Coole Theologie? Eberhard Jüngels Bemerkungen zur politischen Verantwortung von Christentum und Kirche
Abstract This essay investigates Eberhard Jüngel’s remarks on the political responsibility of the Christian church, Christian theology and Christian individuals. It uses D.Z. Phillips’ distinction between varieties of “cool” vs. “warm” and “cold” philosophy and claims that Jüngel developed a type of “cool” theology, which argues for a qualified separation between theology and politics, but allows for effective analogies from theology to politics.
I. ‚Coole‘ Philosophie
Der walisisch-amerikanische Religionsphilosoph Dewi Z. Phillips (1934–2006)1 hat in seinen methodologischen Reflexionen unter dem Titel ‚Philosophy’s Cool Place‘ (1999)2 zwischen zwei dominanten Grundauffassungen von Philosophie unterschieden, zwischen ‚warm philosophy‘ und cold philosophy‘, die er mit seiner eigenen Auffassung von kontemplativer oder ‚cool philosophy‘ kontrastiert. Philosophie ist für Phillips wesentlich zu verstehen als „an effort to understand the kinds of phenomena we are confronted by in morality and religion“3. Unter ‚warmer‘ Philosophie versteht er dabei diejenigen Formen von Philosophie, die sich als Hilfe zur Lebensführung verstehen und damit als eine Art Anleitung zum guten Leben, als ‚guide to living‘. Beispiele für eine solche Form von Philosophie mit direkter Anwendung für die Lebensführung wären etwa der sich an Aristoteles und stoische Konzepte anlehnende Capability Approach von Martha Nussbaum oder der Neo-Pragmatismus von Richard Rorty, die der Philosophie eine lebenspraktische Bedeutung jenseits metaphysischer Theorien zurückgewinnen←209 | 210→ möchten. Insofern sie ihre Entscheidungen in Bezug auf das ethisch oder religiös Vorzugswürdige letztlich nicht aus philosophischen Gründen herleiten können, gehen nach Phillips Urteil alle Formen einer ‚warm philosophy‘ über das hinaus, was im eigentlichen Sinne als philosophische Reflexion angesehen werden kann. Sie konfundieren die im Wortsinn theoretische, also betrachtende Aufgabe der Philosophie mit ihr fremden Interessen und geben persönliche Werturteile als Ergebnis philosophischer Reflexion aus, die gerade nicht „underwritten by philosophy“4 sind. Diese und andere Formen der Philosophie verletzen das Gebot der Neutralität, das eigentlich Philosophie als ein distinktes Unternehmen von religiösen, moralischen oder gar ideologischen und also interessegeleiteten und direkt auf die Lebensführung ausgerichteten Denkformen unterscheiden sollte. So gehören auch Varianten theistischer Metaphysik oder analytischer Religionsphilosophie, die kumulative Argumente zur Entscheidung zwischen alternativen weltanschaulichen Optionen oder Hypothesen (wie der Frage, ob Gottes Güte und die Übel der Welt sich miteinander vereinbaren lassen5) entwickeln, zu von Phillips kritisch betrachteten Formen ‚warmer‘ Philosophie.
Diesen direkt auf das Lebens-, Selbst- und Weltverständnis des Menschen ausgreifenden Formen von Philosophie stehen andere gegenüber, die man als skeptische, metaphysisch möglichst enthaltsame oder eben als ‚kalte‘ Philosophie zusammenfassen kann. ‚Kalte‘ Philosophie analysiert bloße Denkmöglichkeiten und versteht sich im Übrigen als reine Zuarbeit zu ansonsten aus anderen Quellen gewonnenen Überzeugungen. Im Anschluss an John Locke6 spricht Phillips hier auch von einem ‚under-labourer concept of philosophy‘7. Philosophie wird hier instrumentell verstanden als Werkzeug zur Analyse und Klärung von Konzepten und Theorien sowie zur Beseitigung von Verstehenshindernissen aller Art, auch wenn dann die lebenspraktischen Entscheidungen in Politik, Kultur, Wissenschaft, Technik, Religion etc. und also unabhängig von philosophischer Reflexion fallen.8 Philosophie wird zur Magd anderer Disziplinen, ohne dass sie←210 | 211→ ein eigenes Thema, ein selbständiges Ziel hätte, und sie kommt über eine Auflistung unentscheidbarer denkerischer Alternativen im Grunde nicht hinaus.
Phillips versteht nun sein Konzept einer Philosophie, die einerseits anderen Bereichen menschlicher Existenz ihr Eigenrecht zugesteht und sie nicht dem Diktat der Philosophie zu unterwerfen sucht, andererseits aber echte Aufklärung über wesentliche menschliche Lebensphänomene zu erreichen sucht, als ‚kühle‘, kontemplative Philosophie in Kontrast zu diesen beiden Zugängen. Er bezieht sich dabei auf eine Bemerkung Wittgensteins aus dem Jahr 1929, der sein Ideal der Philosophie in einer gewissen „Kühle“ sah, die den sonst das Leben der Menschen bestimmenden „Leidenschaften als Umgebung dient, ohne in sie hineinzureden.“9 Das Ziel kontemplativer Philosophie ist es, die Wirklichkeit zu bedenken, ohne in sie hineinzupfuschen, „contemplating the world without meddling in it“10, und dabei das Eigentliche der Philosophie zur Geltung zu bringen. Es←211 | 212→ geht nicht um die argumentativ plausibel oder gar unausweichlich gemachte Entscheidung oder das analytische ‚Unentschiedenseinlassen‘ von praktischen oder theoretischen Fragen. Der kontemplativ-philosophische Zugang beschreibt und klärt die Wirklichkeit menschlichen Lebens, d. h. die menschliche Lebensform11 in möglichst vielen Aspekten, ohne sie von höherer Warte aus kritisieren und manipulieren zu wollen, und eben diese Grundhaltung ist das Eigentliche der Philosophie. Oder um es mit einem berühmten Diktum Wittgensteins zu sagen: Philosophie „läßt alles wie es ist“12.
Doch zugleich bringt der kontemplative Zugang zur Geltung, dass, wo und wie über eine bloße differenzsensible, feststellende Beschreibung ansonsten zusammenhangloser Aspekte menschlicher Wirklichkeit hinausgegangen wird und werden muss, ohne dass dies zu einem Letztbegriff von Wirklichkeit entwickelt werden kann. Phillips beschreibt die Aufgabe als die Frage:
How can philosophy give an account of reality which shows that it is necessary to go beyond simply noting differences between various modes of discourse, without invoking a common measure of ‘the real’ or assuming that all modes of discourse have a common subject, namely, Reality?13
Philosophie entwirft also keine Kosmologie, kein Weltbild als Theorie der Wirklichkeit, sondern sie vermag allenfalls immer wieder neu und immer wieder nur am Konkreten aufzuweisen, was es bedeutet oder bedeuten könnte, ein Weltbild zu haben. Sie ist insofern unhintergehbar plural, zugleich aber auf die gemeinsame Realität menschlicher Lebensphänomene konkret bezogen, deren innerer Logik sie nachdenkt. Auch für Phillips gilt dabei, dass die Philosophie wesentlich auf das bezogen ist, was gerade nicht Philosophie ist, dass dieser vielfältige und aspektreiche Bezug aber weder so zu verstehen ist, dass sich philosophisches Denken zum Urteil über das, was der Fall sein sollte, aufschwingen kann, noch dass es nur dem klärend zuarbeitet, was faktisch der Fall ist.14 Kontemplative Philosophie ist deshalb auch nicht einfach quietistische Philosophie.15 Insofern sie z. B.←212 | 213→ den Sinn dessen kontemplativ zu erschließen sucht, was in Konflikt und Auseinandersetzung wirklich auf dem Spiel steht und wo diese ihren angemessenen Sitz im Leben haben, können diese Phänomene dann auch wieder das sein, was sie sind: echte Konflikte und wirkliche Auseinandersetzungen in konkreten Situationen, ohne dass sich die Philosophie zum Schiedsrichter aufschwingt.16
II. „Coole“ Theologie?
Die Theologie nun, so könnte man auf den ersten Blick meinen, verletzt prinzipiell das Neutralitätsgebot, das die kontemplative Philosophie wesentlich bestimmen soll, und kommt deshalb nur als ‚warm theology‘, also als entschiedene und sich als Anleitung zum rechten Glauben und Leben verstehende Theologie in Betracht.17 Das trifft sich mit einem Alltagsverständnis von Theologie, das←213 | 214→ diese dann zu ihrem Ziel kommen lässt, wenn sie praktisch wird und sich konkret einmischt. Theologie, so der Anspruch, muss eine Art ‚guide of life‘ entwickeln, der von höherer, von göttlicher Warte aus menschliche Lebensfragen entscheidet. Andererseits aber ist eben dieses Verständnis von Theologie in der Moderne unter Druck, ja im Grunde in Wegfall geraten. Mit der Umstellung vom Gottes- auf den Religionsbegriff und der Umformung von Dogmatik in eine historische Disziplin, wie sie Schleiermacher in der Nachfolge Kants exemplarisch vollzogen hat, wird Theologie primär als deskriptives, religionstheoretisch orientiertes Unternehmen der Auslegung und Selbstklärung verschiedener Spielarten religiösen Bewusstseins verstanden, einschließlich der damit verbundenen Erscheinungsformen des Christentums in historischer Perspektive. Neuzeitliche Dogmatik respektiert die religiöse Autonomie des Individuums und mischt sich nicht doktrinär in dessen Formierung ein, wie überhaupt die Theologie als deutende Reflexion, um es abgekürzt mit Schleiermacher zu sagen, ihre Sätze so fasst, dass dies „uns unverwickelt läßt mit der Wissenschaft“18 und sie damit allein der Selbstklärung religiösen Bewusstseins zuarbeitet. Auch wenn es sich gerade bei Schleiermacher natürlich um eine durchaus positionelle und programmatische Theologie handelt, so erscheinen mir doch Tendenzen zu Formen ‚kalter‘ Theologie unverkennbar zu sein.
Im Folgenden soll nun gefragt werden, ob und inwiefern sich die hermeneutische Theologie Eberhard Jüngels, jedenfalls nach der Seite ihrer politisch-ethischen Stellungnahmen, als eine „coole Theologie“ verstehen lässt, die die Alternative von doktrinär-autoritativer Anweisung zum seligen Leben und reflexiver, selbst religiös enthaltsamer Selbstbeschreibung zu unterlaufen sucht. Das Beispiel Jüngels ist deshalb gewählt, weil er einerseits als wichtiger Vertreter der deutschsprachigen hermeneutischen Theologie in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten kann und damit einen Theologietyp vertritt, der zwischen der klassischen Dogmatik und ihrer Umformung in eine religionstheo←214 | 215→retisch fundierte, reflexive Beschreibung religiösen Bewusstseins und seiner geschichtlichen Erscheinungsformen hermeneutisch zu vermitteln sucht. Andererseits hat sich Jüngel wiederholt auf seine Weise politisch-theologisch geäußert und damit gar eine Debatte um das Verhältnis von Christentum und Sozialismus ausgelöst, die in der vom Linksterrorismus bedrohten Bundesrepublik der 1970er Jahre einiges Aufsehen erregte. Gerade das Feld des Ethischen aber ist derjenige Ort, wo nach dem Praxisverhältnis der Theologie zu fragen ist und danach, ob und wie religiös-dogmatische Perspektiven orientierend wirksam werden können. Die damals verhandelte Frage, ob Christen Sozialisten sein können oder gar müssen, war zudem, wie sich zeigen wird, auch der Anstoß zu einer Auseinandersetzung um das theologische Erbe Karl Barths und zu der Frage, ob dieser einem christlich fundierten ethischen Rigorismus oder im Grunde einem heimlichen Quietismus das Wort redet. Ausgehend von dieser Debatte soll deshalb gefragt werden, wie Jüngels hermeneutisch vermittelte Einmischung durch qualifizierte Nichteinmischung sich einerseits von einer unvermittelten Gestalt politischer Theologie unterschied, wie sie der Linksbarthianismus darstellte19, der aus einem eschatologisch verstandenen Offenbarungsgeschehen heraus und in Form eines direkten Appells Handlungsanweisungen für die politische Praxis formulierte und in Theorie und Praxis solcher politischen Theologie die notwendige Konkretisierung christlicher Existenz in der Gegenwart sah, andererseits sich aber auch von der theologischen Gegnerschaft Barths absetzte, die ausgehend von einer sich jeglichen Offenbarungspositivismus enthaltenden, eher betrachtenden Christentums-‚Theorie‘ den Gestaltwandel des neuzeitlichen Christentums theologisch zu reflektieren und damit eher die Theologie als die Gesellschaft zu transformieren suchte.20 Im Gegenüber zu einer politisch enthaltsamen Theologie sah sich Jüngel denn doch dem Erbe seines Lehrers verpflichtet, wenn er als Lutheraner immer wieder auf die von Barth wesentlich verantwortete Barmer Theologische Erklärung zurückkam und von daher auch „Zumutungen des Evangeliums“21 an die Politik formulierte.←215 | 216→
Auch wenn wir uns im Folgenden vor allem mit Jüngels Abgrenzung nach links beschäftigen werden, sollte diese Abgrenzung nach rechts doch nicht übersehen und die Differenz zwischen im eigentlichen Sinne hermeneutischen und christentumstheoretischen Ansätzen nicht verwischt werden. Diese Differenz zeigt sich auch an der durchaus anders akzentuierten Stellung zu der bekannten und damals viel diskutierten These Carl Schmitts, dass alle „prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre […] säkularisierte theologische Begriffe“22 seien. Trutz Rendtorff z. B. nimmt diese These zum Anlass, der theologischen Hintergründigkeit moderner Gesellschaftstheorien nachzugehen und akzeptiert sie damit als methodische Forderung, auch wenn er sich in der materialen Durchführung von Schmitt deutlich absetzt. Theologie wird deshalb nach Rendtorff genau dann politisch, wenn sie „ihr Thema in einem ausdrücklichen Zeit- und Gegenwartssinn wahrnimmt“23. Sie ist nicht Praxis oder auch nur Theorie einer Praxis, sondern Theorie um der eigenen Selbstaufklärung willen, so dass der „Rang und die Freiheit einer politischen Theologie sich […] an dem Niveau ihrer Theorie“24 entscheiden. Das impliziert ‚Deutungen‘ der geschichtlichen und politischen Entwicklungen der Gegenwart im Licht etwa reformatorischer Einsichten, wozu sich nach Rendtorffs Auffassung schon allein deshalb Anlass bietet, weil die reformatorische Theologie in den Entwicklungen der Gegenwart ihrer eigenen, wenn auch mittelbaren Folgen ansichtig wird und sich dadurch selbst besser zu verstehen lernt. Eher als um eine politische Botschaft der Theologie geht es umgekehrt um die Wirkungen des Politischen auf die Theologie. Recht verstanden hat die „Gestalt des emanzipatorischen und autonomen Weltverhältnisses“, wie sie sich aus dem reformatorischen Begriff christlicher Theologie herausgebildet hat, „in ihrer historischen und systematischen Struktur für die Theologie durchaus verbindlichen Charakter“25. Der Begriff der Theologie muss sich durch das Verständnis der neuzeitlichen Welt wandeln26, nicht aber muss die Neuzeit von einem sich autoritär und besserwisserisch gebärdenden Christentum belehrt werden. Innertheologische Kategorien gilt es mit der bestehenden geschichtlich-politische←216 | 217→ Wirklichkeit zu vermitteln27, nicht sie gegeneinander zu setzen, wobei aufgrund der in der Neuzeit errungenen Freiheitspotentiale darauf vertraut werden kann und darf, dass „dieser Bestand […] selbst eine kritische Praxis“28 provoziert, die eine christentumstheoretische Theologie ins Bewusstsein zu heben und deren Weiterentwicklung sie dienlich zu sein hat. Dagegen setzt die hermeneutische Theologie Jüngels innertheologisch auf eine Differenzierung von Zusage und Zumutung, die auch den Gedanken der Transformierbarkeit des Politischen in diesen Horizont einordnet. Das sollen die folgenden Abschnitte anhand der Debatte um das Verhältnis von Christentum und Sozialismus nachzeichnen.
III. Müssen Christen Sozialisten sein?
A. Die 1970er Jahre
Für den Protestantismus der frühen 1970er Jahre der Bundesrepublik waren Debatten kennzeichnend, in denen es um das Verhältnis von Gesellschaft, Kirche, Christentum und Politik ging und bei denen „die Frage des Sozialismus nicht nur in linken Zirkeln diskutiert wurde, sondern gewissermaßen zu einer existenziellen Glaubensfrage des Protestantismus avancierte“29. Kirchlich-theologische Kreise reagierten damit auf die Transformationen der bundesrepublikanischen Gesellschaft, wie sie sich in den 1960er und 1970er Jahren vollzog. Zum implizit immer mitlaufenden politisch-gesellschaftlichen Hintergrund dieser Jahrzehnte gehörten die bundesdeutsche Auseinandersetzung mit dem kaum eine Generation zurückliegenden Nationalsozialismus und der kalte Krieg, der einen Systemgegensatz zugleich provozierte und instrumentalisierte und der im Grunde jede politische Überzeugung in ein Freund-Feind-Schema eintrug, zu dem ein Drittes nicht gedacht werden konnte oder sollte.30 Der Impuls der 1968er Jahre dürfte dabei als einer unter anderen anzusehen sein. Hinzu kamen die konkreten←217 | 218→ und vielfältigen Herausforderungen, denen sich die bundesrepublikanische Gesellschaft – nach den Debatten um Wiederbewaffnung und Atombewaffnung in der 1950er Jahren – in den frühen 1970er Jahren ausgesetzt sah und zu denen sich auch die Kirchen als zu konkreten Entscheidungsfragen zu positionieren hatten. Es ging nicht einfach um die Propaganda sozialistischer Ideologie und/oder die Verbreitung politisch engagierter theologischer Erbauungsliteratur, sondern um Stellungnahmen zu konkreten politischen Transformationen und Entscheidungsprozessen.31 Dazu gehörten Fragen der Menschen- und Bürgerrechte, der politischen Gewalt und der Beurteilung des Terrorismus der RAF sowie der staatlichen Reaktionen darauf, aber auch Fragen der Energiepolitik und der beginnenden ökologischen Debatte32. An die Aufbrüche der 1968er schlossen sich Debatten an um die Gleichberechtigung von Frauen und die internationale Solidarität mit den Befreiungskämpfen in der sogenannten Dritten Welt, deren junge Länder sich in einer postkolonialen Konsolidierungsphase befanden. Konkret erlebten Bundesbürger Berufsverbote im Zuge des sogenannten Radikalenerlasses und eine Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, die von privaten Biographien bis in die Personalien der politischen Entscheidungsträger hineinreichte und zugleich das Verhältnis der Bundesrepublik zum Schicksal des bedrängten Staates Israel und das Verhältnis von Juden und Christen betraf.
Das alles führte zu einem Krisendenken der frühen 1970er Jahre, in dem die politisch-gesellschaftliche Lage mit ihrer Transformationsdynamik als bundesrepublikanische Orientierungskrise empfunden wurde, vor deren Hintergrund Intellektuelle auch und gerade aus den Kirchen als zur Intervention berufen und berechtigt angesehen wurden. Aus heutiger Perspektive mag sich der Linksprotestantismus dieser Jahre als etwas naive, radikal-sozialistischem Fortschritts- und Machtbarkeitsdenken verpflichtete und von religiös-politischem Eifer getragene Verbindung von bestimmten Formen akademischer Theologie mit kirchlichen Aktionsgruppen darstellen, die mit Pathos und einem gewissen Maß an Aggressivität sich als bürgerliche Zwänge hinter sich lassende Avantgarde, als radikale ‚Vorhut‘ verstanden. Doch neben klarem Widerspruch aus konservativ-protestantischen Kreisen lassen sich auch erhebliche Resonanzen einer protestantisch geprägten Öffentlichkeit wahrnehmen. Gustav Heinemann, Heinrich←218 | 219→ Albertz, Kurt Scharf und andere als Vertreter eines politisch wahrgenommenen und theologisch reflektierten Protestantismus können dafür stehen.
Zu beachten ist auch, dass zum einen die Kirchenmitgliedschaft zu Beginn der 1970er Jahre noch ganz am Anfang der bis heute rapide zugenommen habenden Erosion stand. 49,0 % der bundesdeutschen Bevölkerung gehörten der evangelischen, 44,6 % der katholischen Kirche an, so dass 93,6 % der Gesamtbevölkerung Kirchenmitglieder waren, gegenüber 58,4 % im heutigen wiedervereinigten Deutschland (davon 29,9 % katholisch und 28,5 % evangelisch bei 33,0 % Konfessionslosen)33. Die Politisierung der Gesellschaft und die Radikalisierung weiterer Teile der Jugend bis hin zum bewaffneten Terrorismus betrafen dabei auch direkt kirchliche Institutionen. Manche evangelischen Studierendengemeinden radikalisierten sich politisch bis hin zu Solidaritätsadressen an RAF-Terroristen.34
B. Eberhard Jüngel zur Funktion politischer Theologie
Vor diesem Hintergrund ist die Debatte um die Frage, ob Christen Sozialisten sein müssen, zu verstehen. Sie wurde nicht nur in linken christlichen Aktionsgruppen diskutiert, sondern avancierte geradezu zu einer Grundfrage für das politische Selbstverständnis des damaligen Protestantismus, zu einem Schibboleth für die Frage, ob denn der Protestantismus aus seinem Scheitern im Nationalsozialismus tatsächlich gelernt habe, ob Theologie und Kirche sich angesichts fundamentaler politischer Ungerechtigkeit mit einer Zuschauerrolle begnügen können. Es stellte sich die Frage, wie politisch Kirche in der Bundesrepublik sein darf bzw. sein muss und inwiefern die angedeuteten virulenten politischen Fragen „die Theologie zur←219 | 220→ Konkretion“ nötigen, die als aktive Intervention zu verstehen ist und den „ ‚Luxus des Zuschauers‘ und die Attitüde der Teilnahmslosigkeit“ ebenso hinter sich zu lassen habe „wie die Haltung einer nur verbalen Konkretion“35. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, der Konfrontation der Systeme und der globalen Dimensionen von Ausbeutung und Unrecht bekam dabei die Frage nach der Reformierbarkeit der bestehenden Verhältnisse oder der Notwendigkeit ihres Umsturzes ihre Brisanz.
Seit etwa 1970 war Helmut Gollwitzer bekannt für die klare und in der deutschen evangelischen Theologie fast nur von ihm so vertretene, ein Zitat des SPD-Politikers Adolf Grimme aufgreifende These: „Sozialisten können Christen, Christen müssen Sozialisten sein“36. Dieses Zitat eröffnete Gollwitzers Streitschrift „Muß ein Christ Sozialist sein?“ von 1972. Pointiert formulierte Gollwitzer hier die Nötigung des Christen zum Sozialismus:
Das Ziel ist eine sozialistische, klassenlose Gesellschaft. Hinsichtlich dieser Zielvorstellung, die zugleich das Kriterium für die Kritik jeder bestehenden Gesellschaft gibt, läßt der Wille des Vaters dem Jünger keine Wahl. Er muß Sozialist sein.37
Das Implikationsverhältnis ist für Gollwitzer dabei klar. Der Sozialismus kann und soll nicht an die Stelle des Evangeliums treten, so dass ‚evangelisch‘ zum Prädikat des Sozialismus würde. Umgekehrt gilt dies aber sehr wohl:
„ ‚Sozialistisch‘ ist also, so wird man sagen müssen, ein Prädikat des Evangeliums. Gott will Sozialismus. Das Reich Gottes ist der wahre Sozialismus, – sowohl als Ziel der Geschichte Gottes mit seiner Menschheit wie schon jetzt, in der gegenwärtigen Bewegung hier auf Erden. Aber auch: Wo es um Sozialismus geht, da geht es immer schon um das Reich Gottes.“38←220 | 221→
Es war dann ein Vortrag Eberhard Jüngels vor dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU vom 6. Dezember 1974, der nach einem Abdruck im „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt“ (DAS) Gollwitzers zwei Nummern später ebendort abgedruckte Reaktion provozierte. Andere Stellungnahmen folgten, die später in Form eines kleinen Bandes unter dem Titel „Müssen Christen Sozialisten sein?“39 abgedruckt wurden und als ein kleiner Spiegel der damaligen bundesrepublikanischen evangelischen Theologie gelten können. In der Debatte ging es unter diesem Titel freilich weniger um Jüngels ursprünglichen Vortrag als um die Interpretation, die Gollwitzer Jüngels Ausführungen gab. Gollwitzer unterstellt: „Jüngels Vortrag enthält […] nichts Geringeres als Ausführungen über Ziel und Notwendigkeit der sozialistischen Revolution – und dies, ohne daß offenbar Hörer und Redner es gemerkt haben“40.
Jüngels ursprünglicher Vortrag trägt den Titel „Zukunft und Hoffnung. Zur politischen Funktion christlicher Theologie“41. Die Grundthese seiner Ausführungen ist in der Behauptung zusammengefasst, dass gerade „die politische Relevanz“ der christlichen Theologie, die aus ihrer Fundamentalunterscheidung von Vorletztem und Letztem erwächst, „jede Form von politischer Theologie unmöglich macht“42. Wofür das Christentum steht, was das Zentrum des christlichen Glaubens und der christlichen Verkündigung ausmacht, war und ist zwar „auch ein Politikum ersten Ranges“43. Doch das Christentum ist gerade darin politisch, dass es zwischen dem Politischen und dem Christlichen so unterscheidet, dass diese Unterscheidung beidem, dem christlichen Auftrag und der politischen Arbeit zugutekommt. Dieses Unterscheiden ist dabei nicht einfach der Nachvollzug einer vorgegebenen natürlichen Trennung etwa zwischen Geistlichem und Weltlichem oder Freiheit der Gnade und Zwang←221 | 222→ des Gesetzes. Geistliches und Weltliches können unterschieden, aber schon deshalb nicht getrennt werden, weil „das Geistliche am Weltlichen […] zur Sprache zu bringen“ ist und sich dieses Unterscheiden „inmitten der immer nur geistlich-weltlich gemischten Wirklichkeit“44 vollzieht. In Analogie zur lutherischen Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium wird man vielleicht mit Ebeling45 auch von dieser Unterscheidung als von einem nomen actionis reden dürfen, von einem immer wieder neu umzusetzenden Vollzug einer Unterscheidung, der Einsatz und Geistesgegenwart erfordert, um in concreto perspektivisch zu unterscheiden, was nicht zu trennen ist. Das Politische der christlichen Theologie zeigt sich dann primär in der Art und Weise ihrer politischen Enthaltsamkeit, die das Politische von falschen religiösen Ansprüchen entlastet und dadurch den Raum eröffnet, das dem Politischen Mögliche aus religiös-theologischer Perspektive angemessen zur Geltung bringen. Wie wir sehen werden, schließt das nicht aus, sondern ein, dass das Politische über das hinaus gesteigert zu werden vermag, was im Zusammenhang der vorgegebenen Sachzwänge und der Eigendynamik der herrschenden Verhältnisse überhaupt als möglich erscheint.
Unterscheiden heißt also nicht, dass sich das Politische und das Christliche beziehungslos gegenüberstünden. Vermittelt wird die Beziehung zwischen beiden Größen vielmehr durch den Begriff der Möglichkeit. Politik ist nach Bismarck die Kunst des Möglichen, doch – so Jüngel – was denn gerade als das Mögliche am und im Wirklichen zur politischen Orientierung in Betracht kommt, ist alles andere als ausgemacht. Es lässt sich im Sinne eines politischen Realismus, der sich aller Visionen als von vorn herein psychologisch verdächtig enthält, ganz herunter stimmen auf die unmittelbare Reaktion auf soziale, wirtschaftliche, friedenspolitische und andere Missstände, sprich auf die möglichst reibungslose, aber auch utopiearme und tendenziell richtungslose Fortschreibung des Bestehenden. Dem gegenüber kann und soll der christliche Glaube „dem politischen Handeln für die Zukunft durchaus konstruktive und konzeptionelle Grundzüge“46 an die Hand geben. Das ist kein politisches Programm, das ist aber die Formulierung von politischen Richtungsangaben vor dem Hintergrund eines über das unmittelbar Faktische hinausgehenden Verständnisses von Wirklichkeit. Jüngel bringt diese Form theologischer Orientierung des politischen Richtungssinns auf den Begriff der←222 | 223→ Zumutung47, der auch in seinen auf diese Auseinandersetzung folgenden späteren Bemerkungen zur politischen Theologie immer wieder fällt. Kirche und Theologie formulieren Zumutungen an die Politik, damit diese über das Management des Faktischen hinauszugehen ermutigt wird, ohne das Politische ins Religiöse umschlagen zu lassen. Inwieweit die Politik in ihren Entscheidungsprozesse sich diese Zumutungen verbittet, sie respektiert oder sie in weltliche Klugheitsregeln umzusetzen versucht, ist dann den komplexen Vermittlungs- und Entscheidungsprozessen anzuvertrauen, die das politische Leben in der Moderne ausmachen.
An drei Beispielen macht Jüngel die politische Relevanz seiner qualifizierten Unterscheidung von Theologie und Politik deutlich. Zum einen gelte es, Klassenkampftheorien ebenso theologischer Kritik zu unterziehen wie Utopien von herrschaftsfreien Räumen und stattdessen ein realistisches Verständnis von sich selbst begrenzender und kritikfähiger Herrschaft herauszustellen, das Herrschaftsmissbrauch entgegenwirkt und größtmögliche allgemeine Freiheitsrechte und Partizipation ermöglicht. Zum anderen ist in ökologischen Zusammenhängen geltend zu machen, so dass weder ein naives Zurück zur Natur noch eine Fortsetzung der ausbeuterischen Naturbeherrschung in Frage kommt, sondern so etwas wie „globale[.] Selbstbeherrschung“48 in den Blick genommen wird. Und drittens soll in bildungspolitischer Hinsicht die Frage nach Wahrheit in einem umfassenden, der Provinzializierung des Geistes entgegenwirkenden Sinn nicht auf Kosten von Nützlichkeitserwägungen oder um publizistischer Effekte willen in Wegfall geraten.
Was den Streit um Jüngels Ausführungen auslöste, war der kurz darauf erschienene Kommentar Helmut Gollwitzers (DAS 3/1975), der aus Jüngels Text herauslas, dass die angedeuteten Grundsätze oder Zumutungen der Theologie an die Politik „unzweifelhaft eine sozialistische Zielsetzung“ aufweisen, so dass daraus folgt: „Ein Christ muß also nach Jüngel Sozialist sein.“49 Denn etwa die von Jüngel herausgestellte Selbstbeherrschung des Herrschens in globaler Anstrengung schließe faktisch eine Fortdauer der kapitalistischen Produktionsweise aus. Der von Jüngel als Richtungsangabe verstandenen Zumutung kann nach Gollwitzer nur mit einem radikalen gesellschaftlichen Richtungswechsel entsprochen werden, der im Grundsatz keine anderen politische Optionen erlaubt: „Es geht also um die sozialistische Weltrevolution.“50 Damit war das Thema der sich←223 | 224→ anschließenden Debatte vorgegeben: Ist mit dem christlichen Glaube keine andere politische Option vereinbar als die sozialistische?
Jüngels Replik war scharf. Er sah sich als „anonyme[r] Sozialist[.]“51 vereinnahmt, der zugleich als mindestens unbewusster, möglicherweise gar (so jedenfalls die Insinuation am Schluss des Aufsatzes von Gollwitzer) heuchlerischer Reaktionär entlarvt werden sollte. Neben viel Polemik enthält der Text nur wenige neue Gesichtspunkte. Der Gegenvorwurf, den Jüngel an Gollwitzer richtet, geht dahin, dass Gollwitzer eben die von Jüngel in Anschlag gebracht Unterscheidung von weltlicher Vernunft und geistlicher Ausrichtung einerseits vollzogen haben will und doch andererseits beständig gegen sie verstößt. So muss nach Gollwitzer der Christ aus theologischen Gründen Sozialist sein, und doch behauptet er zugleich, der sozialistischen Revolution gerade nicht aus theologischen Gründen das Wort geredet zu haben, sondern sie mit der Unausweichlichkeit sachbezogener Gesellschaftsanalyse zu begründen. Politische Sachargumente aber, so Jüngel, können und dürfen nicht selbst mit der Würde theologischer Unausweichlichkeit versehen und in der Form theologischer Assertionen formuliert werden, weil damit jede sachhaltige politische Debatte beendet ist, bevor sie begonnen hat, und man dann die Verweigerung einer Zustimmung zum Klassenkampf nur noch in geradezu hamartiologischen Kategorien mit Blindheit oder Böswilligkeit beschreiben kann. In seinem Schlussbeitrag zur Debatte52 stellt Jüngel dann noch einmal klar, dass es ihm eben um die Abwehr des „Müssens“ ging: „Christlicher Glaube kann ein programmatisches ‚Muß‘ in dieser Sache nur als theologische Vergewaltigung der Gewissen bekämpfen.“53 Dem entspricht die Abwehr der umgekehrten These, als Christ müsste man Antikommunist sein. Jedes entsprechende Müssen, nach welcher Seite auch immer, mäandert zwischen der Berufung auf Sachargumente und religiös-theologischen Grundüberzeugungen hin und her und simuliert Konkretheit, bleibt aber, weil es die Verwickeltheit politisch-geschichtlicher Prozesse durch theologischen Entscheid zu vereindeutigen sucht, seinerseits abstrakt54.
Eine wirkliche Klärung der Alternative ‚mögliche Reform oder notwendige Revolution‘ hat die Debatte nicht gebracht. In seinem Schlusswort hat Gollwitzer seinerseits nicht mehr vom modallogisch wenig flexiblen Müssen gesprochen, sondern davon, dass das Evangelium, das von Jüngel zu Recht als Zumutungen an die Politik←224 | 225→ formulierend verstanden wurde, die politische Vernunft zu neuen politischen Zielen „drängt“55 und dass darüber, wie das Ziel einer Überwindung von Ausbeutungsverhältnissen zu erreichen sei, „vernünftig [theologisch oder weltlich?] zu diskutieren“56 ist, wobei die Frage nach dem Wesen dieser ‚Vernunft‘ offenbleibt.
IV. Qualifizierte Unterscheidungen
Beide Positionen, die von Jüngel und die von Gollwitzer, sahen sich der Theologie Karl Barths verpflichtet, so dass Dorothee Sölle in ihrem Kommentar nicht ganz zu Unrecht beide Kontrahenten „im geräumigen Hause Karl Barths“57 unterbrachte. Insofern ist die Debatte auch eine Debatte um die Deutung der allerdings zu dieser Zeit keineswegs [mehr?] dominanten barthianischen Theologie. Jüngel vertritt dabei eine Deutung der politischen Seite von Barths Theologie, die sich an der Barmer Theologischen Erklärung orientiert und diese als gerade darin politisch versteht, dass sie sich einer direkt politischen Theologie verweigert. Darin zeigt sich für Jüngel nicht die besondere Situation eines Gegenüber zu den Ansprüchen eines totalen Staates,58 sondern eine grundsätzliche, der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre vergleichbare Verhältnisbestimmung.
A. Barmen V und die Rechtzeitigkeit politischen Widerstands
In seinen weiteren Äußerungen zu Fragen der politischen Verantwortung von Christentum und Kirche bezieht sich Jüngel wiederholt auf die Barmer Theologische Erklärung und besonders deren fünfte These, die er nicht im Gegensatz, sondern in Entsprechung zur Lutherischen Zwei-Reiche-Lehre versteht: „Die fünfte These stellt die Barmer Fassung der […] Zwei-Reiche-Lehre dar.“59 Auch sein Aufsatz „Das Salz der Erde: Zum Verhältnis von Christengemeinde←225 | 226→ und Bürgergemeinde“ von 197960, ursprünglich eine Rede zur 900-Jahr-Feier der Stadt Tübingen und als solche geprägt von der Auseinandersetzung um den Links-Terrorismus in Deutschland und der Frage nach einem theologisch begründeten Widerstand im Kampf um eine gerechte politische Ordnung, orientiert sich an Barthschen Vorgaben. Aus Barths programmatischer Studie „Rechtfertigung und Recht“ von 1938 übernimmt Jüngel den Ausgangspunkt, dass das Christentum zum einen auf einer strengen und möglichst klaren Unterscheidung zwischen Kirche und Staat zu bestehen hat, zum anderen aber eben diese klare Unterscheidung die Bedingung der Möglichkeit eines fruchtbaren Bezugs beider Größen darstellt. Nach Mk 12 ist – gemäß der aristotelischen Formel der Verteilungsgerechtigkeit – jedem das Seine zu geben (suum cuique), dem Kaiser das, was des Kaisers ist, und Gott das, was Gottes ist. Andererseits hat Jesus Herodes auch einen „Fuchs“ genannt und damit offensichtlich eine solche kritische Ansage als zur Unterscheidung von weltlicher Gewalt und göttlicher Autorität notwendigerweise hinzugehörig angesehen. Dieses Verhältnis von Unterscheidung einerseits und qualifizierter Ansage andererseits sieht Jüngel als für das Verhältnis von Staat und Kirche sowie analog für das Verhältnis von christlicher Gemeinde und dem regionalen politischen Gemeinwesen bestimmend an. Indem die Christengemeinde sich in der Bürgergemeinde zugleich von dieser dadurch qualifiziert unterscheidet, dass sie sich auf das Evangelium von Jesus Christus bezieht und sich von ihm in Dienst genommen weiß, wird die Christengemeinde nach Jüngel nicht als ein Verein oder eine Interessengruppe unter anderen konstituiert, sondern steht sie als „ein Fall für sich“61 dem Staat gegenüber. Es ist die Bezogenheit auf den in Jesus Christus sich dem Menschen zuwendenden Gott, die die Christengemeinde von den Zusammenhängen weltlicher Politik unverwechselbar unterscheidet und zugleich dadurch auf sie bezogen sein lässt, dass die Christengemeinde dem Gemeinwesen das Zeugnis des dem Menschen zugewandten Gottes schuldet. Denn Kirche und Christengemeinde sind wesentlich zu verstehen nicht als Selbstzweck62, sondern als Zeugnisgemeinschaft, die auf die göttliche Macht←226 | 227→ der Gnade und Liebe als die eigentliche Macht in dieser ihr zu oft eklatant widersprechenden und von ihr gerade nicht Zeugnis ablegenden Wirklichkeit hinzuweisen habe.
Dieses „christliche Zeugnis von der Macht der Liebe“63 ist die Auszeichnung der christlichen Gemeinde, die damit zugleich eine fundamentale Einschränkung aller weltlichen Macht impliziert, weil im Licht dieses Zeugnisses eine das Politische als das Politische zur Geltung bringende Begrenztheit des Politischen deutlich werden soll und muss. So gehört es nach Jüngel zur unhintergehbaren Verpflichtung der christlichen Gemeinde, die Kategorie der Wahrheit der Kategorie der Macht überzuordnen, wie dies in Jesu Wort über Herodes, den Fuchs, zum Ausdruck kommt. Aus dem nicht-selbstzwecklichen Charakter der christlichen Gemeinde folgt aber andererseits auch eine Depotenzierung der Bedeutung der christlichen Gemeinde. Biblisch und wieder unter Aufnahme der entsprechenden Gedanken bei Barth gesprochen ist es die politische Gemeinde, die das Modell der eschatologischen, bleibenden Stadt darstellt, und gerade nicht die Kirche. Theologisch ist das menschliche Gemeinwesen als solches die eschatologisch entscheidende Kategorie, auf die bezogen die christliche Gemeinde eine vorübergehende, auf die eigene Selbstaufhebung hinauslaufende Funktion hat64.
Eine wesentliche Aufgabe der Christengemeinde gegenüber der Bürgergemeinde ist es, der politischen Ordnung religiöse Funktion und Qualifikation abzusprechen, um damit eben Gott zu geben, was Gottes ist. Das impliziert eine radikale Entmythologisierung des Staates bis hin zum politischen Widerstand, der dann geboten sein kann, wenn der Staat sich dazu hinreißen lässt, auf eine totalitär-ideologische Gesamtordnung menschlichen Lebens Anspruch zu erheben. Das entscheidende Kriterium für die Legitimität solchen Widerstands besteht für Jüngel darin, dass dieser nur zur Verteidigung des Staates gegen den falsch verstandenen Staat dienen kann und darf. Ob und wie eine konkrete Entscheidung zur konkreten Tat, die sich möglicherweise im passiven Ungehorsam oder aktiven Widerstand äußert, darüber hinaus auszusehen hat, hat dann nach←227 | 228→ Jüngel „in praxi“65 und in je individueller politischer Verantwortung von Christenmenschen zu geschehen. Denn auch das impliziert seine Unterscheidung, dass eben konkretes politisches Handeln immer nur relativ gerecht oder ungerecht, aber eben niemals schlechthin gerecht oder ungerecht sein kann und deshalb auch nicht allgemein verbindlich gemacht werden darf. Es dürfte den Normalfall echter, auf einen Wechsel der Verhältnisse drängender politischer Problemlagen darstellen, dass in ihnen Gewalt ebenso wie der Verzicht darauf schuldig machen kann. Über dann notwendige Entscheidungen, über Rebellionen und Revolutionen kann es keinen theoretischen und erst recht keinen theologisch verpflichtenden Konsens, sondern nur individuelle, vom Gewissen bestimmte Übernahme praktischer Verantwortung geben.
Entscheidend ist es deshalb darauf hinzuwirken, dass solche, Gewalt möglicherweise unausweichlich machende Entscheidungssituationen gar nicht erst eintreten. Es muss bei der Frage nach dem politischen Widerstand von Christenmenschen darum gehen, rechtzeitig Widerstand zu leisten, so dass Entscheidungssituationen, in denen dieses nur noch unter Einschluss der Androhung und Ausübung von Gewalt und Gegengewalt möglich ist, vermieden werden können. Wie kann rechtzeitiger politischer Widerstand aussehen? Jüngel formuliert vier Punkte: 1. Lob und Dank der christlichen Gemeinde für das Gute des im politischen Gemeinwesen Realisierten kann und soll etwas davon aufgehen lassen, wozu Gott den Menschen überhaupt bestimmt hat. 2. Darin besteht nach Jüngel eine wesentliche politische Funktion des öffentlichen christlichen Gottesdienstes, dass in ihm in der rechten Weise, und das heißt in einer Atmosphäre der Freiheit, zu der Gott den Menschen befreit, gebetet, verkündigt und gefeiert wird. 3. Im Zentrum des christlichen Gottesdienstes muss dann die Verkündigung der Rechtfertigung des Menschen konkretisiert und damit ein Verständnis des Menschen promoviert werden, das diesen weder mit seinen Leistungen noch seinen Untaten identifiziert, sondern zu einer solchen moralischen Abrüstung beiträgt, die den unbedingten Selbstwert des Menschen zur Geltung bringt. Gerade hier kann und muss sich rechtzeitiger politischer Widerstand artikulieren, der die politische Ordnung entsprechend befragt und den Vorrang der Person vor ihren Taten etwa in Bezug auf Kinder, Alte und Straffällige einfordert. 4. Christenmenschen, Kirche und Theologie haben eine freie, ehrliche Sprache zu pflegen. Der Dienst am Evangelium fördert auch dadurch rechtzeitigen politischen Widerstand, dass er ein Dienst an der Sprache ist und damit zur öffentlichen Artikulation eigener←228 | 229→ Überzeugung anleitet, die ohne religiöse und quasi-religiöse Diffamierung des Anderen auskommt.
Darüber hinaus präzisiert Jüngel, dass zwar zur staatlichen Ordnung die Androhung und Ausübung von Gewalt gehört, allerdings die Androhung und Ausübung von Gewalt nicht das Wesen des Staates ausmacht. Gegen manche Staatstheorien lutherischer Prägung macht er geltend, dass vom Gefälle der Barmer Thesen her Frieden und Gerechtigkeit als die zentralen politischen Leitbegriffe zu gelten haben und Gewalt allenfalls „die alle anderen Mittel“ zur Herstellung von Recht und Frieden „begleitende und gegebenenfalls zu realisierende äußerste Möglichkeit des Staates“66 darstellt. Gewalt definiert den Staat nicht, vielmehr muss es um die möglichst weitgehende Zurücknahme von Gewalt gehen, was militärische Abrüstung und das Bemühen um eine dauerhafte Friedensordnung mit einschließt. Es gibt keine Unvermeidbarkeit des Krieges, erst recht keine theologisch zu begründende.
Was Jüngel allerdings aus der lutherischen Tradition in seine Interpretation von Barmen V übernimmt, ist die Einsicht, dass der Christ immer Bürger beider Reiche ist und deshalb die statische Gegenüberstellung von Staat und Kirche nicht missverstanden werden darf als ob sich hier verschiedene Gruppen von Menschen gegenüber stünden: „der Staat nichts anderes ist als die politische Existenzform seiner Bürgerinnen und Bürger“67. Die Gestaltung des Gemeinwesens in einem umfassenden Sinne fällt in die Verantwortung aller Betroffenen. Jüngel schließt sich deshalb Barths Votum an, dass eine besondere Affinität des christlichen Glaubens gegenüber der Demokratie festzustellen sei.68←229 | 230→ Er sieht aber die Schwierigkeit, dafür biblische Kriterien gewinnen zu können – dürfte doch z. B. das Gegenüber von Königtum und Prophetentum im Alten Testament so kaum auf heutige politische Grundsatz- und Systemfragen übertragbar sein. Für das Neue Testament scheint wiederum Röm 13,4 nahezulegen, dass jede gegebene Staatsform einschließlich totalitärer Formen zunächst einmal als von Gott eingesetzte Dienerin anzuerkennen ist, und man wird zugestehen müssen, dass ein politischer Systemwechsel und die Frage nach der vorzugswürdigeren Gestalt politischer Herrschaft in neutestamentlicher Perspektive nicht in den Blick kommt. Jüngel plädiert deshalb für eine christliche Wertschätzung der Demokratie unter Berufung auf ein anthropologisches Kriterium: Die Rechtfertigungslehre versteht den Menschen als ein durch den Indikativ des Evangeliums und also, weltlich gesprochen, durch die unveräußerliche Menschenwürde konstituiertes Gemeinschaftswesen, das dadurch zur selbstverantworteten Freiheit für den Nächsten befreit ist. Daraus folgt zum einen wieder die Bestreitung jeglichen Totalitätsanspruches des Staates, die dann zum anderen positiv in der Forderung nach Recht, Frieden und Freiheit ohne Ansehen der Person zum Ausdruck kommt und zum dritten in eine beständige Selbstkritik und Korrekturfähigkeit des politischen Systems zu münden hat. In eben dieser dreifachen Hinsicht kann unter den real existierenden Staatsformen die Demokratie als diejenige gelten, die den anthropologischen Implikationen des christlichen Glaubens am ehesten entspricht.
B. Rechtfertigung und Recht
Jüngel verteidigt die von ihm als angemessene Form der Zwei-Reiche-Lehre verstandene, sich in Barmen V sachgemäß artikulierende politische Seite der Barthschen Theologie auch gegen Einwürfe von lutherischer Seite, die darin eine direkte Verlängerung des Theologischen ins Politische und dies wie etwa Ebeling als „Überführung der Dogmatik in die Ethik“69 kritisierten. Anhalt←230 | 231→ hatte solche Kritik an Äußerungen Barth zum direkten Zusammenhang von Rechtfertigung und Recht, wenn Barth etwa in der Lehre von Gottes Vollkommenheiten in der Kirchlichen Dogmatik rundheraus behauptet, aus dem christlichen Glauben an die Gerechtigkeit Gottes folge „schnurgerade eine sehr bestimmte politische Problematik und Aufgabe“70. Hier droht nach Ebeling eine Auflösung des Evangeliums in gesetzliche Kategorien, gegen die er Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ins Feld führt. Dieser Interpretation Barths gegenüber, aber auch gegenüber einem in der Person Gollwitzers schon angeführten Linksbarthianismus, der in der politischen Entscheidung die Nagelprobe für die Wahrheit der sich darin artikulierenden Theologie sieht, macht Jüngel geltend, dass Barth sich jeder Form einer Auflösung der Theologie ins Ethische, auch in Formen der politischen Ethik, verweigert habe. Nach Jüngel war Barth daran gelegen, das Gefälle und den inneren Zusammenhang von Rechtfertigung und Recht so zum Ausdruck zu bringen, dass die göttliche Gnade, Liebe und Barmherzigkeit nicht als das Andere des Rechts, nicht als dessen kontradiktorische Aufhebung zu verstehen ist, sondern dass Gottes unbedingte und vorhergehende Gnade ein Gefälle zum Recht überhaupt, ja zu bestimmten Formen des Rechts hat, die dieser Gnade entsprechen. Nicht auf die Stilisierung eines Gegensatzes darf das Verhältnis von Religion und Politik hinauslaufen, so dass der Steigerung der Unerbittlichkeit und Eigengesetzlichkeit äußerer Zwangsverhältnisse die Steigerung eines primär innerlich zu vollziehenden Freiheitsbewusstseins entspräche, aber auch nicht auf eine religiöse Überhöhung von Formen des Politischen. Die rechte theologische Verhältnisbestimmung von Religion und Politik ist nach Jüngel vielmehr dann getroffen, wenn sie eine dem Prärogativ der Gnade Gottes folgende Relativierung des Politischen im Sinne einer Konzentration und Besinnung auf das ihm Mögliche verfolgt, die gerade nicht ausschließen darf, sondern ermöglichen muss, dass auch politisch die Gnade Recht behalten kann und darf. Es geht also wieder um das angemessene Tieferhängen71 des Anspruchs des Politischen um der Menschlichkeit des Menschen willen, dem dann bestimmte Rechtsformen entsprechen, andere aber auch so widersprechen können, dass das Politische zur Bekenntnisfrage werden kann, wie dies in der Barmer Theologischen Erklärung zum Ausdruck kam.←231 | 232→
C. Analogie
Eben dieses Entsprechungsverhältnis von Rechtfertigung und Recht bringt Jüngel mit der von ihm früh als hermeneutische Fundamentalkategorie der Barthschen Theologie identifizierten Analogie72 auf den Begriff, die er als eine Hierarchie von Entsprechungsverhältnissen nachzeichnet: Dem innergöttlichen Sein entspricht die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen Jesus; dem entspricht Gottes Beziehung zum Menschen überhaupt; dem entsprechen die Beziehungen zwischen Menschen; dem entspricht das Leib-Seele-Verhältnis des Menschen usf.73 Wenn nun das Recht der Rechtfertigung entsprechen, also eine theologische Kategorie analogice wirksam werden soll, so bedeutet dies zunächst, wie Barth formuliert, dass es keine „direkte Aktion“74 der Kirche im Bereich politischen Handelns geben kann, sondern dass das Bei-der-eigenen-Sache-Bleiben der Kirche und ihr öffentliches Insistieren auf ein der Botschaft der Rechtfertigung entsprechendes Recht den „im politischen Raum zu vollziehenden christlichen Entscheidungen“, von Einzelpersonen wie von Gemeinden und Institutionen, die sich als christlich verstehen, „eine unter allen Umständen zu erkennende und innezuhaltende Richtung und Linie“75 zu geben versucht. Auch hier ist das „schnurgerade“ aus KD II/176 durch die Figur der Analogie gebrochen. In umgekehrter Richtung bedeutet dies aber auch, dass das Christliche, die Botschaft der Gemeinde im Raum des Politischen „gar nicht direkt, sondern eben nur im Spiegel ihrer politischen Entscheidungen sichtbar“77 gemacht werden kann: Die geistliche Seite der Analogie trägt im Raum des Politischen zur Sachhaltigkeit des politischen Arguments direkt nichts bei! Die←232 | 233→ politischen Entscheidungen, die im Licht des Evangeliums als die besseren Entsprechungen zur göttlichen Gnade in Betracht kommen, imponieren sich nicht durch eben diesen Entsprechungscharakter, sondern allein durch ihre faktische politische Vorzugswürdigkeit und also dadurch, dass sie „zur Erhaltung und zum Aufbau des Gemeinwesens faktisch heilsamer sind“78. Jüngel unterscheidet darüber hinaus noch zwischen dem Handeln der christlichen Gemeinde im Rahmen der Konstituierung der eigenen Ordnung, die Kirchen und Gemeinden sich selbst geben, einerseits und dem Handeln einzelner Christenmenschen in politischer Verantwortung andererseits. Im ersten Fall ist der Zeugnis- und Entsprechungscharakter im exemplarischen Handeln der Gemeinde klarer vor Augen,79 während die Christlichkeit einer individuellen Entscheidung eher anonym und unsichtbar zu bleiben pflegt.
D. Pluralismus aus Prinzip80
Auf eine weitere Konsequenz von Jüngels analogie-hermeneutischer Lesart Barths sei abschließend noch hingewiesen.81 Der eigentümliche Auftrag der christlichen Gemeinde, der sie von der politischen Gemeinde einerseits unterscheidet, andererseits in dieser Unterscheidung durch die Kategorien von Zeugnis, Verkündigung und Analogie wesentlich mit ihr verbindet, ist der Auftrag, im Besonderen für das Ganze da zu sein. Das Ganze dessen aber, was wir heute mit Gesellschaft bezeichnen, ist in einer eigentümlichen Weise pluralistisch verfasst und zudem funktional und zivilgesellschaftlich differenziert. Pluralismus und gesellschaftliche Differenzierung einschließlich der diese Formen erst ermöglichenden Säkularisierung sind nun nach Jüngel gerade wegen der aus christlicher Sicht entscheidenden fundamentalen Selbstbegrenzung des Staates, der auf die Herstellung von Gleichförmigkeit mit Hilfe eines staatlich sanktionierten Wahrheitsmonopols verzichtet, prinzipiell zu bejahen. In diese Kontexte hin←233 | 234→ein hat die Kirche heute die aus dem Evangelium erwachsenden Zumutungen an die staatliche Ordnung zu artikulieren und sie werbend vorzutragen in dem Bewusstsein, dass der neuzeitliche Pluralismus sich nicht einfach gegen religiöse und theologische Interessen formiert hat, sondern dass in der Meinungs-, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit auch unaufgebbare Entsprechungen zum Evangelium politisch wirksam geworden sind.
V. Schluss
Eberhard Jüngel, so sollte gezeigt werden, vertritt eine Art ‚kühler‘ politischer Theologie, die durch die je und je neu zu vollziehende Unterscheidung des Geistlichen vom Weltlichen den Raum des Politischen frei gibt, andererseits sich auf ihn durch eben diese qualifizierte Unterscheidung und durch indirekte, analoge Mitteilung bezieht. Sie ist weder als ‚warme‘ politische Theologie die direkte Verlängerung des Religiösen ins Politische noch als ‚kalte‘ politische Theologie die bloße Rekonstruktion eines faktischen Verhältnisses von Religion und Politik. Im Zentrum dieser Verhältnisbestimmung stehen Kategorien der Vermittlung und Analogie, die zwischen Wahrheit in einem umfassenden und emphatischen Sinn und der verwickelten, pluralen, kontingenten Wirklichkeit vermitteln: „Es geht […] um die konkrete Einheit des höchst einseitigen Anspruches der Wahrheit mit den sehr vielseitigen Ansprüchen der Wirklichkeit. Wie kann Wahrheit konkret sein? Das ist die Frage.“82 Die Vermittlung von Anspruch und Wirklichkeit wird letztlich dadurch geleistet, dass in christlich-theologischer Perspektive in der Wirklichkeit des Politischen neue Möglichkeiten entdeckt, ja geradezu hervorgerufen werden: „Das Mögliche lässt sich steigern. Der christliche Glaube will es steigern“83, und zwar in Richtung auf die Fülle des Menschseins des Menschen.
Eben dies ist die Grundfigur und Grunderfahrung der Rechtfertigung aus Glauben, dass das durch die Wirklichkeit des auf sich selbst bezogenen Menschen eigentlich unmöglich Gemachte als neue Möglichkeit wirksam wird und der Wirklichkeit schöpferisch zugutekommt. Insofern dies Mögliche nicht im bloß Kontrafaktischen verbleibt und damit sich selbst als illusionär desavouiert, beginnt es sich auszuwirken und durch Analogiebildungen zu bewähren in den „harten Notwendigkeiten der Welt“84. Dabei kommt im Politischen beides←234 | 235→ zusammen, die Unnachgiebigkeit und Widerständigkeit des Faktischen und die Phantasie und Nachgiebigkeit des – um noch einmal Jüngelsche Terminologie zu bemühen – mehr als Notwendigen, das den Überschuss all dessen bezeichnet, was nicht geschuldet ist: Liebe, Gnade, Würde, Barmherzigkeit.
Entscheidend für eine coole politische Theologie ist eine sachgerechte Unterscheidung des Kontrafaktischen vom Faktischen, die zugleich beides über konkrete einzelne Entscheidungen, über die Implementierung von Erbarmen im Recht, über die Selbstbegrenzung menschlicher Herrschaftsverhältnisse und die Unbedingtheit der Menschenwürde in differenzierter Weise zu vermitteln vermag. Für die christliche Theologie sollte das im Menschen Jesus Christus und in seinem Geschick sich vollziehende und allen Menschen zuzusprechende Zusammenkommen von Gott und Mensch bei unvermischter Differenz von Gott und Mensch leitend sein. Daraus entstehen „Richtung und Linie“85 einer christlichen Sicht der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit, die sich in der Formulierung von Zumutungen an die Adresse aller politischen Akteure und also aller Bürgerinnen und Bürger konkretisieren und zuspitzen. Zumutungen richten sich gegen ein „So ist es, und so wird es bleiben“. Zumutungen sind Herausforderungen, zu denen sich zu verhalten, und zwar nach Möglichkeit argumentativ sich zu verhalten, man gezwungen ist, die anzunehmen aber gerade nicht zwingend gemacht werden kann. Zumutungen muss man nicht entsprechen, aber es erleichtert die Zustimmung, wenn diejenigen, die sie aussprechen, diese Zumutungen für sich selbst anzunehmen bereit sind. Und Zumutungen fördern selbst bei Ablehnung den Möglichkeitssinn, den Blick für die Bedeutung des Kontrafaktischen. Und wiederum erleichtert es, einen Blick für die durch Zumutungen neu beweglich gemachte Wirklichkeit zu bekommen, wenn Zumutungen ohne moralischen Theaterdonner und in dem Bewusstsein ausgesprochen werden, „daß das Evangelium nicht von dieser Welt“, aber doch für diese Welt ist, gerade weil es „auf dem Feld der Politik nur gebrochen“, so aber eben doch und unter Wahrung der eigenen Rationalität des Politischen „zur Darstellung“86 gebracht werden kann. Ironie und Humor, auf deren Bedeutung für die menschliche Existenz überhaupt und für das Religiöse im Besonderen Sören Kierkegaard so nachdrücklich aufmerksam gemacht hat, dürften einer coolen politischen Theologie gut bekommen. Für die „Kommunikation←235 | 236→ des Evangeliums“87 hinein ins Politische könnten sie bei allem Ernst der Lage möglicherweise unerlässlich sein. Jüngel hat der Theologie in diesen Zusammenhängen die Narrenrolle nahegelegt, in der aus einem gesunden Abstand zur zwanghaften Normalität der Wirklichkeit heraus unbequeme Wahrheiten und der Gnade des Evangeliums entsprechende Zumutungen sich ungezwungen äußern lassen.
Bei Jüngels gelegentlichen Bemerkungen ebenso wie in meinen Bemerkungen dazu kommt vieles zu kurz. Die Frage nach dem Sozialismus als Frage nach der Chancengerechtigkeit, nach Ausgleich und gemeinschaftlicher Solidarität, nach einem „kollektive[n] Beherrschen unseres Herrschens“88 ist angesichts wachsender Differenzen und einseitig machtförmiger Verhältnisse innerhalb unserer Gesellschaften und zwischen den Gesellschaften auf diesem Planeten trotz des Scheiterns weiter Teile des real existiert habenden Sozialismus alles andere als erledigt. Grundlegende Lebensbedingungen für alle, die allgemeinen Menschenrechte und die Überwindung von Krieg durch eine Gewalt dämpfende Weltinnenpolitik dürften politisch klug, ja unabdingbar und zugleich Entsprechungen der Zuwendung sein, von der Menschen überhaupt leben. Coole politische Theologie steht in der Gefahr, zur kalten Theologie, zu einem rechtfertigungstheologisch begründeten Zynismus zu entarten, der um des Evangeliums willen, aber auch um der Abwehr drohender religiös-politischer Überhitzung willen Frieden schließt mit dem Bestehenden und in einen politischen Schlummer verfällt. Coole politische Theologie muss bewegte, leidenschaftliche Theologie sein und bleiben, sonst wird sie etwa angesichts der grotesken Ungleichverteilung von Lebenschancen und Ressourcen zur zynischen Theologie.
Doch kämen kirchliche und theologische Bezugnahmen auf das Politische heute manchmal mit etwas weniger Pathos in Bezug auf ihre direkte Praxisrelevanz daher, mit etwas weniger geistlicher Folklore und weniger politischer Aufgeregtheit, sondern mit einer gewissen Coolness, die sie nicht immer nur als die angestrengte Darstellung der eigenen Betroffenheit und angeblicher religiöser Unausweichlichkeit erscheinen ließe, sondern theologische Selbstreflexion verstünde als einen kühlen, aber nicht kalten oder gar leidenschaftslosen Ort des Denkens, der geistlichen wie weltlichen Arbeit an sich selbst (!)←236 | 237→ und an der eigenen Art und Weise sich zu organisieren89, als einen Ort also, an dem zum einen eine sachlich-nüchterne Einsicht in das Faktische gepflegt wird, die von einer ontologischen Gottlosigkeit der vorfindlichen Wirklichkeit nichts wissen will, und zum anderen eine qualifizierte Nichteinmischung, die das Eigenrecht der Adressaten nicht nur respektiert, sondern erst recht zur Geltung bringt, dann könnten Kirche und Theologie vielleicht auch wieder ‚cool‘ im Sinne der heutigen Umgangssprache erscheinen und sich ihrer eigentlichen Aufgabe widmen, der Kommunikation des Evangeliums von der in Jesus Christus erschienenen Nähe Gottes hinein in die geistlich-weltlich gemischte Wirklichkeit dienlich zu sein. Ob eine solche „Verschränkung von Sachbewußtsein und Lagebewußtsein einer datierte[n] Theologie“90 sich in einer Stabilisierung der Mitgliederzahlen niederschlagen würde, steht auf einem ganz anderen Blatt. Es wäre eher zu bezweifeln. Aber neue Wege zu echter Zeitgenossenschaft und umgekehrt mögliche neue Wege der Zeitgenossen zu christlicher Existenz – das wäre schon etwas. ←237 | 238→ ←238 | 239→
1 Zu Phillips cf. jetzt Dalferth, Ingolf U. / Sass, Hartmut von (Hrsg.): The Contemplative Spirit. D. Z. Phillips on Religion and the Limits of Philosophy. (Religion in Philosophie and Theology 49). Mohr Siebeck: Tübingen 2010 und Sass, Hartmut von: Sprachspiele des Glaubens. Eine Studie zur kontemplativen Religionsphilosophie von Dewi Z. Phillips mit ständiger Rücksicht auf Ludwig Wittgenstein. (Religion in Philosophie and Theology 47. Mohr Siebeck: Tübingen 2010.
2 Phillips, Dewi Z.: Philosophy’s Cool Place. Cornell Univ. Press: Ithaca 1999.
3 Phillips, Dewi Z.: Religions and the Hermeneutics of Contemplation. Cambridge University Press: Cambridge 2001.
4 Phillips 1999, S. 160.
5 Cf. Phillips, Dewi Z.: The Problem of Evil and the Problem of God. SCM Press: London 2004.
6 Cf. Locke, John: An Essay Concerning Human Understanding. Clarendon Press: Oxford 1987, S. 10.
7 Z.B. Phillips 1999, S. 25.
8 Auch wenn Phillips diese Ansätze nicht diskutiert, so könnten als weitere Varianten etwa die Diskursethik von Jürgen Habermas, für den nach dem Ende der Metaphysik der argumentierenden Philosophie „nur der Rückzug auf die reflexive Ebene einer Analyse des Verfahrens“ (Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1991, S. 184) bleibt, oder der Naturalismus von Willard V. Quine angeführt werden, für den Philosophie letztlich eine die wissenschaftliche Fortsetzung des gesunden Menschenverstandes begleitende Reflexion auf die Grenzen und Möglichkeiten der Naturwissenschaften darstellt, so dass gilt: „philosophy of science is philosophy enough“ (Quine, Willard V.: „Mr. Strawson on Logical Theory“. In: id.: The Ways of Paradox and Other Essays. Harvard University Press: Cambridge Mass. 19762, S. 151).
9 Wittgenstein, Ludwig: „Vermischte Bemerkungen“. In: id.: Werkausgabe Bd. 8: Über Gewißheit [u. a.], Suhrkamp: Frankfurt a. M. 20029, S. 453. Ohne das hier weiter ausführen zu können, sei nur angemerkt, dass Phillips, angeregt durch seinen Lehrer Rush Rees und zusammen mit dem, was man die „Swansea School of Philosophy“ nennt, sich damit auch gegen die Bewegung der sogenannten New-Wittgensteinians absetzt, sofern diese in der Wittgensteinschen Philosophie immer noch so etwas wie das Maß aller Dinge suchen („search for a measure of ‚all things‘ “: Phillips, Dewi Z.: „Locating Philosophy’s Cool Place – A Reply to Stephen Mulhall“. In: Sanders, Andy F. (Hrsg.): D. Z. Phillips’ Contemplative Philosophy of Religion. Ashgate: Aldershot 2007, S. 32) und die Aufgabe der Philosophie als irgendwie lebensdienliche Therapie bestimmt wird. Die Differenzen, die Phillips zwischen Therapie und Kontemplation einerseits sowie zwischen Beschreibung und Kontemplation andererseits aufmacht, sind schwierig zu fassen und bedürften einiger Erläuterungen. Jedenfalls gehört es zur Kontemplation im Sinne Phillips, Variation, Kontraste und Diversität herauszustellen und damit über das hinauszugehen, „what we appropriate personally“ (op. cit., 34). Ingolf Dalferth sieht deshalb die Pointe des kontemplativen Ansatzes in „self-transformation“: nicht die Realität, aber der über die Realität Nachdenkende wird verändert (Dalferth, Ingolf U.: “Religion in a World of Many Cultures: Conflict, Dialogue, and Philosophical Contemplation”. In: Sanders, S. 160).
10 Phillips 1999, pass.
11 Cf. Wittgenstein, Ludwig: „Philosophische Untersuchungen“. In: id.: Werkausgabe Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus [u. a.]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 199711, S. 246 (§19); S. 250 (§23); S. 356 (§241).
12 Op. cit., S. 302 (§124). Cf. §599: „In der Philosophie werden nicht Schlüsse gezogen. ‚Es muß sich doch so verhalten!‘ ist kein Satz der Philosophie. Sie stellt nur fest, was Jeder ihr zugibt.“ (op.cit., S. 460).
13 Phillips 1999, S. 11.
14 Op. cit., S. 54–55.
15 So etwa der von Phillips selbst zitierte Vorwurf von Bela Szabado: „To put it bluntly, a philosophy that leaves everything where it is hinders the struggle for social justice, peace and human flourishing. It is an obstacle to human solidarity“ (nach Rodgers, Michael: „Is D.Z. Phillips a Realist?“ In: Dalferth, Ingolf U. / Sass, Hartmut von (Hrsg.): The Contemplative Spirit: D. Z. Phillips on Religion and the Limits of Philosophy. Religion in Philosophie and Theology 49. Mohr Siebeck: Tübingen 2010, S. 149).
16 Es sei wenigstens erwähnt, dass nach meinem Urteil Phillips wie andere philosophische Interpreten Wittgensteins in der Gefahr stehen, die Differenz zwischen der kontemplativen Haltung der Philosophie und dem Übergang zur aktiven und ungehinderten Teilnahme an der menschlichen Lebensform zu überspielen und so die Gebrochenheit einer Philosophie nicht mehr wahrzunehmen, die bei Wittgenstein als eine Therapie, die Krankheit und Verwirrung voraussetzt, verstanden wird. Es ist ein existentielles Grundmotiv sowohl der frühen wie auch der späten Philosophie Wittgensteins nicht nur zu fragen, warum und wie wir Philosophie qualifiziert betreiben, sondern auch, wie wir sie auf sich beruhen lassen können und sie wieder loswerden. Cf. die Bemerkung §133 in den Philosophischen Untersuchungen (Wittgenstein: “Philosophische Untersuchungen”, S. 305 (§133): „Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will.“) mit den berühmten, stärker dialektisch-paradoxal gefärbten Sätzen des Rahmens des Tractatus, z. B. mit der Nr. 6.521: „Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems“ (Wittgenstein, Ludwig: „Tractatus logico-philosophicus“. In: id.: Werkausgabe Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus [u. a.]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 199711, S. 85).
17 Traditionell geht die sogenannte altprotestantische Orthodoxie von einem solchen Theologieverständnis aus, wenn sie als Zielbestimmung der Theologie im Sinne einer doctrina practica angibt, dass sie den Menschen unterweist, wie das ewige Heil zu erlangen ist (informatio hominum ad salutem aeternam, so Gerhard, Johann: Loci theologici Bd. 1, hg. v. Preuss, Eduard Gust. Schlawitz: Berlin 1863, S. 7 [Prooemium 26]). Die Polemik Ernst Troeltschs allerdings, dass die (von Gerhard selbst nicht verwendete) analytische Methode der altprotestantischen Orthodoxie „die Theologie formell auf eine Linie mit allen methodischen Anweisungen zur Erreichung irgendeines Zweckes, wie z. B. Maschinenbaulehre und Kochkunst“ stelle, ist bei aller Kritik angesichts der hermeneutischen Differenzierungen der Orthodoxie doch wohl als überzogen zu betrachten (Troeltsch, Ernst: Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Philipp Melanchthon. Untersuchungen zur Geschichte der altprotestantischen Theologie, Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1891, S. 50).
18 Schleiermacher, Friedrich D. E.: „Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke“. In: id.: Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. v. Hans-Friedrich Traulsen. (KGA Abt. 1: Schriften und Entwürfe 10). de Gruyter: Berlin 1990, S. 351.
19 Als Namen wären hier Jürgen Moltmann, Helmut Gollwitzer, aber auch Johann B. Metz und Dorothee Sölle zu nennen.
20 Cf. z. B. Rendtorff, Trutz: „Reformation oder Revolution? Ein theologischer Beitrag zur politischen Verfassung der Neuzeit“. In: id.: Theorie des Christentums: Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung. Gütersloher Verlagshaus Mohn: Gütersloh 1972.
21 So schon Jüngel, Eberhard: „Zukunft und Hoffnung: Zur politischen Funktion christlicher Theologie“. In: Teichert, Wolfgang (Hrsg.): Müssen Christen Sozialisten sein? Zwischen Glaube und Politik. Lutherisches Verlagshaus: Hamburg 1976, S. 13.
22 Schmitt, Carl: Politische Theologie. Duncker & Humblot: Berlin 20048, S. 43.
23 Rendtorff, S. 69.
24 Loc. cit.
25 Op. cit., S. 73.
26 Politische Theologie ist nach Rendtorff „die pointierte Gestalt des Streits um die Theologie“ (op. cit., S. 77), nicht ein Streit um die gerechte und divinatorisch autorisierte politische Ordnung.
27 Zum Begriff der Vermittlung cf. loc. cit., S. 75.
28 Op. cit., S. 80.
29 Kroll, Thomas: „Der Linksprotestantismus in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er und 1970er Jahre: Helmut Gollwitzer, Dorothee Sölle und Jürgen Moltmann“. In: Kroll, Thomas / Reitz, Tilman (Hrsg.): Intellektuelle in der Bundesrepublik Deutschland: Verschiebungen im politischen Feld der 1960er und 1970er Jahre. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2013, S. 120.
30 Cf. Widmann, Christian A.: „Vom Gespräch zur Aktion? Der ‚christlich-marxistische‘ Dialog und die Politisierung des Protestantismus in den 1960er und 1970er Jahren“. In: Fitschen, Klaus et al. (Hrsg.): Die Politisierung des Protestantismus: Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre. (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B: Darstellungen 52). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 121–149.
31 Cf. Kroll, S. 121 f.
32 1972 erschien die Studie „Die Grenzen des Wachstums“ des 1968 gegründeten Club of Rome, dem 1973 als bisher einziger Organisation der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde.
33 So die Zahlen der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland, cf. http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religionszugehoerigkeit/Religionszugehoerigkeit_Bevoelkerung_1970_2011.pdf [28.05.2016].
34 Vor dem Hintergrund einer sich zwar von tötender Gewalt distanzierenden, sich mit den Zielen aber solidarisierenden Grußadresse von 28 Tübinger Theologiestudenten an den in einer Tübinger Klinik medizinisch betreuten Terroristen Günter Sonnenberg, der des Mordes an Generalbundesanwalt Buback und seinen Begleitern sowie des Mordversuchs an einem bei seiner Festnahme schwer verletzten Polizisten dringend verdächtigt war, hat Eberhard Jüngel 1977 kleinere Texte (Predigten, Vorlesungsnotizen, Vorträge) in einem kleinen, sich rasch verkaufenden Büchlein herausgegeben: Jüngel, Eberhard: Der Wahrheit zum Recht verhelfen, Kreuz: Stuttgart 19772. Entsprechende „Wegweisung“ für die christliche und politische Willensbildung war angesichts der die BRD in Aufregung versetzenden und die politische Kultur herausfordernden Vorgänge um Terrorismus und Radikalenerlass hoch gefragt.
35 Teichert, Wolfgang: „Vorwort“. In: Teichert, S. 9.
36 Den Satz formulierte Grimme 1946, cf. dazu Gollwitzer, Helmut: „Muß ein Christ Sozialist sein? (1972)“. In: id.: Umkehr und Revolution: Aufsätze zu christlichem Glauben und Marxismus Bd. 2. Kaiser: München 1988, S. 10–29.
37 Op. cit., S. 18.
38 Gollwitzer, Helmut: Reich Gottes und Sozialismus bei Karl Barth. (Theologische Existenz heute 169). Kaiser: München 1972, S. 7. Für Gollwitzer bleibt es bei dieser Asymmetrie, dass der Sozialismus Implikat des Evangeliums ist, das Evangelium selbst aber nicht mit dem Sozialismus verwechselt werden darf. Eine wechselseitige Bezogenheit von Sozialismus und Theologie, bei der „Theologie in sozialistischen und Sozialismus in theologischen Verschlüsselungen zur Darstellung gebracht“ werden (so die schöne Formulierung bei Wagner, Falk: “Theologische Gleichschaltung”. In: Dierken, Jörg / Polke, Christian (Hrsg.): Christentum in der Moderne: Ausgewählte Aufsätze. (Dogmatik in der Moderne 9). Mohr Siebeck: Tübingen 2014, S. 195), wie dies Friedrich-Wilhelm Marquardt in seiner 1973 erschienenen und von Gollwitzer betreuten Habilitationsschrift (Marquardt, Friedrich-Wilhelm: Theologie und Sozialismus: Das Beispiel Karl Barths. Kaiser: München 19853) geltend gemacht hatte, findet sich so bei Gollwitzer nicht.
39 Teichert, Wolfgang (Hrsg.): Müssen Christen Sozialisten sein? Zwischen Glaube und Politik. Lutherisches Verlagshaus: Hamburg 1976.
40 Gollwitzer, Helmut: „Auf den linken Pfad geschmeichelt“. In: Teichert, S. 31.
41 Jüngel, Eberhard: „Zukunft und Hoffnung: Zur politischen Funktion christlicher Theologie“. In: Teichert, S. 11–30.
42 Op. cit., S. 18.
43 Op. cit., S. 19. Diese Formulierung und ein analoger Gedankengang finden sich schon bei Gerhard Ebeling, cf. Ebeling, Gerhard: „Die Notwendigkeit des christlichen Gottesdienstes“. In: id.: Wort und Glaube Bd. III: Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie. Mohr: Tübingen 1975, S. 551 f.
44 Jüngel: „Zukunft und Hoffnung“, S. 30.
45 Cf. Ebeling, Gerhard: Luther: Einführung in sein Denken. Mohr: Tübingen 19904, S. 127.
46 Jüngel: „Zukunft und Hoffnung“, S. 21.
47 Op. cit., S. 22.
48 Op. cit., S. 25.
49 Gollwitzer: „Auf den linken Pfad geschmeichelt“, S. 34.
50 Op. cit., S. 36.
51 Jüngel, Eberhard: „Warum gleich mit dem Faß geworfen? Über die Kunst, mit roter Tinte umzugehen“. In: Teichert, S. 42, im Original kursiv.
52 Jüngel: „Wer denkt konkret?“ In: Teichert, S. 111–117.
53 Op. cit., S. 116.
54 Cf. op. cit., S. 117.
55 Gollwitzer, Helmut: „Wo kein Dienst ist, da ist Raub“. In: Teichert, S. 107, cf. auch S. 110.
56 Op. cit., S. 110.
57 Sölle, Dorothee: „Leiden an der Wahrheit ist konkret“. In: Teichert, S. 66.
58 Man denke etwa an Barths Insistieren von 1933 angesichts der Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht zur politischen Lage, sondern zur theologischen Sache zu reden und so „als wäre nichts geschehen – vielleicht in leise erhöhtem Ton, aber ohne direkte Bezugnahmen – Theologie und nur Theologie zu treiben. […] Ich halte dafür, das sei auch eine Stellungnahme, jedenfalls eine kirchenpolitisch und indirekt sogar eine politische Stellungnahme!“ (Barth, Karl: Theologische Existenz heute! Chr. Kaiser Verlag: München 1933, S. 3).
59 Jüngel, Eberhard: „Mit Frieden Staat zu machen: Politische Existenz nach Barmen V (1984)“. In: id.: Indikative der Gnade – Imperative der Freiheit. (Theologische Erörterungen IV). Mohr Siebeck: Tübingen 2000, S. 176.
60 Id. : „Das Salz der Erde: Zum Verhältnis von Christengemeinde und Bürgergemeinde (1979)“. In: id.: Ganz werden. (Theologische Erörterungen V). Mohr Siebeck: Tübingen 2003, S. 158–173.
61 Op. cit., S. 161.
62 Cf. Barth, Karl: „Rechtfertigung und Recht“. In: id.: Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde [u. a.]. Theol. Verl.: Zürich 1998, S. 28 und id., „Christengemeinde und Bürgergemeinde“. In: id.: Rechtfertigung und Recht, S. 50, S. 60.
63 Jüngel, Eberhard: „Das Salz der Erde“. In: id.: Ganz werden, S. 163.
64 Es wäre lohnend, den Zusammenhang von Ekklesiologie, Eschatologie und politischer Ethik nach seinen verschiedenen Optionen, nach den in der Theologiegeschichte vertretenen Gestalten und nach den sich darin zur Geltung bringenden Grundüberzeugungen einmal genauer anzuschauen. Das können wir in dieser kleinen Studie nicht leisten. Hingewiesen sei lediglich darauf, dass dieses von Barth inspirierte Modell in fundamentaler Spannung steht etwa zur Augustinischen Unterscheidung von civitas terrena und civitas Dei, bei der die Kirche die eschatologisch Bestand habende Gemeinschaft darstellt, während die massa perditionis in der ewigen Verdammnis untergeht.
65 Op. cit., S. 167.
66 Jüngel, Eberhard: „Mit Frieden Staat zu machen“. In: id.: Indikative der Gnade – Imperative der Freiheit, S. 182.
67 Ibid., S. 192.
68 Dass Barth diese Affinität erst in Rechtfertigung und Recht und also erst 1938 ausdrücklich ausgesprochen hat, rechtfertigt nach Jüngel nicht die These Friedrich W. Grafs, dass Barth noch zu Beginn der 1930er Jahre „Verfassung, Parlament, Gewaltenteilung, Parteien und Menschenrechte […] für ethisch irrelevant“ gehalten habe (so Graf, Friedrich W.: „ ‚Der Götze wackelt?‘: Erste Überlegungen zu Karl Barths Liberalismuskritik”. Evangelische Theologie 46, 1986, S. 440 f.). Jüngel weist Graf eine doch recht klischeehafte Historisierung einer in der Tat problematischen Barth-Hagiographie nach und verweist (wohl zu Recht) darauf, dass auch diese Historisierung ihrerseits einer historischen Relativierung bedürftig wäre, cf. Jüngel, Eberhard: „Hat der christliche Glaube eine besondere Affinität zur Demokratie?“ In: Wertlose Wahrheit: Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. (Theologische Erörterungen III). Kaiser: München 1990, S. 214 f., Anm.169. Dass sich für die entsprechenden Stichworte kein Eintrag im Register der Ethikvorlesung von 1928/29 finden lässt, ist jedenfalls eine schwache Grundlage für die sehr schroff formulierte These Grafs. Allerdings macht er doch wohl völlig zu Recht auf Formierungsprozesse der Barthschen Theologie aufmerksam, deren Verwickeltheiten in Barths Retrospektiven auf die eigene Entwicklung wie erst recht in solchen seiner Anhänger durch Verweis auf eine unterstellte innere Folgerichtigkeit glatt gebügelt werden und manche Meistererzählungen möglich machen. Jüngel jedenfalls, so die hier vertretene These, geht mit der Vermittlungs- und Analogiefigur einer anthropologisch verstandenen Rechtfertigungslehre deutlich über Barmen V hinaus. Inwieweit dies mit analogen Figuren beim späten Barth zusammenstimmt, muss hier offen bleiben.
69 Jüngel, Eberhard: „Zum Verhältnis von Kirche und Staat nach Karl Barth (1986)“. In: id.: Ganz werden, S. 177.
70 Barth, Karl: Die kirchliche Dogmatik II/1. Theol. Verlag: Zürich 19584, S. 434.
71 Cf. zu diesem Ausdruck in anderem Kontext: Ullrich, Wolfgang: Tiefer hängen: Über den Umgang mit Kunst. Wagenbach: Berlin 20135.
72 Cf. Jüngel, Eberhard: „Von der Dialektik zur Analogie: Die Schule Kierkegaards und der Einspruch Petersons“. In: id.: Barth-Studien. (Ökumenische Theologie 9). Gütersloher Verlagshaus Mohn: Gütersloh 1982, S. 127–179 und id.: „Die Möglichkeit theologischer Anthropologie auf dem Grunde der Analogie: Eine Untersuchung zum Analogieverständnis Karl Barths“. In: op. cit., S. 210–245. Der zweite Beitrag arbeitet wiederum die anthropologischen Implikationen des offenbarungstheologisch bestimmten Analogiebegriffs heraus, die dann auch für Jüngels Bemerkungen zur politischen Ethik zentral werden.
73 Id.: „Die Möglichkeit theologischer Anthropologie auf dem Grunde der Analogie“, S. 216.
74 Barth, Karl: „Rechtfertigung und Recht“. In: id.: Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde [u. a.], S. 43.
75 Barth, Karl: „Christengemeinde und Bürgergemeinde“. In: Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde [u. a.], S. 58.
76 S.o. Anm. 70.
77 Op. cit., S. 75.
78 Loc. cit.
79 Cf. hierzu die seinerzeit viel debattierten, heute eher vergessenen Ausführungen Barths in KD IV/2, als Separatdruck veröffentlicht unter Barth, Karl: Die Ordnung der Gemeinde: Zur dogmatischen Grundlegung des Kirchenrechts. Chr. Kaiser Verlag: München 1955.
80 Cf. Herms, Eilert: „Pluralismus aus Prinzip“. In: id.: Kirche für die Welt: Lage und Aufgabe der evangelischen Kirchen im vereinigten Deutschland. Mohr: Tübingen 1995, S. 467–485.
81 Cf. Jüngel, Eberhard: „Kirche und Staat in der pluralistischen Gesellschaft“. In: id.: Indikative der Gnade – Imperative der Freiheit. (Theologische Erörterungen IV). Mohr Siebeck: Tübingen 2000, S. 296–311.
82 Id.: „Wer denkt konkret?“ In: Teichert, S. 113.
83 Op. cit., S. 116.
84 Id.: „Wertlose Wahrheit: Christliche Wahrheitserfahrung im Streit gegen die ‚Tyrannei der Werte‘ “. In: id.: Wertlose Wahrheit: Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. (Theologische Erörterungen III). Kaiser: München 1990, S. 109.
85 S.o. Anm. 75.
86 Ruddies, Hartmut: Karl Barth und die Liberale Theologie: Fallstudien zu einem theologischen Epochenwechsel. Dissertation: Georg-August-Universität Göttingen, 1994, S. 227.
87 Cf. zu diesem in der neueren Praktischen Theologie breit diskutierten Stichwort z. B. Domsgen, Michael / Schröder, Bernd (Hrsg.): Kommunikation des Evangeliums: Leitbegriff der Praktischen Theologie. (Arbeiten zur praktischen Theologie 57). Evang. Verl.-Anstalt: Leipzig 2014.
88 Gollwitzer, „Auf den linken Pfad geschmeichelt.“ In: Teichert, S. 37.
89 Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass z. B. Fragen der Kirchensteuer und Staatsleistungen in Richtung einer stärkeren Lösung kirchlicher Strukturen aus den Finanzkreisläufen unserer Gesellschaft ein Ausdruck davon sein könnten, inwieweit Kirche Zumutungen an sich selbst umzusetzen bereit ist, bevor diese an andere formuliert werden.
90 Ruddies, S. 226, Hervorhebungen getilgt.