Roderich Barth

Erinnerungskultur ohne Geschichtsphilosophie? Überlegungen im Anschluss an Ernst Troeltsch

Abstract In times of global socio-political crises, the „uses and abuses of history“ become a challenge again. In the humanities, the contribution of history to the formation of contemporary identities and their normative orientations is discussed under the new paradigm of cultural memory (Erinnerungskultur). This article argues that philosophy of history as Ernst Troeltsch conceived it could be an important contribution to these debates. It explores how Troeltsch sought to overcome narrow nationalist perspectives and to develop a critical cultural identity that acknowledged the ambivalence of religious traditions. Moreover, it identifies the religious dimensions of cultural memory itself and sketches the outlines of a modern account of religion in relation to history.

1. Erinnerungskultur – Versuch einer Annäherung

Nach über zwanzig Jahren scheint – so der immer deutlicher zu vernehmende Warnruf politischer Kommentatoren – die mühsam aus zwei Weltkriegen und der Nachkriegsgeschichte erwachsene Friedensordnung in ernster Gefahr.1 Die fast schon vergessenen Handlungs- und Sprachmuster des kalten Krieges sowie ein unverbrämter Nationalismus sind binnen kürzester Zeit zurückgekehrt und erfüllen sowohl den Beobachter als auch die in diese Logik hineingleitenden Aktanten mit zunehmender Sorge und Hilflosigkeit. Das europäische Projekt hat abrupt die Bahnen einer Erfolgsgeschichte verlassen und ist in eine Sequenz von existentiellen Krisen übergegangen. Auch die sich zuspitzenden Konflikte in der arabischen Welt, die sich in Europa zunächst noch aus einem vermeintlichen Sicherheitsabstand betrachten ließen oder gar angesichts der Euphorie und der Hoffnungen, die sich mit dem sogenannten arabischen Frühling verbanden, als Indikatoren einer globalen Krise verdrängt wurden, sind inzwischen in Ge←189 | 190→stalt des islamistischen Terrors mitten in Europa angekommen. Im Syndrom mit den Zumutungen der Globalisierung rufen all diese Krisenerfahrungen existentielle Ängste und diffuse Gefühle des Unbehagens hervor. Und diese atavistischen Gefühle tragen offensichtlich dazu bei, dass national wie international politische Kräfte mehrheitsfähig werden, die auf die zunehmende Komplexität und Riskiertheit moderner Gesellschaften mit primitiven Mustern und revisionistischen Reflexen reagieren, – Kräfte, denen man noch vor wenigen Jahren höchstens den Status einer radikalen Minderheit zugetraut hätte. Dass in diesen gesellschaftlich-kulturellen Verwerfungen auch religiöse Identitäten eine zentrale Rolle spielen, ist kaum zu übersehen und findet etwa in dem zeitdiagnostischen Paradigmenwechsel zur „postsäkularen Gesellschaft“ seinen Niederschlag.2

Schon vor den jüngsten politischen Zuspitzungen im Angesicht der sogenannten Flüchtlingskrise haben amerikanische Wissenschaftler die europäische Angstkultur und den sie nährenden Nativismus kritisiert. Gegen die fatalen Aporien der dabei involvierten ethnisch-religiösen Homogenitätsideale wird unter anderem auf die europäische und vor allem die amerikanische Geschichte und deren Lernprozesse verwiesen, um vor diesem Hintergrund ein alternatives Zukunftsmodell unter Einschluss religiöser Toleranz zu begründen.3 Lassen sich also akute Orientierungskrisen durch den Rückgriff auf Ideale überwinden, die – um einen Ausdruck Schleiermachers zu verwenden – aus dem ,Bilderbuch‘ der Geschichte entnommen sind? Als am 1. September 2014 Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Danziger Gedenkrede zum deutschen Überfall auf Polen unter dem Eindruck eines ebenfalls in Europa nicht mehr für möglich gehaltenen politischen Ereignisses – der russischen Annexion der Krim – meinte genau in diesem Sinne die jüngere Geschichte Europas auf Gegenwartsfragen beziehen zu dürfen, hat er damit allerdings eine kontroverse Debatte darüber ausgelöst, ob Ciceros Formel historia magistra vitae überhaupt vorausgesetzt werden darf oder nicht vielmehr die „Einzigartigkeit der historischen Konstellation […] Handlungsanweisungen für die Gegenwart“ verbietet.4←190 | 191→

Will man sich diesem vielschichtigen und schwierigen Themenkomplex annähern, so drängt sich vor dem debattenpolitischen Hintergrund der letzten Jahre an vorderster Stelle der Begriff der Erinnerungskultur auf. So geeignet freilich das Konzept ist, um die vielspältigen Phänomene im Spannungsfeld der gedächtnispolitischen Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu umgreifen, so sehr ist dieses Fassungsvermögen durch eine notorische Vagheit des Begriffs erkauft. Daher möchte ich zunächst einige Näherbestimmungen vornehmen, um vor diesem Hintergrund dann meine weiterführende Frage nach dem Nutzen und Nachteil der Geschichtsphilosophie anschließen zu können.

Der Begriff der Erinnerungskultur als geschichts- und kulturwissenschaftliche Leitkategorie findet sich erst recht spät, genauer seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, erlebt dann aber binnen kürzester Zeit eine rasante, publizistisch greifbare Konjunktur.5 Dem übergeordneten Konzept der Erinnerungskultur sind wiederum verwandte Modelle des Erinnerns oder des Gedächtnisses zuzuordnen, die in den Entstehungszusammenhang des neuen Paradigmas gehören. An erster Stelle sind hier natürlich Pierre Noras Studien über die Les Lieux de mémoire sowie Aleida und Jan Assmanns interdisziplinäre Erforschung des kulturellen Gedächtnisses zu nennen.6 Die Eröffnung dieses neueren Forschungsfeldes ging einher mit der Wiederentdeckung von älteren Theorieansätzen, die in diesem Zuge gleichsam zu Ahnherren der Erinnerungskultur avancierten: Aby Warburgs Erforschung epochenübergreifender Bildwelten als Erinnerungsgemeinschaften und Maurice Halbwachs’ sozialpsychologische Konzeption des kollektiven←191 | 192→ Gedächtnisses.7 Dieser Spur folgend lässt sich die Vorgeschichte der Erinnerungsforschung aber auch noch viel weiter etwa bis zu Augustins Memoria-Konzeption oder Platons Anamnesis-Lehre zurückverfolgen.

Allerdings würde man dann ganz unhistorisch die spezifischen Zeitumstände übersehen, unter denen sich das moderne Konzept der Erinnerungskultur herausgebildet hat. Neben der mit einem Generationenumbruch verbundenen Aufarbeitung der Zeit des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust hat das mit dem Begriff bezeichnete Phänomen seinen mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund vor allem in einer resignativen bis kulturpessimistischen Stimmungslage und einer daraus hervorgehenden Nostalgie im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts.8 Das Zusammenbrechen großer Ideologien und Utopien und das damit verbundene Abhandenkommen gesellschaftspolitischer Alternativen sowie das Zutagetreten innerer Aporien kapitalistischen Fortschrittsglaubens gelten als Katalysatoren einer vergangenheitsorientierten Identitätsvergewisserung. Die Medien dieser Geschichtsthematisierung erstrecken sich dabei von klassischen Denkmälern und Gedenkfeiern bis hin zur kulturwissenschaftlichen Reflexion, wobei die Möglichkeiten digitaler Bild- und Informationsverarbeitung dabei zunehmend an Bedeutung gewinnen. Erinnerungskultur in diesem Sinne ist somit ein offener Sammelbegriff, der durchaus vorwissenschaftliche Phänomene des Umgangs mit Geschichtserinnerung umfasst, die man auch als Vergangenheits- oder Gedächtnispolitik bezeichnen kann.

Für die folgenden Überlegungen sind vor allem drei Aspekte weiterführend. Zunächst ist es angesichts der funktionalen Bezogenheit auf kollektive Identitäten kaum verwunderlich, dass sich die Erforschung der Erinnerungskultur bisher vorwiegend in nationalstaatlichen Bahnen vollzog – Pierre Noras Erinnerungsorte der französischen Nation und ihre zahlreichen Übertragungen sind das stilbildende Beispiel dafür. Gerade aber an der Übertragung auf Nationen wie etwa Deutschland zeigte sich dabei auch die Begrenztheit des nationalstaatlichen Bezugsrahmens und das damit verbundene Bedürfnis nach supra- oder infranationalen Bezugsgrößen der Erinnerungskultur.9 Was letzteres betrifft lässt sich etwa auf Phänomene wie die Zuspitzung konfessioneller Gegensätze gerade im Nationalstaat des 19. Jahrhunderts oder die Zunahme regionaler oder gar←192 | 193→ lokaler Erinnerungsarbeit unter den Bedingungen einer als diffus erlebten Globalisierung verweisen. Zugleich muss aber – wenn die von Halbwachs behauptete Reziprozität von individuellem und kollektiven Gedächtnis zutrifft – mit dieser Relativierung nationaler Kollektive auch das Bedürfnis nach supranationalen bzw. übergeordneten Bezugsgrößen entstehen, die gleichsam am Orte des Individuums als Integrationspunkt für die faktische Pluralität seiner regionalen und lokalen Narrative fungieren.

Fragt man zweitens nach dem Thema Religion in der Erinnerungskultur, so zeigen sich unterschiedliche Bezugspunkte, die allerdings eine gemeinsame Problematik erkennen lassen. Religion begegnet zunächst als ein Element in der Vielfalt von Erinnerungsorten selbst und tritt dabei zwangsläufig unter die funktionale Perspektive nationaler Identitätsbildung.10 Bei der Beschreibung vormoderner Formen der Erinnerungskultur sodann wird die Korrelation von kollektiver Identitätsbildung und Religion förmlich zum Inbegriff des kulturellen Gedächtnisses. Hier sind zuvörderst Jan Assmanns Studien zu nennen, bei denen insbesondere die israelitisch-jüdische Religionsgeschichte als Paradigma für die Bewahrung der kollektiven Identität durch die Kanonisierung Heiliger Texte dient. In beiden Fällen wird jedoch mehr oder weniger explizit ein Säkularisierungsmodell vorausgesetzt, demzufolge in modernen Gesellschaften religiöse Legitimationsformen durch Aufklärung und historische Kritik zunehmend zersetzt und durch andere Ideologien abgelöst werden. Schließlich wurde das Konzept der Erinnerungskultur auch auf das Christentum selbst angewandt. Um sich des Verdachts epigonaler Abhängigkeit vom Zeitgeist zu erwehren, wurde das Christentum dabei förmlich zur „Erinnerungsreligion“ erklärt, die sich um Erinnerungsorte herum konstituiert habe, lange „bevor sie in den Geisteswissenschaften nach der sogenannten kulturalistischen Wende zu einer Mode wurden.“11 Die These wird allerdings nicht mit der gerade im Historismus als unabgegolten gerühmten Memoria-Konzeption Augustins begründet, sondern mit der Bedeutung des sakramentalen Gedächtnismahls. Letzteres wiederum wird dabei nicht nur als „Erinnerung an das vergangene Heilshandeln Gottes in Jesus Christus“ verstanden, sondern zugleich als Präsenz „ebendieses Heilshandeln[s] in der Gemeinschaft←193 | 194→ der Christen“.12 Auf diese Weise wird das dezidiert vormoderne Konzept der Heilsgeschichte in die moderne Form der Erinnerungstopographie invertiert. In allen drei Bereichen fehlt also ein explizit modernitätstheoretisches Religionsverständnis.

Damit komme ich zu meinem letzten Gesichtspunkt. Ich hatte oben bereits auf den weiten Umfang des Begriffs der Erinnerungskultur hingewiesen, der sich von vorwissenschaftlichen Formen der Erinnerung von Vergangenheit bis zu deren methodisch geleiteter Reflexion erstreckt, wobei ersteres wohl die begriffsgeschichtlichen Anfänge bildete. Die Erhebung der Erforschung von Erinnerungskulturen und Orten zum neuen kulturwissenschaftlichen Leitmodell machte aber auch eine Verhältnisbestimmung zu den traditionellen Formen der Geschichtswissenschaft erforderlich. Gerade die Theorien des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses gingen und gehen dabei von einem kategorialen Gegensatz zwischen Erinnerungskultur und Historiographie aus.13 Pierre Noras Konzept der Gedächtnisorte lebt förmlich von der säkularisierungstheoretisch und modernitätskritisch aufgeladenen Entgegensetzung eines durch traditionelle Institutionen (Kirche, Familie, Staat) getragenen ‚lebendigen Gedächtnisses‘ und der nur noch ‚tote Vergangenheit‘ repräsentierenden Historiographie. Denn die ‚Gedächtnisorte‘ sollen genau den Moment des Übergangs von ersterem zu letzterer markieren und somit zum innovativen Gegenstand der Geschichtsreflexion selbst werden.14 Vor allem Jörn Rüsen hat dagegen im Anschluss an die klassische Historik Gustav Droysens die innere Verwiesenheit von Lebenspraxis und Fachwissenschaft, von gegenwärtigen Orientierungsbedürfnissen und historischem Denken rekonstruiert und in diesem Sinne den Begriff der „Geschichtskultur“ geprägt.15 Der Geschichtstheorie kann demzufolge nicht nur eine kritisch-konstruktive Funktion mit Bezug auf die vorwissenschaftliche Erinnerungskultur zugewiesen werden, sondern sie wird dadurch unweigerlich auch selbst zum Aufbaumoment und Medium derselben. Ist also ein Gegensatz von Geschichtskonstruktion und Erinnerungs- bzw. Geschichtskultur nicht zwingend, so ist angesichts der allge←194 | 195→mein vorausgesetzten politisch-praktischen Funktion von Erinnerungskultur die Frage zulässig, ob nicht gerade die auf die leitenden Ideen und Grundlagen reflektierende Geschichtsphilosophie ein unverzichtbares Reflexionsmoment enthält, zumal ja die nur lose durch den Nationalgedanken zusammengehaltenen Erinnerungstopographien bewusst einer entgegengesetzten, nämlich konkretisierenden Reflexionsrichtung folgen.16 Auch für die im Erinnerungsdiskurs bisher noch ortlose Reflexion der Religion in der Moderne wäre von daher ein Erkenntnisgewinn zu erwarten.

2. Geschichtsphilosophie unter den Bedingungen des Historismus

So stark, wie das Konzept der Erinnerungskultur die gegenwärtigen Debatten beherrscht, so still ist es jedoch um das Konzept der Geschichtsphilosophie geworden. Mit einigen Schlaglichtern möchte ich zunächst eine mögliche Erklärung dafür anbieten. Auch in Bezug auf die Geschichtsphilosophie zeigt sich allerdings ein ähnlicher Befund wie in Bezug auf das Konzept der Erinnerungskultur. Legt man einen weiten Arbeitsbegriff zu Grunde, also etwa, dass Geschichtsphilosophie die Frage nach den Prinzipien der Geschichte sei, so lässt sich Geschichtsphilosophie gleichsam avant la lettre bis in die Antike zurückverfolgen.17 Geschichtsphilosophie im engeren Sinne – der Titel begegnet erstmals in Voltairs gleichnamigen Buch von 1765 – formiert sich in der europäischen Aufklärung und zeigt dabei eine Fülle von Gestalten, deren Ordnung für sich schon eine geschichtsphilosophische Herausforderung von Rang darstellt. Ein übergreifendes Merkmal besteht jedoch darin, dass die unterschiedlichen Spielarten der aufgeklärten Geschichtsphilosophie von einem Geschichtsverständnis ausgehen, das ausschließlich den Menschen oder Völker als handelnde Subjekte unter natürlichen und kulturellen Bedingungen voraussetzt. Das bedeutet zugleich, dass sich←195 | 196→ die Geschichtsphilosophie von elementaren Denkvoraussetzungen des biblisch-augustinischen Geschichtsbildes löst. Eine mit dem Heilshandeln Gottes rechnende Geschichtstheologie ist unter diesen Bedingungen nur noch mit Äquivokationen im Geschichtsbegriff zu haben. Eine christliche Geschichtsphilosophie aber ist mit jenem neuzeitlichen Geschichtsverständnis keineswegs ausgeschlossen. Vielmehr entwickeln sich bereits im 18. Jahrhundert Synthesegestalten, die ein ethisch-humanistisches Fortschrittsmodell mit dem Auftreten der Religion Jesu verschränken. Derartige Modelle werden dann in den geschichtsphilosophischen Entwürfen des deutschen Idealismus noch einmal spekulativ vertieft. Das Bewusstsein einer von den eigenen Systemen auf den Begriff gebrachten realgeschichtlichen Situation wird rückgebunden an die im Auftreten des Christentums datierte Zeitenwende. Daher entfalten diese universalgeschichtlichen Entwürfe jeweils auch eine geschichtsmetaphysische Christologie, deren unterschiedliche Modelle einer Vereinigung von Absolutem und Geschichtlichem gleichsam eine Typologie für mögliche Verhältnisbestimmungen zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus bilden.18

Doch diese spekulativen Entwürfe einer abendländisch-christlich zentrierten, aber universal gedachten Fortschrittsgeschichte verlieren im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts rasant an Plausibilität und damit gerät auch das fortan mit derartigen Systemen verbundene Konzept von Geschichtsphilosophie als solches in Verruf. Dabei ist bezeichnend, dass unter den vielfältigen Faktoren, die sich um Schlagworte wie Naturalismus, Positivismus, Nihilismus, Materialismus oder Evolutionismus gruppieren ließen, gerade die Emanzipation des historischen Bewusstseins entscheidend zum Plausibilitätsverlust einer kategorialen Letztbegründung und universalen Telosbestimmung geschichtlicher Phänomene beigetragen hat. Vor allem die Ergebnisse der sich fachwissenschaftlich verselbständigenden und methodologisch durchklärenden Geschichtswissenschaft sowie die konsequente Durchführung der historischen Methodologie in den einzelnen Geistes- oder Kulturwissenschaften sprengen jede kategoriale Einhegung. So zeigt sich das paradox anmutende Phänomen, dass die Geschichtsphilosophie zuvörderst an der ungeheuren Konjunktur des geschichtlichen Denkens zu scheitern drohte.19←196 | 197→

Von der Dominanz und zugleich auch Ambivalenz dieses neuen Paradigmas gibt bereits die Zweite Unzeitgemäße Betrachtung Friedrich Nietzsches von 1874 eindrucksvoll Zeugnis, deren fundamentale Anfragen m. E. auch für eine heutige Debatte über den Umgang mit Geschichte noch aufschlussreich sind.20 Nietzsche überzieht den Bildungsstolz einer sich auf dem Zenit historischen Wissens wähnenden Epoche mit beißender Kritik und lässt deren Schattenseiten und Aporien ans Licht treten. Der Mensch könne zwar nicht ohne Erinnerung leben, da er seine Identität aus einem Woher bzw. vor einem Horizont aufbauen müsse, aber mindestens ebenso wichtig sei das Vergessen, weil aus einer falsch verstandenen Fixierung auf Vergangenheit zutiefst lebenshemmende Wirkungen resultierten: Das epigonale Erlahmen der Innovationskraft, die Schwächung der Persönlichkeitsbildung durch bloße Rezeptivität, die unzulängliche Säkularisierung mittelalterlicher Endzeitängste durch das trügerische Bewusstsein eines gesellschaftlich-kulturellen Reifezustands sowie identitätsgefährdende Selbstentfremdungen. Geschichte sei also nur dann von Nutzen für das Leben, wenn sie sich nicht selbst als objektive Wissenschaft missverstehe, die sie in ihrer Konstruktivität, Selektivität und Nivellierungstendenz ohnehin nie gewesen sei und sein könne. Sondern – so Nietzsches Formulierung: „Historie muß das Problem der Historie selbst auflösen“,21 was soviel bedeutet wie, sie muss sich selbst historisieren und sich dadurch relativieren. Positiv weist Nietzsche dem historischen Bewusstsein also vor allem eine kritische Funktion zu, während er kulturbildende Kräfte in dieser Schrift nur noch einer Kunstreligion zutraut.

Nietzsches Programm einer Überwindung des später dann sogenannten Historismus wird sich bekanntlich noch lebensphilosophisch weiterentwickeln. Auch wenn die kritische Dimension des historischen Sinns dabei weiterhin eine zentrale Rolle spielt und etwa mit der Formel von der ‚ewigen Wiederkunft des Gleichen‘ durchaus auch geschichtsphilosophische Implikationen vorhanden sind, gewinnt er dabei jedoch kein positives Verhältnis zur Geschichtsphilosophie. Dennoch ist es auch unter den Bedingungen des Historismus zu einer Neubestimmung der Geschichtsphilosophie gekommen. Einer der prominentesten Vertreter dafür ist Ernst Troeltsch. Die Geschichtsphilosophie spielt in seinem Denken von←197 | 198→ Beginn an eine tragende Rolle.22 Da eine werkgeschichtliche Darstellung seiner sich stetig fort- und mehrfach umbildenden Geschichtsphilosophie hier zu weit führen würde, beschränke ich mich auf die Gestalt in seinem unter dem Eindruck der Katastrophe des ersten Weltkrieges, genauer ab 1916, entstandenen, 1922 dann teilveröffentlichten, aber unvollendet gebliebenen Spätwerk Der Historismus und seine Probleme. Der Titel ist dabei weniger aussagekräftig als der Untertitel des ersten und einzig vollendeten Buches: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie.23 Denn der Sache nach handelt es sich genau darum: Um das Programm einer aus der Logik des modernen historischen Bewusstseins selbst entwickelten Geschichtsphilosophie. Gegenüber der bloß erzählenden Geschichte und der empirischen Geschichtsforschung liegt das Proprium der Geschichtsphilosophie nach Troeltsch dabei in der normativ-praktischen Geschichtsdeutung, die darauf abzielt die Vergangenheit für die je gegenwärtige Zukunftsorientierung←198 | 199→ fruchtbar zu machen. Geschichtsphilosophie also „mündet […] in die Ethik ein“24 oder anders formuliert, sie ist ein Projekt in „praktischer Absicht“.25 Das bedeutet umgekehrt, dass Ethik für Troeltsch auf Geschichte angewiesen ist und somit nicht allein als Normentheorie, sondern – traditionell gesprochen – vor allem als Güterlehre zu explizieren ist.26 Die Schleiermacher-Diltheyschen Spuren mit Bezug auf eine konstruktive Verhältnisbestimmung von Ethik und Geschichte sind deutlich zu erkennen. Zur kulturellen Nachhaltigkeit von Normen und Wertvorstellungen bedarf es, so kann man es in Anknüpfung an den einleitenden Abschnitt auf die aktuelle kulturwissenschaftliche Debatte übertragen, einer lebendigen Erinnerungskultur, vermittels derer diese Ideen in den Aufbau individueller und kollektiver Identitäten und das entsprechende Orientierungswissen integriert werden. Genau dieses praktische Ziel begreift Troeltsch nun aber als genuine Aufgabe der Geschichtsphilosophie und fasst dies im Begriff des Aufbaus einer „gegenwärtigen Kultursynthese“ zusammen.27 Der Aufbau einer Kultursynthese soll – wie Troeltsch unter Anspielung auf die Nietzschesche Paradox-Formel auch sagen kann – dazu beitragen, „Geschichte durch Geschichte zu überwinden“.28 Dabei liegt allerdings der Akzent anders als bei Nietzsche weniger auf kritischer Fremdsetzung des historischen Bewusstseins als auf positiver Aneignung seiner Deutungsleistungen. Aus diesem Grund bindet Troeltsch seine materiale Geschichtsphilosophie auch an eine formale Geschichtslogik zurück, welche die konstruktiven Aspekte des historischen Verstehens nicht wie Nietzsche zur Desavouierung der Objektivität der Geschichtswissenschaft nutzt, sondern eher im Sinne der Historik Droysens als notwendige Aufbaumomente historischer Gegenständlichkeit und ihrer gegenwartspraktischen Bedeutung durchsichtig werden lässt.←199 | 200→

Im Zentrum der hier nur in Schlaglichtern zu präsentierenden Konzeption stehen der Begriff der ‚individuellen Totalität‘ und der ‚Entwicklungsbegriff‘ – oder anders formuliert: die Begriffe des „historischen Gegenstandes und […] des historischen Werdens“.29 Dass der historische Gegenstand von Troeltsch in Weiterführung der von Herder über die Romantik bis zur Historik des 19. Jahrhunderts sich etablierenden Begriffsbildung als individuelle Totalität bestimmt wird, die durchaus auch Kollektivsubjekte und Epochen umschließen soll, dient der Rückbindung der praktischen Geschichtsphilosophie an die empirische Historie und zugleich der Vermeidung von Aporien einer entweder zyklisch oder teleologisch verfahrenden spekulativen Geschichtsphilosophie. Dass sich wiederum der mit dem teleologisch-universalgeschichtlichen Geschichtskonzept verbundene Entwicklungsgedanke mit der ihm prima facie widersprechenden Einzigkeit und Unableitbarkeit des Individuellen verbinden lässt, resultiert aus der Bestimmung der individuellen Einheit als einer sich hermeneutisch aufbauenden Sinn- oder Werttotalität.30 Auch hier beweist sich Troeltsch als Geistesverwandter Droysens, der in seiner Historik schon ganz ähnlich argumentierte.31 Die Einheit des historischen Gegenstandes wird dieser Geschichtshermeneutik zufolge nicht als eine aus einem Anfangspunkt oder Telos bzw. deren Begriffen deduzierbare gedacht, sondern als „Tendenz“ oder „Konvergenz“ eines Sinnkomplexes.32 Daher grenzt Troeltsch seinen historischen Entwicklungsbegriff kategorial sowohl von universalgeschichtlichen Fortschritts- als auch von Evolutionsmodellen ab.←200 | 201→ Entwicklung meint eine strukturell offene Sinnkontinuität. Die darauf zielende historische Gegenstandsbildung setzt dabei notwendig Konstruktionsprozesse voraus, die nach Troeltsch nicht nur Aneignung, d. h. Erinnerung in einem rein kontinuitätswahrenden Sinne umfasst, sondern notwendig auch Kritik oder Fremdsetzung – Nietzscheanisch gesprochen: auch das Vergessen.33 Insofern verdankt sich der Aufbau geschichtlicher Vergangenheit notwendig der Perspektivität und den Wertmaßstäben, die aus dem Lebenszusammenhang der Gegenwart erwachsen und sich so gleichsam in der Konstruktion von historischen Sinntotalitäten in deren Entwicklungslinien einstellen.34 Sowohl die identitätslogische Annahme einer Reziprozität von Individuum und Kollektiv als auch die einer konstruktiven Verwobenheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wie sie für die neueren kulturwissenschaftlichen Debatten um Erinnerung und Gedächtnis grundlegend sind, finden sich also in Troeltschs Historik vorgebildet.35

Diese Zweipoligkeit der an der empirischen Geschichtsforschung orientierten Geschichtslogik spiegelt sich nun auch in der materialen, d. h. auf praktische Kulturideale zielenden Geschichtsphilosophie. Einerseits kann Troeltsch den Übergang von der empirischen Geschichtserkenntnis zur normativ-praktischen Geschichtsphilosophie an das Moment der Entwicklungskonstruktion anschließen. Da er stärker als etwa Weber bereits im historischen Verstehen selbst eine gegenwartsrelativ-wertende Konstruktivität am Werke sieht, wird die methodologische Differenz von Geschichte und Ethik für ihn durchlässig. Freilich darf man hierbei die Komplexität des Entwurfs nicht unterschätzen. Zwar sieht Troeltsch den universalhistorischen Horizont bereits in der historischen Entwicklungskonstruktion strukturell angelegt, gleichwohl differenziert er strikt zwischen historisch-partikularem und geschichtsphilosophisch universalem←201 | 202→ Entwicklungsbegriff, auf dem dann schließlich erst die normativ-praktische Kultursynthese aufruht.36 Die Differenz zwischen Wesens- und Idealbegriff aus der Heidelberger Zeit wird also gleichsam transformiert in eine aufeinander aufbauende Schichtung von Sinnkontinuitäten, die sich immer weiter von der empirischen Geschichtskonstruktion ins Normativ-Ideale verschieben. Andererseits insistiert Troeltsch dem historischen Individualitätskonzept gemäß auf der Standortrelativität und unhintergehbaren Partikularität solch übergeordneter Synthesen und Ideale. Die dem Geschichtsdenken inhärierende Universalisierungstendenz wird daher auf den jeweiligen „Kulturkreis“ restringiert.37 Der Grundbegriff der individuellen Totalität bleibt das Korrektiv des normativ, d. h. auf die Zukunft ausgreifenden, Entwicklungsgedankens bzw. der gegenwärtigen Kultursynthese.

3. Die Bedeutung der Geschichtsphilosophie für die Erinnerungskultur

Vor dem Hintergrund dieser Skizze soll nun die Bedeutung der Geschichtsphilosophie für den zeitgenössischen Erinnerungskulturdiskurs evaluiert werden. Dabei soll zugleich nach der Rolle der Religion in einem dezidiert modernitätstheoretischen Sinne gefragt werden. Drei Gesichtspunkte lassen sich unterscheiden.

Die Erforschung nationaler Erinnerungsorte versteht sich durchaus als ein europäisch ausgerichtetes Projekt.38 Gleichwohl kann die Europathematik aus methodischen Gründen dabei nur indirekt zum Tragen kommen. Genau hier stellt Troeltschs auf die historisch fundierte Konstruktion übergreifender Sinneinheiten zielende Geschichtsphilosophie eine komplementäre Reflexionsgestalt dar. Die von seiner materialen Geschichtsphilosophie zu entwickelnde, aber nicht mehr ausgeführte Kultursynthese ist methodisch an eine kulturgeschichtliche Konstruktion rückgebunden. Über diesen „Aufbau der europäischen Kulturgeschichte“ gibt immerhin das letzte, vierte Kapitel des Historismusbandes Auskunft.39 Als←202 | 203→ die gleichsam zu Erinnerungsorten verdichteten „Grundgewalten“40 des Europäismus identifiziert Troeltsch hier bekanntlich den hebräischen Prophetismus, das klassische Griechentum, die Welt des antiken Imperialismus, das abendländische Mittelalter sowie die Umformungskräfte von früher Neuzeit und aufgeklärter Moderne. Mit Bezug auf meine einleitenden Bemerkungen zu den Debatten über aktuelle europäische Konflikte ist anzumerken, dass Troeltsch dabei nicht nur „die Einbeziehung Rußlands in den Europäismus“ reflektiert hat.41 Auch die aus aktueller Überfremdungsangst entworfenen Konstrukte eines homogenen christlichen Abendlandes wären mit einem derart geschichtsphilosophisch fundierten und sich seiner inneren Ambivalenzen bewussten Europäismus leicht zu entlarven. Zumindest würde ein geschichtsphilosophischer Europäismus nach diesem Vorbild vor der Naivität bewahren, mit der kirchliche Würdenträger heute jener religiösen Intoleranz begegnen, indem sie sich – darin ihren Gegnern gleich – auf ein vermeintlich einsinniges Menschenbild des Christentums berufen. Das sich bei Troeltsch abzeichnende und durch eine innere Pluralität und Gegenläufigkeiten geprägte Europäismuskonzept, für das es zumindest zahlreiche materiale Vorstudien gibt,42 ist dabei sicherlich vom gegenwärtigen Standpunkt aus gesehen ergänzungsbedürftig. Dies gilt auch für das aus späten Texten zumindest zu erahnende Profil seiner Kultursynthese, das vor dem Hintergrund der politischen Situation um eine innere Amalgamierung westeuropäischen Menschenrechtsdenkens mit dem ‚deutschen‘ Individualitätsideal bemüht ist.43 Unbeschadet dessen←203 | 204→ beweist die Rezeption des Troeltschen Europäismuskonzepts innerhalb der politischen Ethik sowie die Entwicklung verwandter Modelle in der gegenwärtigen Diskussion um eine europäische Identität jenseits des Euro die Aktualität seiner Überlegungen.44 Für die Selbstverortung des Christentums innerhalb einer modernen Erinnerungskultur ergibt sich jedenfalls vor diesem Hintergrund eine Doppelbewegung von historischer Selbstrelativierung und Selbstbehauptung als einer freilich auch in sich selbst von Ambivalenzen geprägten Grundkraft europäischer Identität. Die erst spät erfolgte, heute bisweilen inflationär wirkende Durchsetzung des Menschenwürdekonzepts in Theologie und Kirche kann hier als ein positives Beispiel für eine kritische Selbstverortung des Christentums innerhalb des symbolischen Kapitals der Moderne dienen.45

Wolfhart Pannenberg hat in seinem TRE-Artikel zum Lexem ‚Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie‘ mit Blick auf die Debatten des 20. Jahrhunderts Troeltschs Geschichtsphilosophie als ein „bis heute nicht überholtes“ Beispiel hervorgehoben, zugleich aber bedauert, dass darin dessen eigentlich geschichtstheologische Intention „unausgebildet geblieben“ sei.46 Troeltschs Beitrag bestehe in erster Linie in der Freilegung der religiösen Implikationen des modernen Geschichtsbewusstseins. Diesbezüglich ist zunächst auf die metaphysischen Voraussetzungen seiner Geschichtsphilosophie hinzuweisen. Troeltsch hat sie freilich mehr angedeutet, denn ausgeführt. Ihr Ansatzpunkt allerdings ist deutlich erkennbar: Es ist der tragende Begriff der individuellen Sinntotalität, dessen Reflexion nicht ohne metaphysische Prämissen auskommt. Näherbestimmt hat er sie selbst vornehmlich in Negation einerseits gegenüber der Hegelschen Theorie des absoluten Geistes, die ihm im Lichte ihrer materialphilosophischen Durchführung zu viel zu behaupten schien, andererseits gegenüber den kritizistisch-neukantianischen Entwürfen, deren Konstitutionsidealismus ihm in seiner Formalität zu wenig behauptete, so dass ihm ein←204 | 205→ vermittelnder Neuaufbau eher von metaphysischen Konzeptionen eines Leibniz oder Malebranche vorschwebte. Dessen Grundintuition besteht in der Annahme einer vorbewussten Identität des endlich-individuellen Geistes mit einem „Allbewußtsein“ oder „Alleben“, aufgrund derer nicht nur überhaupt das Verstehen von geschichtlich Individuellem nach seinen Möglichkeitsbedingungen aufgeklärt werden könne, sondern auch die universalhistorische Entwicklungskonstruktion als Basis normativer Kultursynthesen eine metaphysische Grundlage erhalte.47 Gleichwohl – und darin zeigt sich ein kritizistischer Rest – behält Troeltsch auch in diesem Ansatz prinzipielle Restriktionen mit Bezug auf die Erkennbarkeit des „göttlichen Geistesinhalte[s]“ bei: Aufgrund der standpunktbedingten Ausschnitthaftigkeit, der Angewiesenheit auf empirische Vermittlung und der Inadäquatheit der begrifflich-diskursiven Logik könne höchstens von einer „Annäherung an die Intuition der innergöttlichen Lebensfülle und Lebenszusammenhänge“ gesprochen werden.48 Dies ist auch der tiefere Grund, warum Troeltsch zusätzlich noch eines dezisionistischen Moments (‚Wagnis‘, ‚Sprung‘) bedarf, das er entsprechend seiner Geschichtsmetaphysik in die religiöse Subjektivität verlegen kann.49

Die Gründe für Troeltschs von den meisten seiner Zeitgenossen50 als misslungen beurteilten Versuch einer mit metaphysischen Andeutungen fundierten Vermittlung von Faktizität und Normativität liegen auf der Hand. Es ist das für diese Generation signifikante Leiden am Relativismusproblem, das nicht zu←205 | 206→letzt auch zum Abweg des Antihistorismus geführt hat.51 Aus der historischen Distanz unserer von einer lebendigen Erinnerungskultur geprägten Gegenwart scheint mir jedoch der Hinweis von Michael Murrmann-Kahl völlig zutreffend, dass eben jenes Leiden heute eher ein nachgeordnetes Problem darstellt.52 Wenn mich nicht alles täuscht, so haben wir uns längst mit dem Relativismus und der damit verbundenen Pluralität arrangiert, ohne freilich das die Erinnerungskultur tragende Identitätsbedürfnis einzubüßen. Sieht man also von Troeltschs unausgeführter und mit Aporien behafteter Geschichtsmetaphysik ab, ohne damit deren prinzipielle Notwendigkeit zu leugnen, so bleibt jedoch davon unbeschadet, dass seine Geschichtsphilosophie die religiösen Implikationen des historischen Bewusstseins klar und deutlich bestimmt. Diese liegen ja bereits in den Begriffen der Sinntotalität und des universalhistorischen Ziels der Geschichte, selbst dann, wenn man wie Troeltsch von ihnen materialiter nur regulativen Gebrauch macht.53 Daran wird ersichtlich, dass sich Geschichtsreflexion, zumal wenn sie in praktischer Absicht erfolgt, auch unter der Differenz von Endlichkeit und Unendlichkeit vollziehen kann, genau dann nämlich, wenn in ihren Deutungsvollzügen Unbedingtheitssinn involviert ist. Troeltschs Geschichtsphilosophie ist insofern keine unausgeführte Geschichtstheologie, sondern deren Nachfolgegestalt und als solche ein eminenter Beitrag zur Theorie der Religion in der Moderne.

Damit komme ich zu meinem letzten Punkt. Auch wenn vor diesem Hintergrund die Möglichkeiten einer Geschichtstheologie im Sinne objektiver Ge←206 | 207→schichtserkenntnis skeptisch zu beurteilen sind, wofür nicht zuletzt auch der Zustand des dogmatischen Lehrstücks ein beredtes Beispiel gibt, das traditionell den systematischen Ort für die Reflexion von Gott und Geschichte darstellt, nämlich der Christologie und ihrer Geschichte seit der Aufklärung und Etablierung des historischen Bewusstseins bis in die Gegenwart,54 so kann doch die Geschichtsphilosophie im oben beschriebenen Sinne zur Verortung der Religion im Kontext zeitgenössischer Erinnerungskultur dienen. Die Funktion religiöser Deutungsvollzüge für die Erinnerungs- und Geschichtskultur besteht demzufolge weniger in Geschichtserkenntnis als vielmehr in der symbolisch vermittelten Endlichkeitsreflexion mit Bezug auf unseren Umgang mit Vergangenheit im Spannungsfeld von Gegenwart und Zukunft. Für Troeltschs geschichtsphilosophische Verwendung religiöser Semantiken wurden oben bereits einige Beispiele gegeben. Nicht alle freilich sind in diesem Sinne anschlussfähig. Ein positives Beispiel dagegen ist sein Hinweis auf den Sinn des „herrlichen protestantischen Grunddogmas“ von der Rechtfertigung allein aus Glauben als eines Umgangs mit der unhintergehbaren Riskiertheit normativer Positionalität.55 Komplementär dazu wäre zumal vor dem Hintergrund der Katastrophen des 20. Jahrhunderts ein Beitrag des Christentums zu einer gegenwartspraktischen Erinnerungskultur vor allem in der symbolischen Vermittlung von Schuldreflexion zu sehen. Sodann steht Troeltsch nicht zuletzt für eine konstruktive Verbindung von Ideen- und Sozialgeschichte, auch und gerade im Kontext seines Projekts einer Kultursynthese.56 Vor diesem Hintergrund wäre an die christliche Vorstellung vom Reich Gottes als eines Symbols für die Thematisierung der faktischen Endlichkeit realgeschichtlicher Sozialformen und Institutionen zu denken. Und angesichts der von Troeltsch trotz seiner Vorstellung von einer Partizipation am göttlichen Lebensstrom festgehaltenen Überzeugung, dass wir in der historisch-geschichtsphilosophischen Konstruktion von Sinntotalitäten und der normativen Setzung von Kultursynthesen den darin intendierten Unbedingtheitssinn allerhöchstens erahnen, niemals aber ausschöpfen können, wäre der in die religiöse Selbstdeutung der Geschichtskultur involvierte Gottesgedanke von der reformatorischen Vorstellung vom deus absconditus her zu entwickeln. In diesem Sinne könnte sich auch mit Blick auf das 20. Jahrhundert und die Gegenwart der Satz Droysens einholen lassen: „Aus←207 | 208→ der Geschichte, auch aus ihr lernen wir Gott verstehen, und nur in Gott können wir die Geschichte verstehen.“57 ←208 | 209→


1 Die folgenden Überlegungen wurden in einer ersten Fassung auf dem in Berlin vom 14.–18. September 2014 abgehaltenen Kongress der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie vorgetragen und in den Kongreassakten veröffentlicht (Meyer-Blank, Michael (Hrsg.): Geschichte und Gott. XV. Europäischer Kongress für Theologie. Evangelische Verlagsanstalt: Leipzig 2016). Ich danke für die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks.

2 Cf. e.g. Habermas, Jürgen: „Glauben und Wissen. Friedenspreisrede 2001“. In: id.: Zeitdiagnosen. Zwölf Essays. 1980–2001. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2003, S. 249–262.

3 Cf. e.g. Casanova, José: Europas Angst vor der Religion. Berlin University Press: Berlin 2009; Nussbaum, Martha: Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 2014.

4 So der Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte und Prof. für Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München Andreas Wirsching in der SZ vom 6. September 2014: Aus der Geschichte lernen; http://www.sueddeutsche.de/politik/weltkriegs-gedenken-und-ukraine-krise-aus-der-geschichte-lernen-1.2115983; zuletzt abgefragt am 06.06.2016. Dort befindet sich auch ein Link zur Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck vom 1. September 2014. Eine vertiefendere Problematisierung der Ciceronischen Formel findet sich bei Koselleck, Reinhart: „Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte“. In: id.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1988, S. 38–66.

5 Cf. den instruktiven Forschungsüberblick von Cornelißen, Christoph: „Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven“. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54, 2003, S. 548–563.

6 Nora, Pierre: Les Lieux de mémoire. 7 Bde. Editions Gallimard: Paris 1984–1992; Assmann, Aleida/Assmann, Jan: „Schrift, Tradition und Kultur“. In: Raible, Wolfgang (Hrsg.): Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“. Gunter Narr: Tübingen 1988, S. 25–49; Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. C.H. Beck: München 72013; Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. C.H. Beck: München 52011.

7 Warburg, Aby: „Der Bilderatlas Mnemosyne“. In: id.: Gesammelte Schriften. Studienausgabe Bd. 2,1. Hrsg. v. Warnke, Martin. De Gruyter: Berlin 42012; Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Fischer: Frankfurt am Main 21991.

8 Cf. Nora, Pierre: Gedächtniskonjunktur. Transit 22, S. 18–31..

9 Cf. François, Etienne/Schulze, Hagen: „Einleitung“. In: id. (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte I. C.H. Beck: München 2001, S. 9–24, hier besonders S. 19–21.

10 Cf. e.g. Lehmann, Hartmut: „Der Pietismus“. In: François/Schluze 2001, S. 571–584; Chaix, Gérald: „Die Reformation“. In: François, Etienne/Schluze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte II. C.H. Beck: München 2001, S. 9–27.

11 Markschies, Christoph/Wolf, Hubert: „ ‚Tut dies zu meinem Gedächtnis‘. Das Christentum als Erinnerungsreligion“. In: id. (Hrsg.): Erinnerungsorte des Christentums. C.H. Beck: München 2010, S. 10–27, hier S. 11.

12 Op.cit. 21.

13 Cf. Assmann 2013, S. 42–45.

14 Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Fischer: Frankfurt am Main 1998, S. 11–42.

15 Rüsen, Jörn: Grundzüge einer Historik. 3 Bde. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1983–1989, hier: Bd. 1 Historische Vernunft, S. 21–32; Bd. 3 Lebendige Geschichte, S. 109–120. Cf. auch Rüsen, Jörn: Geschichtskultur als Forschungsproblem. In: Fröhlich, Klaus/Grütter, Heinrich Theodor/id. (Hrsg.): Geschichtskultur (Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 3). Centaurus: Pfaffenweiler 1992, S. 39–50.

16 Cf. Hübinger, Gangolf: „Geschichtskonstruktion und Gedächtnispolitik. Ernst Troeltschs Berliner Historik“. In: Graf, Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Geschichte durch Geschichte überwinden. Ernst Troeltsch in Berlin (Troeltsch-Studien NF 1). De Gruyter: Berlin 2006, S. 7591. Hübinger weist m. E. zurecht auf die Problematik einer Abkopplung der Geschichtstheorie von der Erinnerungskultur hin, die sich nicht zuletzt auch in der „Beliebigkeit der Gedächtnistopographie zwischen Karneval und Bundesliga“ (S. 77) zeige. Freilich sind sich gerade die Herausgeber der Deutschen Erinnerungsorte dieser Grenzen bewusst und ermäßigen daher ihre geschichtspolitischen Ambitionen, cf. François/Schulze 2001, hier besonders S. 21–24.

17 Dieser programmatisch weite Ansatz findet sich neuerdings durchgeführt bei Schloßberger, Matthias: Geschichtsphilosophie. Akademie Verlag: Berlin 2013.

18 Cf. Barth, Ulrich: „Christologie und spekulative Theologie. Schleiermacher und Schelling“. In: id.: Kritischer Religionsdiskurs. Mohr Siebeck: Tübingen 2014, S. 245–262.

19 Cf. dazu Troeltsch, Ernst: „Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912)“. In: id.: Kritische Gesamtausgabe (= KGA) Bd. 5. Hrsg. v. Rendtorff, Trutz. De Gruyter: Berlin/New York 1998, S. 81–244, hier v. a. das erste und zweite Kapitel.

20 Nietzsche, Friedrich: „Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. In: id.: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873, Kritische Studienausgabe 1. Hrsg. v. Golli, Giorgo/Moninari, Mazzino. dtv: München et. al. 1988, S. 243–334.

21 Op.cit. 306.

22 Hier wären vor allem die programmatische Schrift „Die Absolutheit des Christentums“ von 1902 zu nennen, zu deren Vorarbeiten u. a. die Aufsätze „Christentum und Religionsgeschichte“ (1897) sowie „Über historische und dogmatische Methode in der Theologie“ (1898) gehören, beide in: Troeltsch, Ernst: Gesammelte Schriften (= GS) II. Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik. Mohr Siebeck: Tübingen 1913, S. 328–363. S. 729–753; weiteres Profil erhält Troeltschs Geschichtsphilosophie dann durch die kritisch-konstruktive Auseinanderstezung mit prominenten Entwürfen seiner Zeit, so in der Ethik mit Bezug auf Wilhelm Herrmann, in der Historik mit Bezug auf Adolf von Harnack und in der Geschichtsphilosophie mit Bezug auf Heinrich Rickert, cf. dazu Troeltsch, Ernst: „Grundprobleme der Ethik (1902)“; id.: „Was heißt „Wesen des Christentums“?“; id.: „Moderne Geschichtsphilosophie“ alle in: GS II, S. 552–672. S. 386–451. S. 673–728. Einschlägig ist sodann die große Kant-Studie: Troeltsch, Ernst: Das historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte. Tübingen 1904. Cf. dazu Barth, Ulrich: „Religionsphilosophisches und geschichtsmethodologisches Apriori. Ernst Troeltsch Auseinandersetzung mit Kant“. In: id.: Gott als Projekt der Vernunft. Mohr Siebeck: Tübingen 2005, S. 359–394, hier v. a. S. 371–382.

23 Troeltsch, Ernst: „Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922)“. In: id.: KGA 16,1 u. 2. Hrsg. von Graf, Friedrich Wilhelm. De Gruyter: Berlin/New York 2008. Auf die werkgeschichtliche Entwicklung nach dem Historismusband, wie sie vor allem in den England-Vorträgen zu greifen ist, kann ich hier ebenfalls nicht gesondert eingehen, cf. Troeltsch, Ernst: „Fünf Vorträge zu Religion und Geschichtsphilosophie für England und Schottland. Der Historismus und seine Überwindung (1924)/Christian Thought. Its History and Application (1923)”. In: id.: KGA 17. Hrsg. v. Hübinger, Gangolf. De Gruyter: Berlin / New York 2006.

24 Troeltsch 2008 (KGA 16,1), S. 254 (=B 79).

25 Graf, Friedrich Wilhelm/Ruddies, Hartmut: „Ernst Troeltsch. Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht“. In: Speck, Josef (Hrsg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit IV. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1986, S. 128–164.

26 „Die Hauptprobleme der Ethik liegen daher nicht auf dem Gebiet der subjektiven Ethik, […] sondern auf dem der objektiven Ethik, das schwierig und verwickelt ist. Sie erfordern einen umfassenden geschichtsphilosophischen Horizont, einen Einblick in das Werden und Wachsen der Kutlur und die Herausbildung sittlicher Güter aus der bloßen Kutlur. Sie stellen die Frage nach der Gestaltung jedes einzelnen Zweckes für sich und vor allem die Frage nach der Auffassung des Verhältnisses dieser Güter zueinander“ – Troeltsch 1913 (GS II), S. 624 (Hvh. R.B.). Dieser Akzent macht freilich nach Troeltsch die Gesinnungsethik Kantscher Provenienz nicht obsolet, sondern er bildet deren notwendiges Komplement.

27 Troeltsch 2008 (KGA 16,1), S. 358–371 (=B 164–179).

28 Troeltsch 2008 (KGA 16,2), S. 1098 (=B 772).

29 Troeltsch 2008 (KGA 16,1), S. 245 (=B 71). Zum Historismusband cf. Ruddies, Hartmut: „ ‚Geschichte durch Geschichte überwinden‘. Historismuskonzept und Gegenwartsdeutung bei Ernst Troeltsch“. In: Bialas, Wolfgang/Raulet, Gérad (Hrsg.): Die Historismusdebatte in der Weimarer Republik. Peter Lang: Frankfurt am Main et al. 1996, S. 198–217, sowie die Beiträge des Bandes: Graf, Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Ernst Troeltschs „Historismus“ (Troeltsch-Studien 11). Gütersloher Verlgshaus: Gütersloh 2000.

30 Troeltsch 2008 (KGA 16,1), S. 245 (=B 71): „[S]o liegt die Einheit in dem relativ einheitlichen Sinn oder Wert, den sie für ihr eigenes Bewußtsein von sich selber haben und den sie in immer neuen Anläufen und Zusammenhängen instinktiv oder bewußt darzustellen streben.“

31 Droysen, Johann Gustav: Historik. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Leyh, Peter. Bd. 1. Frommann-Holzboog: Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 423 f.: „Der Verstehende, weil er ein Ich, eine Totalität in sich ist wie der, den er zu verstehen hat, ergänzt sich dessen Totalität [… sc. und] wird, was er seiner Anlage ist, Totalität in sich, erst in dem Verstehen anderer, in dem Verstandenwerden von anderen […]“.

32 Zum Tendenz-Begriff cf. e.g. Troeltsch 2008 (KGA 16,1), S. 233 (=B 59) u. ö. (cf. das Register in KGA 16,2, 1395). Zum Begriff der Konvergenz cf. e.g. die christentumsggeschichtliche Verwendung in Troeltsch 1998 (KGA 5), S. 197.

33 Cf. Troeltsch 2008 (KGA 16,1), S. 212 (=B 39 f.).

34 Troeltsch 2008 (KGA 16,1), S. 245 (=B 71): „Die Möglichkeit solcher einheitlichen Erfassung vom Wert und Sinn aus beruht auf der Möglichkeit der hypothetischen Nachempfindung, indem man sich selbst auf jenen Standpunkt zu versetzen lernt, und diese wiederum beruht auf der Enthaltenheit jenes Wertes oder Sinnes in den Möglichkeiten unseres eigenen Wesens.“ Mit Bezug auf den gestuften Entwicklungsbegriff cf. dann v. a. S. 358–371 (=B 164–179).

35 Troeltsch 2008 (KGA 16,1), S. 247 (=B 73): „So muß denn jede historisch denkende Zeit von ihrem Standort aus die Sinneinheit des Ganzen als ihren eigenen Standort einschließend oder auf ihn abzielend deuten […]. Jedenfalls ordnet der historische Denker durch eine solche Konstruktion seine eigene Gegenwart und Zukunft in das Ganze einer menschheitlichen Sinneineheit ein und gewinnt damit aus dem Ganzen auch die Entwicklungsrichtung, wie er sie von seinem eigenen Standort aus weiterdenken muß.“

36 Cf. dazu v. a. das dritte Kapitel in Troeltsch 2008 (KGA 16,1 u. 2), S. 416–1007, hier S. 420.

37 Troeltsch 2008 (KGA 16,1), S. 392 (=B 199): „Es kann immer nur die Aufgabe sein, dem indviduellen eigenen Kulturkeis und seiner Entwicklung die Kultursynthese zu entreißen, die ihn zuammenfaßt und weiterbildet“.

38 Cf. François/Schulze 2001, S. 19; S. 21.

39 Troeltsch 2008 (KGA 16,2), S. 1008–1099 (=B 694–777).

40 Troeltsch 2008 (KGA 16,2), S. 1090 (=B 765): „Aber der Gedanke des Aufbaus verlangt nur, daß wir daraus [sc. aus der ganzen universalgeschichtlichen Entwicklung] die großen elementaren Grundgewalten herausholen, die unmittelbar, nicht bloß für das gelehrte historische Wissen und einen von ihm erfüllten Schuluntericht, bedeutungsvoll, wirksam und anschaulich sind.“

41 Troeltsch 2008 (KGA 16,2), S. 1046 (=B 728).

42 Cf. Troeltsch, Ernst: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssozioloige (GS IV). Hrsg. v. Baron, Hans. Tübingen 1925. Zu den Vorstudien im weiteren Sinne gehören auch: Troeltsch, Ernst: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (GS I). Tübingen 1912; id.: „Protestantisches Christentum und Kirche der Neuzeit (1906/1909/1922)“. In: id.: KGA 7. Hrsg. v. Drehsen, Volker. De Gruyter: Berlin / New York 2004; id.: „Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913)“. In: id.: KGA 8. Hrsg. v. Rendtorff, Trutz. De Gruyter: Berlin/New York 1998.

43 Zur komplexen Qullenlage und der Frage nach der möglichen Gestalt des zweiten Historismusbandes cf. Graf, Friedrich Wilhelm: Einleitung. In: Troeltsch, Ernst: KGA 16,1 (wie Amn. 22), S. 71–82. Zur Thematik und Troeltschs Englandbild cf. Mommsen, Wolfgang Justin: „Deutschland und Westeuropa. Krise und Neuorientierung der Deutschen im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik“. In: Renz, Horst/Graf, Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs (Troeltsch-Studien Bd. 4). Gütersloher Verlagshaus: Gütersloh 1987, S. 117–132; Hübinger 2006.

44 Cf. dazu von Scheliha, Arnulf: Protestantische Ethik des Politischen. Tübingen 2013, S. 350–360.

45 Cf. dazu von Scheliha, Arnulf: „ ‚Menschenwürde‘ – Konkurrent oder Realisator der Christlichen Freiheit? Theologiegeschichtliche Perspektiven“. In: Dierken, Jörg/id. (Hrsg.): Freiheit und Menschenwürde. Studien zum Beitrag des Protestantismus (Religion in Philosophy and Theology 16). Mohr Siebeck: Tübingen 2005, S. 241–264.

46 Pannenberg, Wolfhart: „Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie aus Systematisch-theologischer Perspektive“. In: TRE Bd. 12 (1984), S. 658–674, hier S. 669.

47 Cf. dazu Troeltsch 2008 (KGA 16,2), S. 964–1007 (=B 656–693) (Kapitel III.8), hier S. 987; S. 1002 (= B 675; 688).

48 Op.cit. 990; 991 (=B 678; 679). Es ist bezeichnend, dass Troeltsch genau in diesem Kontext dem ansonsten im Historismusband äußerst kritisch beurteilten Kant würdigt und sich hinsichtlich der Auflösbarkeit der erkenntnistheoretischen Probleme skeptisch zurücknimmt: „Diese sehr verständlichen Gründe sind es, die Kant dazu geführt haben, eine rein intrasubjektive und erfahrungsimmanente, sich selber tragende Gültigkeitslehre aufzustellen und den Rest als in Antinomien verwickelte Metaphysik preiszugeben, die Partizipation am göttlichen Geiste aber auf das Moralische einzuschränken. […] In Wahrheit besteht hier aber ein unausbleiblicher Widerspruch, an dem jede Durchführung der Erkenntnistheorie bis zu ihrem letzen Ende bis jetzt gescheitert ist und immer scheitern wird“ (990 f. =B 679).

49 Op.cit. S. 1006 f. (=B 692): „Solche Geschichtsphilosophie verlangt […] einen Glauben an eine im Gegebenen sich offenbarende göttliche Idee“.

50 Pars pro toto sei hier angeführt Kracauer, Siegfried: „Die Wissenschaftskrisis. Zu den grundsäztlichen Schriften Max Webers und Ernst Troeltschs“. In: id.: Das Ornament der Masse. Essays. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1977, S. 197–208, hier S. 198–203.

51 Cf. Nowak, Kurt: „Die „antihistoristische Revolution“. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland“; Graf, Friedrich Wilhelm: „Kierkegaards junge Herren“. Troeltschs Kritik der „geistigen Revolution“ im frühen zwanzigsten Jahrhundert“. Beide in: Renz/Graf 1987, S. 133–171; S. 172–208.

52 Murrmann-Kahl, Michael: „Die Ambivalenz des Historismus bei Ernst Troeltsch“. In: Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft 22, 2011, S. 43–70, hier S. 58 f.

53 Gegen Christoph Schwöbel, der von einer konstitutiven Stelllung des Gottesgedankens spricht: „Die Idee des Aufbaus heißt Geschichte durch Geschichte überwinden“ (Id.: „Theologischer Wahrheitsanspruch und das Problem des sogenannten Historismus“. In: Graf 2000, S. 261–284, hier S. 272 f., S. 281). Dierken, Jörg: „Individuelle Totalität. Ernst Troeltschs Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht“. In: Graf 2000, S. 243–260, hier S. 258, bietet nicht nur eine systematische Rekonstruktion von Troeltschs Geschichtsmetaphysik und skizziert vor dem Hintergrund der sich dort zeigenden Aporien mögliche Lösungsoptionen, sondern weist m. E. zu Recht darauf hin, dass dessen Geschichtskonstruktion von jenen metaphysischen Prämissen keinen konstitutiven Gebrauch macht, sondern vielmehr induktiv von der Praxis der empirischen Geschichtsforschung ausgeht.

54 Cf. dazu Danz, Christian/Murrmann-Kahl, Michael (Hrsg.): Zwischen historischem Jesus und dogmatischen Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert (Dogmatik in der Moderne 1). Mohr Siebeck: Tübingen 22010.

55 Troeltsch 2008 (KGA 16,1), S. 378 (=B 185).

56 Cf. op.cit. S. 1097 (=B 771).

57 Droysen 1977, S. 398.