auf den Begriff gebracht. Die Reflexion auf diese Situation macht die Doppelstruktur von christologisch-hermeneutischer Eingangsüberlegung und ethisch-christologischer Inhaltlichkeit aus.

Das kommende ‚ganz Andre‘ des Heiligen Geistes und des Reiches Gottes dient als Bild einer Welt, in der das neue ethische Handeln Selbstverständlichkeit geworden ist und nicht immer neu erobert werden muss. Dadurch wäre die ganze Welt ethisch geändert, wäre sie eine neue Welt. Die Übergangszeit ist durch die Doppelstruktur von Verhängnis und Erlösung gekennzeichnet. Aber das Reich der Vollendung enthält die alte Möglichkeit des Falls nicht mehr,←172 | 173→ damit aber auch nicht die alte Möglichkeit, Gutes zu tun. „Wir warten nicht nur bessrer, reformierter, revolutionierter Verhältnisse, sondern eines neuen Himmels und einer neuen Erde.“93 Die bereits in der Auferstehung mitgegebene und unter den Bedingungen der jetzigen Welt im Glauben erreichbare Realisierungsgewissheit ist die Kraft für stetiges und kräftiges Handeln aus dem wahren ethischen Geist. Die Reich-Gottes-Hoffnung kann in einer doppelten Weise ausgesagt werden. Einerseits als Hoffnung auf die unter den Bedingungen des Reiches der Gnade anzuzielende Realität eines Handelns im Sinne der ethischen stetigen und kräftigen Realisierung des Guten in der Welt. Andererseits als Hoffnung auf die Ankunft Gottes in der Welt, auf die Eschatologie des Geistes, in der die Bedingungen des Handelns im Reich der Gnade zurückgenommen werden und keine Möglichkeit einer Eigengesetzlichkeit weltlichen Handelns mehr besteht. Dann aber ist die Welt nicht mehr die Welt. Und Glaube wird zur Teilhabe an Gottes Bestimmung der Welt, die in Gottes Selbstrealisierung im Sinne des Guten eingezogen wird. Dadurch aber wird das Reich der Vollendung anders sein, es wird entindividualisiert, entanthropologisiert und entgeschichtlicht. Beide Formen der Hoffnung aber sind in der Bewegung der ethischen Besinnung strikt aufeinander bezogen, denn die Realisierung des Guten unter irdischen Bedingungen lebt von der Anerkennung des Guten als bereits gültiger oberster Norm, deren konsequentes Durchdenken die Möglichkeit ethischen Verfehlens und damit der Sünde ausschließt. ←173 | 174→ ←174 | 175→


1 Cf. die zusammengefassten Arbeiten in der Dissertation: Ruddies, Hartmut: Karl Barth und die liberale Theologie. Fallstudien zu einem theologischen Epochenwechsel. (Dissertation) Universität Göttingen 1994 (zu Herrmann, Rade, Naumann und Troeltsch); Ruddies, Hartmut: „Evangelium und Kultur. Die Kontroverse zwischen Adolf von Harnack und Karl Barth“. In: Nowak, Kurt / Oexle, Otto Gerhard (Hrsg.): Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2001, S. 103–126.

2 Ruddies 1994, S. 21. (= Id., „Karl Barth im Kulturprotestantismus. Eine theologische Problemanzeige“. In: Korsch, Dietrich / Ruddies, Hartmut (Hrsg.): Wahrheit und Versöhnung. Theologische und philosophische Beiträge zur Gotteslehre. Gütersloher Verlagshaus: Gütersloh 1989, S. 193–231, hier S. 208).

3 Cf. Ruddies 2001, S. 115: „Barth fixiert Harnack auf eine historistische Grundform seiner Theologie, in der Harnack nicht aufgeht.“

4 In dem Harnackaufsatz bestimmt Ruddies (2001) die „besondere Sachlichkeit“ (S. 123) der Theologie als ihren Bezug auf das „biblische und reformatorische Wort Gottes“ (ibid.) und stellt Harnacks „Wissenschaftskonvenienz“ (ibid.) der „Gegenstandskonvenienz“ (ibid.) Barths gegenüber. Zu Recht allerdings wird diese Differenz am Ende in die Kultur- und Wissenschaftsdebatten des frühen 20. Jahrhunderts eingeordnet. Anders als Ruddies deutet, würde ich an dieser Stelle sagen, dass die Orientierung an der Einheit des Geistes (die die Historisierung der Religion bei Harnack trägt) einer neuen Notwendigkeit der Selbstbegründung der Theologie weicht. Die Gegenstandskonvenienz, die Barth kritisch bei allen Wissenschaften anmahne, wird von Ruddies als Kritik an der Ideologieanfälligkeit jeder Wissenschaft, und zwar von ihrem Gegenstand her, gewendet. Dagegen könnte man vielleicht etwas weniger grundsätzlich deuten, dass die systemische Eigenlogik der Wissenschaften und ihrer Bezugsbereiche gesehen und als begründungsnotwendig erkannt wird.

5 Ruddies 1994, S. 275. (= id., „Krise und Aufbau. Überlegungen zu Recht und Form des Einspruchs der Dialektischen Theologie Karl Barths gegen die liberale Theologie“. In: Graf, Friedrich Wilhelm/ Tanner, Klaus (Hrsg.): Protestantische Identität heute. Gütersloher Verlagshaus: Gütersloh 1992, S. 161–175, S. 173).

6 Ruddies 1994, S. 77. (= id., „Karl Barth und Wilhelm Herrmann. Aspekte aus den Anfängen der dialektischen Theologie“. In: Zeitschrift für dialektische Theologie 1, 1985, S. 52–89, S. 84).

7 Cf. Wittekind, Folkart: Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth (1909–1916). Mohr Siebeck: Tübingen 2000.

8 Barth, Karl: Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921. In Verbindung mit Marquardt, Friedrich Wilhelm hrsg. von Drewes, Karl Anton (Karl-Barth-Gesamtausgabe, Abt. III). Theologischer: Zürich 2012. Alle Seitenzahlen im Text (und in den Fußnoten) ohne weitere Angabe beziehen sich auf dieses Buch. Titel und Jahreszahlen werden jeweils oben im Text genannt.

9 Cf. Pfleiderer, Georg / Matern, Harald (Hrsg.): Theologie im Umbruch der Moderne. Karl Barths frühe dialektische Theologie. Theologischer: Zürich 2014.

10 Cf. Pfleiderer, Georg: „Das ‚prophetische Amt‘ der Theologie. Zur systematischen Rekonstruktion der Theologie Karl Barths und ihres Entwicklungsgangs“. In: Zeitschrift für dialektische Theologie 17, 2001, S. 112–138, S. 115: „Die theologiegeschichtliche Innovation der Theologie K. Barths basiert darauf, dass Barth als die Grundfrage der Theologie die Frage begriffen hat: ‚Was ist Theologie?‘ “.

11 Op. cit., S. 60.

12 Op. cit., S. 58.

13 Op. cit., S. 73.

14 Op. cit., S. 74.

15 Barths Überlegungen nach Ausbruch des Kriegs gelten zunächst einer parallelen Neuinterpretation sowohl des Christlichen als auch des Sozialdemokratischen, cf. op. cit., S. 86–93; S. 105–117. Barth fordert ein radikales Christentum und zugleich einen radikalen Sozialismus, die aber beide nichts anderes sind als ein Ernstmachen mit den ursprünglichen Ideen: „[…] das Alte in ursprünglicher Reinheit und Kraft“ (op. cit., S. 114).

16 Op. cit., S. 40.

17 Op. cit., S. 41.

18 Op. cit., S. 112.

19 Op. cit., S. 114.

20 Ibid.

21 Ibid.

22 Op. cit., S. 115.

23 Barth hat die neue Einsicht an drei Themenfeldern durchgespielt, zunächst für den Sozialismus und seine Deutung. Dafür stehen seine umfangreichen Überlegen zum Verhältnis von Sozialismus und Christentum nach dem Ausbruch des Weltkriegs. Er parallelisiert die ethisch-politische Vertiefung mit der der Religion. Das Ziel ist es, den neuen sozialistischen Menschen zu schaffen. Allgemeingültigkeits- und Humanitätsforderungen ebenso wie Innerlichkeits- und Persönlichkeitsvorstellungen aus der Zeit vorher werden mitgeführt. „[…] Sozialisten zu gewinnen und zu werden, die solche Persönlichkeiten sind und werden möchten: Erlöst vom Egoismus des Bürgertums, erlöst von seinem falschen Idealismus, erlöst von einem halbernsten Christentum, erfaßt von der transzendenten Kraft der sozialistischen Wahrheit. Nur Erlöste können erlösen. Der neue Mensch muß geschaffen werden.“ (op. cit., S. 154 f.) Sodann überträgt Barth die neue Differenz auf die Religion selbst. Dafür steht seine Begründung des Antrags auf Abschaffung des Synodalgottesdienstes von 1915. Hier wird thematisch zwischen Gott und Götzen unterschieden („Der Geist des Evangeliums ist die Richtung auf Gott hin, unsre Synode aber ist nicht in der Richtung auf Gott, sondern auf die Götzen hin. […] Der Geist des Evangeliums ist Leben, die Art aber, wie wir hier miteinander beraten und beschließen, ist der Tod“ op. cit., S. 172 f.). Und es wird die wahre Religion nicht als quantitative Steigerung des Glaubens, sondern als strikte inhaltliche Abgrenzung von dem ‚Normalglauben’ geschildert („[…] wir würden es zu spüren bekommen, dass Gott sich zu uns bekennt, wie wir uns zu ihm bekennen. Dass wir nicht nur von seiner Sache reden, sondern seinen Segen und seine Kraft dabei haben […] unterscheiden sich nicht nur so, wie das Vollkommene sich vom Unvollkommenen unterscheidet, die niedere Stufe von der höheren, das Menschliche vom Göttlichen oder wie wir uns immer herausreden mögen. Es handelt sich hier und da um etwas gänzlich Verschiedenes“ op. cit., S. 172). Und schließlich versuchen die drei großen Vorträge des Jahres 1915/16 über „Kriegszeit und Gotteszeit“, „Religion und Sozialismus“ sowie „Die Gerechtigkeit Gottes“ zusammenfassend eine ethisch-theologische Theoriebildung.

24 Wie das Zitat zeigt, geht Barth hier nicht nur über Naumann und Troeltsch, sondern tendenziell auch über die individualistisch-personale Konstruktion seiner eigenen frühen Theologie in der Weise hinaus, dass er wieder Elemente des überweltlichen und übernatürlichen Gottesbegriffs aus der ursprünglichen Theologie Ritschls und der seiner älteren Schüler aufnimmt.

25 „Ich denke gar nicht daran, jemanden, dem es anders geht, der auch noch etwas Anderes Gott heisst ausser dem, was uns in Jesus und seinem Geist erkennbar ist, darum einen schlechten Christen zu nennen, aber ich bin im Stillen der Überzeugung, dass er im Grunde auch [!] von dem lebt, was er an Jesus hat, und nicht von dem, was ihm seine anderen Götter sind.“ (op. cit., S. 193) „Einmal muss doch die Entdeckung in uns aufleuchten, dass es gilt Ernst zu machen und von dem zu leben, wovon wir im Grunde leben […]“ (op. cit., S. 194).

26 Op. cit., S. 150 f.

27 Op. cit., S. 196.

28 Op. cit., S. 193.

29 Op. cit., S. 195.

30 Ibid.

31 Op. cit., S. 198; cf.: „Diese neue Welt war das Gottesreich, gegenwärtig in ihm [sc. Jesus] selber und in seinen Jüngern, aber durchaus nicht nur in den Seelen, sondern in Worten und Taten, die die alte Weltordnung deutlich und offenkundig durchbrachen“ (ibid.). Hier wird die ethische Konsequenz der neuen Stellung (im Gegensatz zur Abwertung der Worte und Gefühle) gerade mit dem Gegensatz von Seele zu (realen) Worten und Taten ausgedrückt.

32 Ibid.

33 Op. cit., S. 202.

34 Die Parallele wird dadurch verdeckt, dass Barth Gott gegenüber von Warten, Sich-bereiten auf die volle Wirklichkeit Gottes, Stille werden, Nicht-brauchen-können, Entgegentreten Gottes als „etwas von Grund aus Anderes […] als Alles Andre, was mir sonst als wahr und richtig vorkommt“ (op. cit., S. 201), spricht. Immerhin findet sich auch das Stichwort Entscheidung („Das ist auch eine mögliche Entscheidung“, op. cit., S. 204) bzw. mit Jos 24,15 die Forderung einer Erwählung (ibid.), von Gott aus formuliert als ‚Beanspruchung‘, ‚Beschlagnahme‘ und ‚Verfügung‘ (op. cit., S. 202). Es geht ja gerade darum, die möglichen Aktivitätsmerkmale dieser Entscheidung als in der ursprünglichen Gegebenheitsweise der Norm bereits mit enthalten zu behaupten. Barth nähert sich damit Formulierungen aus Luthers Theologie, wenn er von den Mächten spricht, die den Menschen beherrschen: Welt, Teufel, Dämonen und Gewalten einerseits, Wirklichkeit des Reiches Gottes andererseits. Er argumentiert hier mit Verweis auf die Struktur der auf den Geist Christi und seine kosmologische Funktion bezogenen Hoffnung in Röm 8.

35 „Nicht das ist das Eine Notwendige […], dass der Mensch sich in der Welt zurechtfindet, sondern dass er wachend und wartend dieser Fortsetzung und Vollendung von Gott her begegne.“ (op. cit., S. 196)

36 Op. cit., 205.

37 „Ist jemand in Christus, so ist er neue Schöpfung. […] Aber das ist eine grosse heilige Sache, soweit zu sein, dass uns Gott wirklich Gott ist, und wer darf da eigentlich sagen, dass er schon soweit sei?“ (op. cit., S. 206) „Damit Gottes Wille geschehen kann, dazu müssen wir wieder im Ernst darum beten. Damit seine Verheissung wahr werden kann, dazu müssen wir sie wieder ganz anders als wahr annehmen, müssen ganz anders um Erkenntnis Gottes ringen, müssen ganz anders uns von Gott für Gott erleuchten und zubereiten lassen. Das Tun [!], auf das es jetzt ankommt, das jetzt entscheidend [!] ist, führt uns in die Stille des Gebets, in die einsame oder gemeinsame Vertiefung in Gottes Wort und Willen, in die innere Sammlung, Konzentierungen und Ladung, in das Fest- und Klarwerden in der grossen Hoffnung, die wir als Christen haben.“ (op. cit., S. 207)

38 Op. cit., S. 208.

39 Ibid.

40 Op. cit., S. 209.

41 Op. cit., S. 221.

42 „Die Sache, um die es sich mir handelt, und auf die uns die Religion als Gefühl allerdings hinweist, ist etwas Grösseres und Klareres. Sie ist nicht nur ein Gefühl, mit all den Schwankungen und Unsicherheiten, denen alle Gefühle ausgesetzt sind, sie ist eine Tatsache. Sie ist die Tatsache, die eigentlich allein diesen Namen verdient, sie ist das einzig Sichere und Haltbare, das es überhaupt giebt [!], […] sie ist die Tatsache, von der wir Alle [!] im Grunde leben.“ (op. cit., S. 213) Es scheint, als ob Barth sein sozialistisches Publikum zu den naturhaften Weiterungen animiert habe: „Die ganze Menschheit lebt von ihr […] Es leben von ihr die Blumen, der Wald und die Vögel und die fernen Gestirnswelten, die über uns ihre wunderbaren Bahnen gehen. Alles Leben strömt aus ihr.“ (ibid.) Der alte Entscheidungsdual zwischen zwei ethischen Haltungen wird hier gleich auf die Aussage- und Erkenntnismöglichkeit der vorausgesetzten Wirklichkeit angewendet: „Wir können sie anerkennen oder wir können sie verleugnen; […] wir können ihr die Herrschaft über unser Leben einräumen oder wir können es […] probieren, es ohne sie zu machen [das war der ethische Ausgangspunkt der Wirklichkeitsidee]. Sie ist und bleibt, sie geht ihren ruhigen ewigen Gang mit uns oder ohne uns. Sie lebt nicht von uns, aber wir leben von ihr.“ (ibid.) Das zeigt deutlich, dass die Abschneidung der Tatsachenbehauptung von ihrem erkenntnistheoretischen Ausweis ein Moment ihrer bildhaften Isolierung als Voraussetzung ist – denn der Sinn der Wirklichkeit bzw. der Tatsache ist ja, dass wir von ihr leben, wenn wir handeln, auch wenn diese Tatsache im Handeln selbst nicht reflexiv eingeholt wird. Die Gültigkeit der Norm ist die Voraussetzung ihrer Anwendung im Handeln, sie wird nicht erst im Handeln (durch gute Entscheidung) hervorgebracht.

43 Op. cit., S. 215.

44 Ibid.

45 Ibid.

46 Dadurch dass der Ursprung nur in Funktion für diese Handlungsorientierung seinen Sinn hat, unterscheidet sich Barths Denken bleibend von Kutters lebensphilosophischer und denkkritischer Unmittelbarkeitskonstruktion. Kutter wird nur zur Beschreibung des einen Elements der neuen Theorie rezipiert.

47 Barth redet hier noch recht unbestimmt von dem Leben, „das wir durch 1000 unaufrichtige Machenschaften verloren haben“ (op. cit., S. 216; cf. S. 218) oder davon, dass wir sind „in aller Verwirrung, in die wir gestürzt sein mögen, in aller Ungerechtigkeit und Lüge, von denen wir vielleicht umgeben sind“ (op. cit., S. 216). In dem Aufsatz „Kriegszeit und Gottesreich“ wurde die Situation des Abfalls noch einfach als Behauptung gesetzt, weil die Betrachtung gerade von der Welt der Naturkraft ausging: „Der Jünger Jesu ist hundertfach verflochten in die Sünde und Strafe der Welt, in die alte Gerechtigkeit und ihre hoffnungslosen Konflikte […] Er muss diese Schuld der alten Welt selber in einem unruhigen zerrissenen Gewissen tragen. Aber eben: diese Verflochtenheit in die Gesetze der gegenwärtigen Welt ist ihm nicht eine göttliche Notwendigkeit, sondern eine Schuld, eine Gefangenschaft, etwas, was ihn und seine Brüder von Gott trennt und was von Gott her fallen muss.“ (op. cit., S. 197) Das bleibende Problem der Barthschen Sündenlehre ist, wie es zu dieser Situation gekommen ist, wenn der Mensch eigentlich schon immer von Gott her wissen konnte, was Gott von ihm will.

48 Op. cit., S. 230.

49 Ibid.

50 Cf. ibid.

51 Op. cit., S. 233.

52 Op. cit., S. 234.

53 Op. cit., S. 235.

54 Op. cit., S. 236.

55 Op. cit., S. 242.

56 Ibid.

57 Op. cit., S. 242 f.

58 Op. cit., S. 244.

59 Die anthropologischen Theoriebestandteile (die sich hier noch direkt aus der Beschreibung des ethischen Handelns aus den beiden Grundstellungen des Menschen zur Norm ergeben) werden erst in den dogmatischen Überlegungen der 20er Jahre wieder aufgenommen.

60 Georg Pfleiderer (id., „Progressive Dialektik. Zur Entwicklung von Karl Barths theologischem Denken im Zeitraum des Ersten Weltkriegs“. In: Pfleiderer / Matern 2014, S. 81–103, 91.) hat darauf hingewiesen, dass die Stellung des Gewissens in „Gerechtigkeit Gottes“ eigentlich ein Rückschritt gegenüber Kutter ist. Es ist zu zeigen, dass Barth diese Stellung braucht, dass er sie nur später in die theologische Symbolik der Erlösung durch Jesus Christus einfließen lässt.

61 Cf. dazu die Barthdeutung Georg Pfleiderers: Id., Karl Barths Praktische Theologie, Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert. Mohr Siebeck: Tübingen 2000.

62 Das Warten sei, so Barth hier einmal in Anspielung auf die Revolution der Denkungsart, ein „in seinem Wesen revolutionäres“ (op. cit., S. 299).

63 Op. cit., S. 296.

64 Op. cit., S. 295.

65 „Aber das ist’s gerade: wenn wir überhaupt dem Inhalt der Bibel näher treten wollen, müssen wir es wagen, weit über uns selbst hinauszugreifen. Der Inhalt der Bibel selber lässt das nicht anders zu. […] Die Bibel selbst ist’s, eine gewisse unerbittliche Logik ihres Zusammenhangs [!] […]“ (op. cit., S. 324). Angesichts solcher konstruierten Aussagen sollte man heute theologisch mit dem ‚Realismus‘ Barths als hermeneutische Kategorie für sein Verständnis vorsichtig sein.

66 Op. cit., S. 331.

67 Op. cit., S. 332.

68 Op. cit., S. 335.

69 Op. cit., S. 336.

70 Cf. auch die Skizze „Vom rechten Bibellesen“ von August 1917: „Die Bibel ein Ganzes. Alles hat einen Sinn, aber eben keine Einzelheiten. […] Der Inhalt eine Geschichte – Gottes mit d. [dem oder den?] Menschen. Wie er Glaube sucht und seine Gerechtigkeit aufrichtet.“ (op. cit., S. 408).

71 Cf. Pfleiderer 2014, S. 96. Nach dem bekannten Durchgang durch die ethischen Probleme von Moral, Geschichte und Religion deutet Barth damit am Ende die Neubegründung nur an: „Darum kann auch ich jetzt nur in ein paar Worten etwas stottern, andeuten, verheißen von dem, was sich uns auftun würde, wenn die Bibel ungehindert, in vollem Strom ihrer Offenbarungen mit uns reden könnte.“ (op. cit., S. 340, cf. zum Folgenden S. 340–342).

72 Op. cit., S. 419.

73 Op. cit., S. 420.

74 Op. cit., S. 421.

75 Op. cit., S. 422.

76 Op. cit., S. 424.

77 Ibid.

78 Op. cit., S. 424.

79 Op. cit., S. 427 f.

80 Op. cit., S. 428.

81 Op. cit., S. 429.

82 Cf. auch die Skizze „Die Dreieinigkeit“ (vermutlich zur Taufe von Christoph Barth im Oktober 1917) mit der entsprechenden Credoauslegung von 1914, s. o. nach Anm. 11.

83 Op. cit., S. 503.

84 Op. cit., S. 504.

85 Op. cit., S. 503.

86 Op. cit., S. 504.

87 Reflexionsreflexion und die Struktur der Sünden- und Heilslehre kommen überein: „Sie [sc. die Weltverhältnisse] stehen darin [sc. in dem neuen Licht] nicht zufällig, auch nicht notwendig, denn es könnte auch anders sein. Auch nicht kraft einer Theorie, die wir über sie ausbreiten, denn wir könnten auch anders denken. Aber kraft der Auferstehung Jesu von den Toten, die als das Bewegende hinter unsrer Frage steht.“ (op. cit., S. 504)

88 Op. cit., S. 503.

89 Ibid.

90 Ibid.

91 Op. cit., S. 505 f.

92 Op. cit., S. 509.

93 Op. cit., S. 511.