Günter Thomas

Radikaler moralischer Universalismus, begrenzte Verantwortung und partikulare Staatlichkeit

Fragen angesichts der Flüchtlingskrise. Ein Essay1

Abstract This essay takes the European refugee crisis and the corresponding heated public moral market as a prime example to reflect upon a central moral conflict. It suggests that the present debate offers a clash between an absolute, limitless moral universalism with an ethos respecting the legitimacy of particular interests. In this conflict it argues for the recognition of plural, yet limited realms of human responsibility which – at the same time – need to be challenged by universal claims. The essay criticizes the German Churches for losing sight of real limits, for over-stretching the notion of “world-responsibility” and for denying an unavoidable and unsolvable conflict: the universal claim for human rights can only be substantiated in real life in concrete national states built upon particular interests. Against this background, the essay itself pleads for moral realism, which refrains from dissolving the tension between universalism and particular interests to either side.

I. Vorbemerkungen

Im Augenblick lässt sich in der Bundesrepublik Deutschland sehr gut beobachten, was überhitzte moralische Märkte sind. Wie der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann treffsicher feststellte, besteht der Kern moralischer Kommunikation aus der Zuschreibung oder dem Entzug von Achtung. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel versteht es als moralisches Gebot, sich auf keine Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen festlegen zu lassen. Der Papst spricht dem←359 | 360→ republikanischen Präsidentschaftsbewerber Donald Trump das Christsein ab, weil dieser mit einer Mauer gegenüber Mexiko die illegale Immigration in die Vereinigten Staaten verhindern will.2 Die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger beendet ihre Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Januar 2016 mit dem Hinweis, dass es dieses Volk sei, das schwerste Verbrechen über Europa gebracht habe, das nun aber den Flüchtlingen mit so viel Gastfreundschaft begegne.3 Zugleich entziehen Anhänger der einen Partei den Anhängern einer anderen Partei jegliche Achtung, indem sie nicht mit ihnen öffentlich diskutieren wollen.4 Der katholische Bischof Franz-Josef Overbeck fordert, Europa dürfe nicht zu einer Festung werden und entzieht in dieser Frage Andersdenkenden den moralischen Respekt.5

Die 20 Bischöfe der Evangelischen Landeskirchen in Deutschland fordern, die Millionen von Menschen, die von Hunger, Verfolgung und Gewalt bedrückt und auf der Flucht sind, in Europa und insbesondere in Deutschland willkommen zu heißen und aufzunehmen.6 Der katholische Stuttgarter Stadtdekan Christian Hermes sieht sich genötigt, öffentlich zu erklären, welche Partei vor allem hinsichtlich der Flüchtlingsfrage für einen guten Katholiken nicht zu wählen sei.7 Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, vertritt die Auffassung, dass die Festlegung von Obergrenzen für Flüchtlinge unvereinbar sei mit den humanitären Traditionen Deutschlands und Europas und Deutschland sich darum nicht abschotten dürfe.8

Allerdings zeigt ein Blick in die europäische Presse außerhalb Deutschlands, dass nicht wenige politische Akteure einen moralischen Achtungsentzug durch←360 | 361→ eine hypermoralische und moralisch überhebliche Politik Angela Merkels empfinden und diesen Achtungsentzug wiederum umkehren. Offensichtlich wird der deutsche moralische Appell an Europa von anderen Europäern vielfach ganz anders empfunden. Der Achtungsentzug vollzieht sich auch an den rechten Rändern. In Deutschland führt für die völkisch raunenden Retter des christlichen Abendlandes Angela Merkel in einen multikulturellen und multireligiösen Unrechtsstaat. Zugleich erklärt der Finanzminister Wolfgang Schäuble die migrationskritische Partei zu einer „Schande für Deutschland“ und deren Parteipersonal, hinter denen immerhin wohl 10 % der Wähler stehen, für „Dumpfbacken“. Wenig später beklagt sich derselbe über die eher linksorientierte Politisierung der Protestantinnen und Protestanten.9 Die Beispiele offener Achtungszuschreibung und offenen Achtungsentzugs ließen sich fast beliebig vermehren.

Wie kaum ein Konflikt seit der Stationierung der Mittelstreckenraketen in den achtziger Jahren führt die Frage der unbegrenzten Aufnahme von Flüchtlingen zu einer bekenntnishaften moralischen Positionierung und zu ‚therapeutischen‘ und ‚pädagogisierenden‘ Kommentierungen Andersdenkender. Wie selten zuvor beherrschen moralische Präferenzen die öffentlichen Diskussionen, von den Talk-Shows bis zu den Blogs im Internet. Doch worin besteht der Grundkonflikt, der im Augenblick so intensiv ausgetragen wird?10 Wie lässt er sich fassen?

Die in den folgenden Überlegungen entfaltete These ist: Wir erleben gegenwärtig eine Kollision eines radikalen, sich verabsolutierenden, wahrhaft ‚grenzenlosen‘ moralischen Universalismus mit einem Ethos, das die Legitimität partikularer Interessen anerkennt und für die Ausgestaltung mehrerer und doch zugleich endlicher und begrenzter Verantwortungsräume eintritt. Eine humane, entwicklungsoffene Gesellschaft ist aber nur möglich, wenn die Brücke zwischen einem universalistischen Ethos auf der einen Seite und der Anerkennung und Gestaltung partikularer und begrenzter Verantwortungsräume auf der anderen Seite nicht←361 | 362→ abgebrochen wird. Ein verabsolutierter moralischer Universalismus, der diese Brücke abreißt, würde, so die Spitze der These, letztlich funktionierende Staatlichkeit unterminieren. Der Beitrag ist, ganz knapp formuliert, ein Plädoyer für einen moralischen Realismus, der die produktive Spannung zwischen Universalismus und partikularen Verantwortungsräumen weder nach der einen noch der anderen Seite auflöst.11

II. Zwei mögliche Deutungen der moralischen Konfliktkonstellation

A. Gesinnungs- vs. Verantwortungsethik?

Der Streit zwischen den Befürwortern einer sehr weitgehenden, ohne eine Obergrenze operierenden Aufnahme von Flüchtlingen und den eher kritischen Kommentatoren könnte anhand einer Unterscheidung interpretiert werden, die der Soziologe Max Weber in seinem berühmten Vortrag „Politik als Beruf“ im Jahr 1919 eingeführt hat.12 Der so genannte Gesinnungsethiker ist für Weber jemand, der die moralische Qualität seines Handelns primär nach den moralischen Prinzipien und Absichten beurteilt, während der Verantwortungsethiker vornehmlich nach den möglichen Folgen dieses Handelns fragt. Folgt man Webers Unterscheidung, so trifft in der Frage der Begrenzung des Zustroms von Flüchtlingen eine gesinnungsethische Willkommenskultur, im Rahmen derer es keinerlei Begrenzung dieses Zuzugs von Flüchtlingen geben darf, auf verantwortungsethische Skeptiker, die nach den langfristigen Folgen eines unbegrenzten Zustroms für das politische Gemeinwesen der Bundesrepublik fragen. In dieser Zuordnung sind es die Gesinnungsethiker, die den Spielraum des bisher politisch für möglich Gehaltenen erweitern und mit einer neuen Vision für Europa die Idee der Humanität aufrechterhalten. Zugleich sind es die verantwortungsethisch Denkenden, die über die Unmittelbarkeit des Au←362 | 363→genblicks hinaus reflektieren und die wahrscheinlich eintretenden Folgen dieser Migration zu erfassen suchen.

Die analytische Kraft der von Weber vorgeschlagenen idealtypischen Unterscheidung ist auch bei allen Differenzierungszumutungen nicht zu leugnen. Innerhalb des Protestantismus hat sie Strukturähnlichkeiten mit der sogenannten Zwei-Reiche-Lehre. Und doch hat sie ihre Grenzen. Beide Gestalten der Ethik lassen sich nicht wirklich scharf trennen. So ist es die gesinnungsethisch handelnde Kanzlerin, die sich selbst ein hohes Maß an verantwortlichem Handeln unterstellt. Der gesinnungsethisch Handelnde betrachtet sich selbst stets als einen im höchsten Maße verantwortungsvoll handelnden Menschen. Auf der anderen Seite ist es der verantwortungsethisch Denkende, dessen Horizont der Verantwortung durch tragende Gewissheiten und das Wissen um mögliche Gestalten der Zukunft getragen ist. Auch dessen Sorge um das Zusammenleben in einer Gesellschaft ist durch tief greifende Gesinnungen geprägt. Da bei Licht betrachtet sich beide Parteien ein verantwortliches Handeln und letztlich auch gesinnungsethische Grundsätze zuschreiben, führt die Webersche Unterscheidung im aktuellen Konflikt um eine Begrenzung der Zuwanderung nicht zum Grundkonflikt.

B. Erbarmen gegenüber Recht?

Manche kritischen Stimmen gegenüber Angela Merkels Öffnung der Grenzen am 5. September 2015 meinen darin einen offenen Rechtsbruch erkennen zu können. Unabhängig von der sehr komplexen juristischen Frage, ob hier tatsächlich ein Rechtsbruch des sogenannten Dublin-Abkommens vorliegt, unterstellen die Kritiker, dass die Kanzlerin in den Anforderungen des Augenblicks ein Erbarmen über den Buchstaben des Gesetzes gestellt habe. Doch eine solche Interpretation verkennt, dass die Protagonisten offener Grenzen nicht auf ein auf Dauer gestelltes Erbarmen verweisen, sondern auf einen Konflikt von Rechtsgütern. Zweifellos hat die Kanzlerin in einer humanitären Notsituation gehandelt, indem sie die Grenzöffnung für Asylsuchende aus Drittstaaten ohne ein Bundestagsvotum vollzogen und auch ihre europäischen Partner nicht geduldig konsultiert hat.

Aber dies war nicht reine Erbarmenswillkür. So steht auf der einen Seite sicherlich das Abkommen von Dublin, das als eine ganz partikulare EU Regelung den Grenzstaaten die Aufgabe der Bewältigung von Asylanträgen auferlegt. Auf der anderen Seite steht die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ vom 10.12.1948, nach deren Artikel 14 gilt: „Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.“13 Darüber hinaus ist die Bun←363 | 364→desrepublik an das „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ bzw. die „Genfer Flüchtlingskonvention“ vom 28. Juli 1951 gebunden. Die Abwägung der rechtlichen Verpflichtungen wird durch eine Gegenüberstellung von Recht und Erbarmen nur unzureichend erfasst. Vielmehr ist es eine spezifisch moralische Orientierung, die zu dieser Abwägung geführt hat. Darum muss, so die hier vertretene These, der leitende radikale moralische Universalismus ins Auge gefasst werden. Nur dann werden die Konturen des Grundkonfliktes in den deutschen und anderen europäischen Gesellschaften sichtbar.

III. Der Grundkonflikt – radikaler moralischer Universalismus im Gegenüber zu begrenzten Verantwortungsräumen

Die in den folgenden Überlegungen vertretene These ist, dass weder die Webersche Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik noch die Gegenüberstellung von Erbarmen und Recht den gegenwärtig dominierenden moralischen Konflikt angemessen erfassen und reflektieren lassen. Es ist vielmehr die scharfe Gegenüberstellung zwischen einem radikalen moralischen Universalismus und einem Plädoyer für multiple und zugleich begrenzte Verantwortungsräume. Es ist dieser radikale moralische Universalismus, der, wenn er in der Tat konsequent vertreten wird, eine nur in Grenzen funktionierende Staatlichkeit auszuhebeln droht.

Wie lassen sich die Konturen des radikalen ethischen Universalismus genauer erfassen? Aus welchen Quellen speist er sich? Zunächst ist offensichtlich, dass ein konsequent vertretener moralischer Universalismus – gleichgültig, ob es sich um universale Normen, Prinzipien, Werte, Intuitionen oder Interessen handelt – einem offenen Vertreten partikularer Anliegen die moralische Grundlage entzieht. Grundlage dieser Delegitimation partikularer Interessen ist eine Ausrichtung an und Priorisierung von universalistischen Grundsätzen.

Diese Ausrichtung kann sich auf sehr verschiedene Quellen berufen. So geht es in der Frage der Flüchtlinge um eine Anerkennung oder Verletzung von Menschenrechten. Die Frage der Gastlichkeit wird zu einer Frage der Werte Europas, als deren Kern die Menschenwürde begriffen wird. Im christlichen Diskurs ist es die Wahrnehmung der Gottebenbildlichkeit eines jeden Menschen. In einem Jesuanischen Horizont gedacht, begegnet Christus in jedem notleidenden Menschen (Mt 25,31–46). Der radikale moralische Universalismus kann nicht nur in einem spezifisch jüdisch-christlichen Erbarmensethos, sondern auch in einer universalen Sympathie alles Lebens gegründet werden. Es kann ein tief empfindender Humanismus sein, der für eine grenzenlose Solidarität und eine die Nationalstaaten überschreitende Gemeinschaft aller Menschen eintritt. Ebenfalls←364 | 365→ gestützt wird dieser radikale moralische Universalismus durch eine spezifische Kombination des Universalen und des äußerst Partikularen. So ist es in einer eher aktualistischen Wendung die bewegende und verpflichtende Begegnung mit dem einen ganz konkreten Einzelschicksal, das die moralische Vision stützt. Dieses personalistische Begegnungsethos lebt nicht zu einem geringen Anteil von der visuellen Repräsentation der Medien.14

Unstrittig ist: Der radikale moralische Universalismus macht ernst mit der Zuschreibung von Menschenwürde und der Anerkennung von elementaren Menschenrechten. So wie jedem Menschen die Menschenwürde gegeben ist, so kann keinem Menschen, der sich in die Handlungssphäre des Staates bzw. Europas begibt, Unterstützung verweigert werden. So wenig wie sich einzelnen Menschen elementare Menschenrechte absprechen lassen, so wenig lässt sich die Zahl derer, die um Unterstützung und Aufnahme bitten, begrenzen. So wenig wie die Menschenwürde oder die Menschenrechte eine Angelegenheit einer begrenzten Gruppe sind, so wenig lässt sich der Ansturm der Hilfesuchenden prinzipiell begrenzen. Die von den beiden großen Kirchen, von weiten Teilen der Sozialdemokraten, der Grünen und der CDU geteilte Position der Kanzlerin Angela Merkel ist daher von beachtlicher Konsequenz. Sich auf eine Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen festlegen zu lassen hieße, den Menschen oberhalb dieser Obergrenze das ihnen aufgrund ihrer Menschenwürde und der Anerkennung von Menschenrechten Zustehende zu verweigern. Die ‚Einlösung‘ der Menschenrechte darf nicht und kann nicht ‚numerisch‘ begrenzt (Stichwort „Obergrenze“) werden.

In diesem Begründungshorizont ist es auch plausibel, dass letzten Endes utilitaristische Argumentationen nicht handlungsleitend sein können. So dürfen beispielsweise Erwägungen hinsichtlich der demographischen Entwicklung der Bundesrepublik wie auch hinsichtlich der Anforderungen des Arbeitsmarktes kein ausschlaggebendes Gewicht gewinnen. Für ein Denken und Handeln im Horizont einer radikalen moralischen Universalisierung kämen solche Abwägun←365 | 366→gen einer geradezu zynischen Bewertung eines Menschenlebens in Not gleich.15 Nicht umsonst kennt das Asylrecht keine Feststellung einer numerischen Obergrenze, wie sie zum Beispiel für Einwanderungsgesetze, die letztlich utilitaristisch angelegt sind, nicht unüblich ist. Ebensowenig kennt die Genfer Flüchtlingskonvention eine numerische Grenze.

Symptomatisch für diese ethische Frage nach den nicht numerischen, sondern territorialen Grenzen, ist der Streit innerhalb der Partei der Grünen um die Äußerungen des Tübinger Bürgermeisters Boris Palmer. Angesichts der hohen Zahl der Flüchtlinge forderte Palmer nicht nur einen Schutz der europäischen Grenzen, sondern auch einen in der Tat wirksamen Schutz mit Zäunen und bewaffneten Grenzern.16 Unter der Voraussetzung eines radikalen moralischen Universalismus bescheinigt daher Katrin Göring-Eckardt, studierte Theologin und Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, ihrem Parteikollegen: „An der Stelle hat er nicht kapiert, worum es geht und richtig viel Unsinn gesagt“… „Zurzeit ist er idiotisch!“17 Auf dem Parteitag der Grünen im November 2015 richtet sie dann an Palmer öffentlich den Satz: „Ich will, dass du dich an die Spitze stellst und sagst: Ich bin Grüner und ich schaffe das, auch wenn ich noch nicht so genau weiß, wie“.18 Kurz: eine Ablehnung von Flüchtlingen ist letztlich unmenschlich und mit grünen Werten nicht vereinbar. Wer eine politische Steuerung verlangt, tritt letzten Endes die Menschenrechte mit Füßen. Wer in eine solche Richtung denkt, so unterstellen es radikale moralische Universalisten, verfolgt egoistische Interessen, die als nationale Interessen letztlich als ‚nationalistisch‘ gebrandmarkt werden müssen. Denn: Menschenrechte kennen keine Grenzen.

Der radikale moralische Universalismus scheint auch in der Debatte um sichere Herkunftsländer auf. In den politischen Verhandlungen um die Einstufung←366 | 367→ von Marokko als sicherem Herkunftsland wird von einem Teil der Grünen auf die von Amnesty International bemängelte Menschenrechtslage hingewiesen. Würde man allerdings die Kritik der Menschenrechtslage von Amnesty International als Grundlage nehmen, so müsste man angesichts der beklagenswerten aktuellen Menschenrechtslage in einer klaren Konsequenz eines radikalen moralischen Universalismus die Unterscheidung von sicheren und nicht sicheren Herkunftsländern letztlich ganz aufgeben.19

Die EKD ist an diesem Punkt in ihrem radikalen moralischen Universalismus noch konsequenter als die meisten Europapolitiker. So stellt der Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm als Konsens der evangelischen Kirchen in Europa fest: „Humanität und Menschenwürde kennen für uns keine Grenzen.“20 Dass diese Grenzenlosigkeit der Humanität und Menschenwürde nicht nur irgendwie grundsätzlich oder irgendwie metaphorisch so zu denken ist, sondern sich auch auf die territoriale Grenze Europas bezieht, ist unzweideutig ausformuliert in der Stellungnahme des Rates der EKD vom Januar 2016: „Die EKD wendet sich gegen die Vorstellung einer Abschottung Europas. Wir würden unsere eigenen Werte verraten, wenn wir einen solchen Weg gingen. Unser Verantwortungshorizont endet nicht an den eigenen Grenzen.“21 So grenzenlos wie Horizonte sind, so grenzenlos ist die Verantwortung, die sich die EKD selbst bzw. den europäischen Christinnen und Christen zuschreibt.←367 | 368→ Jede Anerkennung einer sachlichen, numerischen, zeitlichen oder auch territorialen Grenze wäre ein Verrat am eigenen radikalen moralischen Universalismus.

Bemerkenswert sind die semantischen Verdichtungen. Die Orientierung an Menschenwürde und Menschenrechten sowie die Betonung von Barmherzigkeit und Gastfreundschaft gegenüber jedem Menschen und damit auch gegenüber jedem Fremden zielen vielfach auf eine Entdifferenzierung vorhandener rechtlicher Unterscheidungen. Die Kritik des Papstes an Donald Trumps geplantem Umgang mit der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko negiert im Kern die juristische Unterscheidung von Asylsuchenden, Bürgerkriegsflüchtlingen und Wirtschaftsmigranten. In ähnlicher Weise spricht die EKD fast durchgehend von Flüchtlingen und die Entscheidungsprozesse der Bundesregierung nehmen wiederum nur einseitig das Instrument des Asylrechts in den Blick. Der Ratsvorsitzende der EKD verweist auf die Gottebenbildlichkeit jedes Menschen und damit auch jedes Flüchtlings, demgegenüber ein Leben in der jüdisch-christlichen Tradition Empathie, mitfühlende Zuwendung und Barmherzigkeit fordern würde.

Gegenläufig zu den juristischen Unterscheidungen ist es im Diskurs der EKD unter Rückgriff auf eine biblische Semantik der sogenannte ‚Fremde‘, dem die helfende Zuwendung gilt. Gott selbst begegnet, so das Argument, im Flüchtling und im Fremden, weil jeder Mensch mit Würde geschaffen wurde zum Ebenbilde Gottes. Natürlich kann eine Relativierung der juristischen Unterscheidungen auch die Tatsache zum Ausgangspunkt nehmen, dass es in vielen Ländern ein Maß an wirtschaftlicher Not gibt, die das Leben der Menschen nachhaltig bedroht. Aus Wirtschaftsflüchtlingen, die das bessere Leben suchen, werden dann Asylsuchende, denen es um ihr Überleben Angesichts politischer Repression geht.22←368 | 369→

IV. Zehn Anfragen an den radikalen moralischen Universalismus in der Flüchtlingsdebatte

Der radikale moralische Universalismus stellt ohne Zweifel ein unaufgebbares und großartiges humanes Erbe der Aufklärung dar. Er nimmt zugleich viele ethische Traditionen des christlichen Glaubens wie auch anderer Religionen auf. Er soll an dieser Stelle darum auch nicht prinzipiell infrage gestellt werden. Befragt werden sollen allerdings die Verabsolutierungen, die nicht mehr die konkrete Ausgestaltung von Verantwortungsräumen sehen wollen. Befragt werden sollen Gestalten des moralischen Universalismus, die ein Bedenken von Grenzen, ein Abwägen von Gütern, ein Ernstnehmen von Partikularität und letztlich Verweise auf Konstellationen des Tragischen mit einem großen Gestus der moralischen Verachtung beiseite schieben. Diese Ausprägungen des radikalen moralischen Universalismus erfahren gegenwärtig, d. h. im Frühjahr des Jahres 2016, im offiziellen kirchlichen und im offiziellen politischen Diskurs eine Hochkonjunktur. An sie müssen die folgenden Fragen gerichtet werden.

1. Eine ethische Anfrage: Gibt es grenzenlose Verantwortung?

Der radikale moralische Universalismus vertritt pointiert eine Grenzenlosigkeit der moralischen Verantwortung und des moralischen Handelns. Nochmals die EKD: „Unser Verantwortungshorizont endet nicht an den eigenen Grenzen.“23

Verantwortungsräume werden in diesen Äußerungen als eigentümlich horizonthaft beschrieben. Im Falle einer horizonthaft grenzenlos gefassten Verantwortung, gibt es nicht nur keine spezifischen Verantwortungsräume, sondern letztlich auch keine Pluralität moralischer Räume. Doch dieser horizonthaften Fassung von Verantwortung liegt ein so bedenklicher wie problematisch folgenreicher Irrtum zu Grunde.

Da Verantwortung stets an die Reichweite eigenen Handelns gebunden werden muss, kann sich Verantwortung immer nur auf begrenzte und letztlich endliche Verantwortungsräume beziehen – wie auch immer ausdehnbar oder kontrahierbar, wie auch immer verhandelbar diese Räume gelebt werden und wer auch immer der handelnde Akteur ist. Eine realistische Praxis von Verantwortung ist an Macht gebunden – und die Grenzen der Macht sind stets die Grenzen der Verantwortung. Um den verantwortlich Handelnden für sein Handeln verantwortlich zu machen, bedarf es gerade einer realistischen Begrenzung dieser Verantwortung. So wäre es gerade die Grenzenlosigkeit der Verantwortung, die diese Verantwortung unspezifisch und flüchtig machen←369 | 370→ würde und so eine tiefe Kluft zwischen moralischem Pathos und konkreter Einlösung der Gestaltungsansprüche aufreißen würde. Darum ist ein realistischer Umgang mit Verantwortungsräumen unausweichlich verbunden mit einer deutlichen Markierung von deren Grenzen und einer klaren Einschätzung der zur Verfügung stehenden Macht. Man könnte auch formulieren: Wer grenzenlos verantwortlich sein will, will grenzenlose Macht.

2. Eine theologische Anfrage: Grenzenlose Weltverantwortung anstelle göttlicher Fürsorge?

Die nachaufklärerische protestantische Theologie und insbesondere die Theologie des 20. Jahrhunderts ist durch eine tiefe Krise der Lehre von Gottes Geschichtshandeln und Vorsehung gekennzeichnet. So wurde die Rede von Gottes Handeln in der Geschichte nicht nur für die Rechtfertigung nationalistischer Chauvinismen missbraucht, sondern auch fraglich angesichts der manifesten Gräuel in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Von einer Providenz im Sinne eines Handelns Gottes in den Details der Geschichte zu sprechen, entspricht auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr den Evidenzen eines religiös aufgeklärten Common Sense christlicher Gesellschaften. Doch dies ist nur eine Seite des Prozesses.

Umgekehrt proportional zur wachsenden Krise einer Hoffnung in Gottes Geschichtshandeln wächst die Zuschreibung bzw. Selbstzuschreibung einer christlichen Weltverantwortung im Raum der Kirche. Nicht Gott ist es, der das Schicksal der Welt in den Händen hält, sondern die Kirche oder im besten Fall die vernünftige und aufgeklärte Menschheit ist es, die als Atlas nicht gleich den Himmel, aber immerhin die Welt auf den Schultern trägt.

Die Fürsorge Gottes wird ersetzt durch die Sorge, das heißt die aktive Selbstsorge und notwendige Weltfürsorge des Menschen.24 Die Weltverantwortung der Kirche, so könnte man theologiegeschichtlich postulieren, ersetzt die Vorsehung und Weltfürsorge Gottes.

Nun soll nicht leichtfertig einer so naiven wie letztlich zynischen Vorstellung eines Willens Gottes in allen Katastrophen der Gegenwart das Wort geredet werden. Es geht auch nicht darum, den Kirchen Europas eine Mischung aus Stoizismus und Quietismus anzudienen. Die Frage ist aber, ob dieser Prozess der Verschiebung der Weltverantwortung zu einer übermäßigen Moralisierung des←370 | 371→ Evangeliums führt, der letztlich eine ‚grenzenlose‘ moralische Überforderung zugrunde liegt. Wer die Weltverantwortung in der Tat als Weltverantwortung ernst nimmt, kann keine Begrenzung der eigenen moralischen Ansprüche dulden und keine partikularen nationalstaatlichen Interessen akzeptieren. Er oder sie kann auch keine Begrenzung der eigenen Macht dulden. Wer Weltverantwortung praktiziert, ist ein moralischer Souverän.

Doch damit wird gerade am Vorabend des Reformationsjubiläums ein ganz wichtiger Impuls der Reformation verspielt: Das eigene moralische Handeln ist nicht nur von der religiösen Selbstfürsorge befreit, sondern es kann auch durch die Einbettung in Gottes umfassendes Fürsorgehandeln mutig das Partikulare und das Fragment wagen. Es wird zur aktiven Partikularität befreit. Weil Weltverantwortung stets scheitern muss, kann konkrete Verantwortung für begrenzte, große oder kleine, ineinander verschachtelte oder ganz schlichte, expandierende oder kontrahierende Handlungsräume übernommen werden. Müsste sich nicht der deutsche Protestantismus in einem Akt radikaler und selbstkritische Ehrlichkeit von dem so anmaßenden wie übergriffigen, so verführerischen wie hypertrophen Begriff der Weltverantwortung verabschieden? Geht es nicht um eine ehrliche Suche nach Gottes Gegenwart im Fragment?

3. Eine geschichtsphilosophische Anfrage: Gibt es Tragik?

Der radikale moralische Universalismus muß sich mit seiner charakteristischen Mischung aus Dringlichkeitspathos und Optimismus fragen lassen, ob es einen Sinn für Tragik in der Geschichte geben kann und darf. Tragik entsteht nicht einfach durch irgendeinen Konflikt moralischer Güter oder Pflichten. Der Begriff bezeichnet vielmehr eine Situation, in der die besten Intentionen und ausgreifendsten moralischen Überzeugungen angesichts der realen Not und der realen Endlichkeit der verschiedenen Ressourcen nicht realisiert werden können.

Ohne gleich mit dem Vorwurf einer tendenziell zynischen Passivität konfrontiert zu werden, muss doch festgehalten werden, dass die manifesten Nöte in den Staaten der arabischen Halbinsel, Nordafrikas und Afghanistans die Aufnahmekapazitäten Europas bei weitem übersteigen. So ist es eine realistische Wahrnehmung der Zahl der Menschen, die nach der Einschätzung der Weltbank in Armut leben und ist es ein realistischer Blick auf die zerfallenden Staaten, die zu einer Anerkennung der Begrenztheit und Endlichkeit eigenen Handelns Anlass geben sollten. Jenseits eines naiven Optimismus und jenseits einer chauvinistischen Begrenzung der moralischen Ansprüche ist der klassische Topos solch unlösbarer Konflikte zwischen moralischer Orientierung und der Begrenztheit der←371 | 372→ Handlungsoptionen eben der des Tragischen.25 Würde eine Anerkennung eines Moments des Tragischen zur Inaktivität verführen oder doch gerade das ehrliche Gespräch über die Möglichkeiten und Grenzen der Ressourcen eröffnen? Auch wenn dies ein ausgreifendes christliches Liebesethos irritieren mag, so ist eine Anerkennung tragischer Grenzen unerlässlich, um einen Verschleiß überzogener moralischer Forderungen zu verhindern.26 Wäre nicht ein ehrlicher Umgang mit den moralischen Ressourcen im weiteren Sinne langfristig auch in der Flüchtlingsfrage förderlicher, weil dieser eben für einen ‚langen Atem‘ im Hilfehandeln unerlässlich ist?

4. Eine diskurstheoretische Anfrage: Wirkt Moral als Konfliktverstärker?

Sind nicht die Anhänger eines radikalen moralischen Universalismus in einem kommunikativen Paradox gefangen? Ohne dass dies so ausgeflaggt wird, befinden wir uns doch im Augenblick in einer offenen Auseinandersetzung um die Gültigkeit verschiedener Theorien gesellschaftlicher Integration. Anhängerinnen und Anhänger einer eher konventionellen Interpretation der Philosophie Emile Durkheims setzen auf eine Integration der Gesellschaft über gemeinsame Werte.27←372 | 373→ Auf der anderen Seite stehen die Erwägungen Niklas Luhmanns zum grundsätzlich konfliktfördernden Potential moralischer Kommunikation.

Was sich gegenwärtig beobachten lässt, ist die Spaltung der Gesellschaft und das Aufheizen von Konflikten eben durch Moral. Wir erleben nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel an moralischer Kommunikation. In Sachen der Moral sind offensichtlich Grundüberzeugungen berührt und – dies ist die Pointe moralischer Kommunikation – keine Kompromisse zu schließen. Formelhafte Bekenntnisse dominieren das Gespräch. Emotionen oder die Unterstellung von emotional geleitetem Handeln prägen die Auseinandersetzung. Klar beobachtbar ist auf allen Seiten ein Prozess der Eskalation, in welchem die eigene moralische Kohärenz und Integrität durch eine Steigerung des Achtungsentzugs gegenüber den anderen bewahrt oder weiter aufgebaut wird. Dies führt zum Paradox, dass dem moralischen Gegner Aufmerksamkeit gewidmet werden muss, die dieser wiederum nur als Bestätigung der eigenen moralischen Position empfinden kann. Da die Anhänger des radikalen moralischen Universalismus am stärksten moralisch argumentieren, wäre zu fragen, ob sie nicht Strategien der Abrüstung oder der Entwaffnung erwägen sollten. Die moralische Hochrüstung scheint einen Diskurs über Sachfragen eher zu verunmöglichen als zu ermöglichen. Moralische Kommunikation droht faktisch und ganz gegenläufig zu den hehren Zielen der Akteurinnen und Akteure zu einer Form von Kommunikationsvermeidungskommunikation zu werden.

5. Die soziologische Frage: Gibt es nicht doch problemschaffende Lösungen?

Könnte es möglich sein, dass die Art und Weise, in der von radikalen moralischen Universalisten in der Flüchtlingskrise auf den Flüchtlingsstrom reagiert wird, selbst Auswirkungen auf den Strom selbst hat? Anders formuliert: Warum vermögen die radikalen moralischen Universalisten nicht Rückkopplungsschleifen zu erkennen, durch die sie zumindest zum Teil das Problem mit schaffen, das sie zu lösen beanspruchen? In Zeiten von Twitter, WhatsApp und Facebook gehen die Selfies mit der Bundeskanzlerin sekundenschnell durch die Welt.28 Mit den Smartphones der Flüchtlinge werden die Bilder der Willkommensschilder in Windeseile auf die Bildschirme der Daheimgebliebenen übertragen. Zu leug←373 | 374→nen, dass diese Bilder nicht auf den Prozess rückwirken, wäre töricht. Und, so moralisch abgründig es ist: Mit jedem Schiffbrüchigen, der aus dem Mittelmeer gerettet wird, steigt offensichtlich die Risikobereitschaft der Schlepperbanden.29 Abzustreiten, dass diese Handlungen den Flüchtlingsstrom verstärken, hieße zu leugnen, dass soziale Prozesse Rückkopplungsschleifen kennen und nicht-intendierte, aber dennoch verlässlich erwartbare Effekte provozieren können.

Das Problem der Verstärkung der Risikobereitschaft der Schlepperbanden durch die Rettung von Menschen in Seenot zeigt auch, dass die nicht intendierten Effekte natürlich nicht zur Einstellung des Rettungshandelns führen dürfen! Nur: Die vielfach geforderten sogenannten ‚sicheren Flüchtlingswege‘ würde die Bereitschaft zur Flucht bei vielen Menschen dramatisch, d. h. handlungsmotivierend, steigen lassen.

Letztlich wäre schon viel gewonnen, wenn es zu einer offenen Anerkennung und Diskussion ‚problemschaffender Lösungen‘ kommen könnte. Doch die Wahrheit und unmittelbare Gewissheit, die radikale moralische Universalisten für sich beanspruchen, scheint, so die gegenwärtige Debattenlage, differenzierte und selbstrelativierende Formen der Selbstbeobachtung auszuschließen.30

6. Eine juristische Anfrage: Sind alle einfach ‚Fremde‘?

Führt nicht das Unterlaufen einer klaren juridischen Unterscheidung zwischen Asylsuchenden, Bürgerkriegsflüchtlingen und Wirtschaftsmigranten zu schwerwiegenden menschenrechtlichen Verzerrungen? Dies scheint zumindest die Fokussierung politischen Handelns auf das Asylrecht und die eigentümliche Debatte um Integration zu zeigen. Integration kann in der Tat gefordert werden von Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen Bürgerinnen und Bürger eines anderen Landes und damit Teil von deren Kultur und Wertesystem werden wollen. Die massive Forderung nach Integration ist allerdings völlig deplatziert im Kontext von Asyl, da die Gewährung von Asyl in der Situation einer elementaren Bedrohung von Leib und Leben radikale Gastfreundschaft beinhaltet und d. h.←374 | 375→ gerade nicht konditional erfolgt. Von beidem wiederum ist zu unterscheiden das Gastrecht, das temporär befristet Kriegsflüchtlingen gewährt wird und damit offensichtlich wieder andere, d. h. deutlich niederschwelligere Anforderungen an eine Integration impliziert. Kurz: Führt nicht die Abblendung der klassischen juristischen Unterscheidungen letztlich zu einem Verlust an Klarheit, die den Nöten der Menschen doch auch sehr entgegenkommen würde? Führt nicht auf Seiten der Politik eine immer restriktivere Handhabung der Asylproblematik in eine Sackgasse? Gilt es nicht ein liberales Asylrecht zu bewahren durch ein klareres Ausinseln von Wirtschaftsflüchtlingen, die eigentlich risikobereite Wirtschaftsentrepreneure sind, d. h. die nicht die Rettung vor Verfolgung, sondern die Verbesserung ihres Lebens treibt?31

7. Eine politisch-theologische Frage: Wozu führt eine Moralisierung der Politik?

Was sich in der Flüchtlingsfrage sehr gut beobachten lässt, ist eine Moralisierung der politischen Sphäre. So argumentieren nicht nur politische Akteure moralisch, sondern drängen moralische Akteure verstärkt in den öffentlichen Raum der Politik. Man kann das Agieren der Vertreter der EKD als eine reale Performanz Öffentlicher Theologie begreifen. Moralische Kommunikation soll politisches Handeln mobilisieren und orientieren. An dieser Stelle ist aber zu fragen, ob die Moralisierung der öffentlichen Sphäre im Vorfeld der Politik und der Politik selbst wirklich ein die Politik voranbringender Prozess ist. Wäre es nicht ehrlicher, häufiger ganz offen von Interessen zu sprechen? Selbstverständlich können und müssen auch Interessen auf ihre moralische Legitimität befragt werden. Dennoch←375 | 376→ würde das Offenlegen von Interessen verhindern, dass die machtvolle Durchsetzung von Interessen moralisch kaschiert wird.32

Eine Umstellung von Moral auf Interessen hätte zweifellos den Vorzug, dass politische Formen des offenen Interessenausgleichs gesucht werden können. Moral und die Berufung auf Werte kennt keine Kompromisse, aber Interessen kennen den Deal. In diesem Sinne ist es eine problematische Grenzlage, dass sie politische Prozesse nicht orientiert, sondern blockiert oder gar zerstört.33 Die Kompromisslosigkeit der moralischen Überzeugung kann nur auf die Überzeugung oder aber auch die Überwältigung des Anderen zielen. Daher führt die Moralisierung der Politik stets zu deren konfliktreichen Dramatisierung. Jegliche Form der Öffentlichen Theologie, die ein sozialethisches Engagement der Kirche im zivilgesellschaftlichen (Vor)-Raum der Politik anstrebt, steht daher vor der Herausforderung, sich auf nicht-intendierte Effekte ihres moralischen Handelns einzustellen. Sie könnte Politik mehr beschädigen als zu helfen, sie human zu gestalten. Sie könnte auf Seiten des Protestantismus einen neuen religiösen Paternalismus etablieren.34←376 | 377→

8. Eine anthropologische Frage: Sind alles nur Opfer?

Der radikale moralische Universalismus muss den gesamten Flüchtlingsdiskurs auf die Opferposition der Flüchtlinge justieren. Dies führt zu einer auf Hilfe zugespitzten moralischen Dramatisierung, in der alle Menschen, die kommen wollen, direkt oder indirekt Opfer von Gewalt, Entbehrung und Todesbedrohung sind. Darin kann sich eine hohe moralische Sensibilisierung dokumentieren. Aber diese Fokussierung und Dramatisierung führt wiederum zu einer Idealisierung der Perspektive auf die Flüchtlinge wie auch zu einer Idealisierung der Perspektive auf die Helfer. Es kommt schlicht zu einer Entdifferenzierung der Problemwahrnehmung.

Diese moralisch-kognitive Rahmung der Situation hat angesichts der Schicksale vieler Flüchtlinge zweifellos grundsätzlich ihr Recht. Und doch ist zu fragen, ob nicht eine realistische christliche Anthropologie von vornherein die Augen öffnen würde für das breite Interessenspektrum auf Seiten der Flüchtlinge und nicht zuletzt auch der Helfer. Müsste nicht eine realistische Anthropologie einen Ministerpräsident Stanislaw Tillich angesichts eines zynischen Mops mit Bedauern und Zorn sagen lassen: „Ja, auch dies sind abgründige und äußerst betrübliche Möglichkeiten des Menschseins – und eben darum müssen wir intensiv gegen sie angehen“?35 Müsste nicht eine realistische Anthropologie die Ambivalenzen auf Seiten der Helferinnen und Helfer sehen lassen – ihre Hingabe, ihren Idealismus, ihren Elan, ihre Ohnmacht, ihre Egoismen und ihre wirtschaftlichen Interessen? Warum müssen sich die Menschen von dem großen Flüchtlingshelfer Rupert Neudeck sagen lassen, dass Flüchtlinge von dem Menschenrecht zu lügen Gebrauch machen?36 Eine differenzierte theologische Anthropologie sollte←377 | 378→ verhindern, Sorgen von Menschen, die als Sorge ohne Zweifel selbst wieder dramatisiert und oft auch politisch missbraucht werden können, als „kleingläubig“ (Bedford-Strohm) oder „Unsinn“ (Margot Käßmann) abzutun. Wäre eine solche, das Wissen um das Herz des Menschen einbringende Anthropologie für die öffentliche Debatte, langfristig gedacht, nicht viel förderlicher als eine moralische Idealisierung von Opfern und Helfern? Wenn die Opferidealisierung, wie nach den Ereignissen der Silvesternacht 2015 in Köln, Risse bekommt, so droht die moralische Unterstützung zu erodieren.37 Oder aber, auch dies läßt sich an manchen Reaktionen auf diese Silvesternacht studieren, eine moralische Idealisierung verbietet schon eine realistische Wahrnehmung der Situation. Je weiter die Idealisierung vorangetrieben wird, umso riskanter wird sie und umso kontrafaktischer muss sie geschützt werden.

Die ganz und gar nicht moralisch idealisierende Jesuanische Zuwendung zu Sündern und Exklusionsopfern, zu Armen und Gewalttätern, ja die immer noch erschreckende ‚moralische Gleichgültigkeit‘ in der Zuwendung sollte die Kirchen aus den gefährlichen Dynamiken der Opferidealisierung befreien. Führt dies zu einer pessimistischeren politischen Haltung? Dies muss nicht sein. Aber eine realistischere Anthropologie könnte ganz konstruktiv zu einer dringend benötigten Verstärkung von einer sich langfristig ausmünzenden ‚Enttäuschungsresistenz‘ beitragen.

9. Eine politische Frage: Wird eine Unterminierung von Staatlichkeit riskiert?

Geordnete Staatlichkeit beruht auf vielfältigen Voraussetzungen. Im modernen Verfassungsstaat besteht eine dieser Voraussetzungen in einem unlösbaren Konflikt, oder anders formuliert, in einer schöpferischen Spannungslage. So ist eine moderne und demokratische Verfassung auf den universalen Prinzipien der Menschenwürde und der Menschenrechte gegründet. Doch zugleich ist es die Verfassung eines Nationalstaates, der diese universalen Werte bzw. Rechte nur im Rahmen nationalstaatlicher Grenzen für seine eigenen Bürger und Bürgerinnen garantiert und innerhalb des nationalen Rahmens das mit diesen Rechten verbundene Versprechen einlöst. Nur im Rahmen ganz partikularer Institutionen können die universalen Rechte praktisch anerkannt werden. Nur im partikularen Rahmen können die universalen Ideale mit Leben gefüllt werden. In eine Ver←378 | 379→fassung eines Staates ist somit eine nicht aufhebbare Spannungslage zwischen der Universalität der moralischen Orientierung und der Partikularität und in pointiertem Sinne Begrenztheit staatlichen Handelns tief eingeschrieben.38

Staatlichkeit besteht aus einer hoch selektiven und das heißt begrenzten Zuschreibung von Rechten und Pflichten. Bei dem staatlichen Grenzmanagement handelt es sich darum nicht nur, aber auch, um geographische Grenzen.39 Auch innerstaatlich ist die kriteriengeleitete Zuweisung von Ressourcen stets selektiv und erfordert eben darum auf allen Seiten ein hohes Maß an Vertrauen in geordnete Staatlichkeit als praktizierte Selektivität. Innerhalb von geographischen (nationalstaatlichen) Grenzen werden für eine begrenzte Anzahl von Mitgliedern bzw. Bürgern (in diversen Abstufungen) begrenzte Ressourcen (Haushalte) verwaltet und Pflichten zugeschrieben. Jede Organisation von Staatlichkeit beruht auf Organisationen, die notwendig zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern←379 | 380→ unterscheiden müssen. Darum ist jede Organisation notwendig selektiv, einschließend und ausschließen, d. h. notwendig diskriminierend, im eigentlichen Sinne des Wortes.

Wer die Notwendigkeit von Grenzen und damit verbunden von gesteuerter Selektivität grundsätzlich in Zweifel zieht, will offensichtlich nicht begreifen, was Staatlichkeit ist. In offensichtlicher Ermangelung eines Welt-Staates ist auch ein Welt-Bürgertum eine regulative Idee – aber eben auch nicht mehr. Darum muss an alle Kritiker und Kritikerinnen einer ‚Festung Europa‘ die Frage gerichtet werden: Was wäre denn die Alternative? Festungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie selbst regulieren, wer drinnen und wer draußen ist und – wer hereinkommt. Selbst die Metaphorik der Gastlichkeit impliziert ganz analog zur Festung, dass der Gastgeber über die Zahl und Gegenwart der Gäste entscheidet. Die Vorstellung, ein Staat solle in der Tat alle Gäste aufnehmen, die selbst (aus unstrittig guten Gründen) der Auffassung sind, Gäste sein zu wollen und zu müssen, mag moralisch vertretbar und wünschenswert sein, ist aber politisch schlicht verantwortungslos.

Diese komplexe Organisation von Staatlichkeit kennt nicht nur viele Gestalten notwendiger Grenzen, sondern auch eine Vielzahl ineinander verschachtelter, aber letztlich endlich begrenzter Verantwortungsräume, die ihre je eigenen moralischen Erwartungen und rechtlichen Regelungen kennen – familiale, berufliche und politische Verantwortungsräume, die von lokalen bis zu transnationalen Räumen reichen. Dabei müssen in allen Verantwortungsräumen, sei es die Familie, die Firma, der Verband, die Partei oder der Verein, partikulare Interessen vertreten werden, die verhandelt, ausbalanciert, zurückgestellt oder durchgesetzt werden können. Dass beispielsweise der Nationalstaat nicht nationale Interessen offensiv vertreten darf, mag einigen Phasen der deutschen Geschichte geschuldet sein, löst aber auf internationalem Terrain eher Kopfschütteln aus.40 Es überspielt auch das Faktum, dass der Nationalstaat vor aller religiösen Überhöhung u. a. auch Manifestation einer Freiheitsgeschichte ist.41 Innerhalb stets partikularer und begrenzter Verantwortungsräume gibt es auch in der Situation einer Flüchtlingskrise moralisch legitime Partikularinteressen, die ein Staat, eine Kommune,←380 | 381→ eine Schule oder eine Familie vertreten kann.42 Der wirklich konsequente und kompromisslose moralische Universalist muss die Existenz solcher dauerhaft konkurrierender Verantwortungsräume leugnen – ist er doch jedem Fremden gegenüber genauso grenzenlos verantwortlich wie beispielsweise gegenüber den eigenen Eltern oder den eigenen Kindern. Dass der wirklich kompromisslose Universalist die Abwägungen von verschieden lokalisierten Zielen, Gütern, Rechten und Pflichten nicht anerkennt, im realen Leben aber irgendwie doch leisten muss, macht die Lebensuntauglichkeit und Doppelbödigkeit dieser radikalen Position aus.

Man muss die klare Konsequenz ins Auge fassen: Ein radikaler moralischer Universalist, der für sich pointiert die Grenzenlosigkeit der Verantwortung reklamiert (z. B. prinzipiell keine Obergrenze bei der Zahl aufzunehmender Flüchtlinge zu denken erlaubt, d. h. die numerische Grenzenlosigkeit der Einlösung von Menschenrechten vertritt) und jeglicher Verfolgung von partikularen nationalstaatlichen Interessen die moralische Grundlage entzieht, zielt letztlich gewollt oder ungewollt auf eine Unterminierung geordneter Staatlichkeit. Die bittere Ironie der Geschichte dürfte darin bestehen, dass er oder sie diese Zerstörung in Kauf zu nehmen bereit ist gerade zugunsten von Menschen, die aus sogenannten gescheiterten Staaten kommen und auf eine nationalstaatliche Einlösung des Versprechens der Menschenwürde hoffen. In der letzten Zuspitzung hat ein kompromissloser moralischer Universalismus gegenüber einer geordneten Staatlichkeit einen parasitären Charakter – weil eben die Einlösung von Menschenrechten und der Menschenwürde nur in eben solchen nationalstaatlichen Verantwortungsräumen sich vollzieht.

10. Die moralische Anfrage: Wie unmoralisch ist der moralische Universalismus?

Akteure moralischer Kommunikation können selbst wieder in einem Akt der Beobachtung zweiter Ordnung moralisch beobachtet werden. Beobachtet man nun die moralische Kommunikation radikaler moralischer Universalisten, so kann man Fragen: Was berechtigt diesen Habitus einer rechtschaffenen moralischen Überlegenheit? Was erzeugt solche Zonen einer solchermaßen selbstzweifelsfreien moralischen Gewissheit? Sehen die Akteure, wie viel Verachtung bzw. Ach←381 | 382→tungsentzug sie gegenüber Dissidenten aufbringen?43 Diese offen zur Schau getragene Selbstgerechtigkeit erzeugt eine moralische Wagenburgmentalität, die nicht umsonst Kommunikationsabbrüche androht und vollzieht.44

Mit Blick auf die Konsequenz nicht der Haltung, sondern der realen Handlungen kann man es begrüßen oder auch zugleich kritisieren, dass der moralische Universalismus früher oder später in eine Doppelmoral rutscht oder zu manifesten Inkonsistenzen führt. So verlangen die Kirchen der EKD von der Politik die Verleugnung partikularer nationaler politischer Interessen, während sie selbst für die Bewältigung der Flüchtlingskrise – neben dem herausragenden Engagement zehntausender Freiwilliger und einem beachtlichen finanziellen Engagement – zum Beispiel noch keine Pfarrer-Rentenkasse als Manifestation eines realen fürsorglichen Partikularinteresses und eines spezifischen Verantwortungsraumes←382 | 383→ aufgelöst haben. So verlangen Politiker und Politikerinnen eine Politik von mehr oder weniger bedingungslos offenen Grenzen und leben doch im Rahmen eines Staatsapparates, der nur auf der Basis von Strategien eines vernünftigen partikularen Selbsterhaltungsinteresses funktionieren kann.

Gewinnt nicht die radikal moralisch universalistische Politik der Bundesregierung kafkaeske Züge, wenn die reine moralische Überzeugung (keine Obergrenzen) in der nationalen Politik einhergeht mit einer Politik, die mit Milliarden Euro einen demokratie- und rechtsstaatsfeindlichen Autokraten wie Recep Tayyip Erdoğan für die schmutzige Arbeit anheuert, vor den Toren Griechenlands für einen Rückgang der Flüchtlingszahlen zu sorgen? Warum ist die Abweisung von Flüchtlingen in der Türkei moralisch edler als die Abweisung an deutschen Grenzen? Wie überzeugend ist der Gestus der Entrüstung (bei den Grünen und anderswo) gegenüber denjenigen, die eine robuste und im Zweifelsfall bewaffnete Grenzsicherung fordern, wenn wenige Wochen später NATO-Schiffe zur Abschreckung in die Gewässer zwischen Türkei und Griechenland geschickt werden? Und man muss hinzufügen: in türkische (!) Hoheitsgewässer außerhalb Europas, um sich so der Rechtspflicht zu entbinden, möglichen Schiffsbrüchigen die Stellung eines Asylantrags einräumen zu müssen. Wie zynisch ist eine Politik, die an der Ablehnung einer Obergrenze nur deshalb festhalten kann, weil die Länder entlang der sogenannten Balkanroute ihre Grenzen schließen, was von derselben Bundesregierung wiederum heftig kritisiert, und d. h. moralisch geächtet wird? Ist dies eine Doppelmoral, ein feiger Umgang mit den politischen Realitäten oder einfach Pragmatismus?

Betrachtet man die Zustimmung der Evangelischen Kirchen und das Agieren der Bundesregierung angesichts des sogenannten ‚Türkeideals‘ so scheinen sich zwei Interpretationen anzubieten: 1. Radikaler moralischer Universalismus kann oder will eine machtbewusste Interessenspolitik schlicht nicht wahrnehmen, nicht ‚lesen‘ und nicht verarbeiten. 2. Der radikale moralische Universalismus ‚nach innen‘ kann aber, so die Politik der Bundesregierung, durchaus mit einer wertfreien und interessensorientierten Politik ‚nach außen‘ einhergehen.45

Bei aller Doppelbödigkeit der Politik der Bundesregierung stehen die Kirchen vor einer besonderen Herausforderung. Religiös formuliert: Muss nicht der ra←383 | 384→dikale moralische Universalist schlicht und grenzenlos den Jesuanischen Rat an den reichen Jüngling (Mt 19,16–26; Mk 10,17–27; Lk 18,18–27) beherzigen, da er sonst jeglicher moralischen Grundlage für den eigenen Überlegenheitshabitus gegenüber einer Wahrnehmung, Verhandlung und Durchsetzung partikularer Interessen entbehrt? An diesem Punkt verstricken sich alle radikalen moralischen Universalisten in performative Widersprüche. Sie leben in und von begrenzten Verantwortungsräumen, die sie selbst nicht in dieser Begrenzung gestalten wollen. Sie leben von den Entscheidungen derer, die sie kritisieren. Darum gilt die Erinnerung von Di Fabio: Auch die Christen brauchen den Staat, sollten ihn mögen und achten, denn sie benötigen „verlässliche Institutionen“.46 Zu diesem zu akzeptierenden Eigenrecht des Staates gehört für ihn als Jurist auch das Recht des Staates auf Außengrenzen und deren Sicherung.47 In einer Abwandlung des sogenannten Böckenförde-Theorems könnte man formulieren: Die radikalen moralischen Universalisten leben von Bedingungen partikularer Staatlichkeit, die sie selbst nicht bereit sind aufzubauen, zu pflegen, zu verteidigen und zu erhalten.

V. Und nun?

Für die kommenden Jahre wird die Einsicht zu beherzigen sein, dass die Sphäre der Politik nicht die der Kommunikation moralischer Überzeugungen ist, sondern die einer fairen und friedlichen Verhandlung divergierender Interessen – ohne dass diese Interessen vorschnell moralisch bewertet werden. Die Wahrnehmung von komplexen Interessenslagen, von moralischen Konfliktlagen und Ambivalenzen, die Notwendigkeit von Güterabwägungen, die ehrliche Verhandlung von unausgesprochenen Interessen, all diese Prozesse erfordern nicht eine moralische Dramatisierung, sondern schlicht moralischen Realismus.

Jenseits von Maximalforderungen lassen sich dann politische Möglichkeitsspielräume aushandeln und hoffentlich offen und mutig auch erweitern. Gerade die Bewahrung eines wahrhaft humanen Asylrechts dürfte nur durch die gleich←384 | 385→zeitige Bewahrung von Differenzierungsgewinnen möglich sein. Hierzu gehört auch die Anerkennung der durchaus gemischten Interessenlagen von Flüchtlingen. Ein realistischer und ehrlicher Umgang mit den endlichen finanziellen, personellen, motivationalen und nicht zuletzt auch kulturellen Ressourcen dürfte nur durch eine Anerkennung eines Moments des Tragischen möglich sein. Dies betrifft auch den fragwürdigen Begriff der Weltverantwortung, der offensichtlich nicht nur zu einer Überschätzung der eigenen Handlungsmöglichkeiten zu verführen vermag, sondern auch die Endlichkeit von Verantwortungsräumen und die Grenzen von Macht nicht anerkennen lässt. Die christliche Hoffnung, die an diesem Punkt eines Leidens an der Endlichkeit die Form von Klage als religiösen Protest gewinnt, dürfte dann für die Fürsorge in der Gegenwart ein Profil gewinnen, wenn sie in der Tat die begrenzten menschlichen Handlungsräume zu übergreifen vermag. Dies ist keine billige Vertröstung, sondern der Verweis auf Möglichkeiten, für die Nachhaltigkeit von Hilfehandeln an ganz realen und selbst moralisch ambivalenten Menschen zu sorgen. Die von Christen geforderte Treue zu dieser Erde kann nur im Rahmen eines solchen moralischen Realismus Prägnanz und Nachhaltigkeit gewinnen – ohne die politische Sphäre durch eine Moralisierung zu zerrütten.

Erst die Anerkennung der moralischen Legitimität partikularer Interessen eröffnet, stabilisiert und gestaltet den institutionellen Rahmen, in dem eine praktische und effektive Einlösung des Versprechens der Menschenwürde mittel- bis langfristig angegangen werden kann. Dies wird nicht möglich sein, wenn sich die Gesellschaft in unerbittlichen moralischen Gefechten verheddert, in denen sich die moralischen Akteure mit einem Heroenpathos an ihrer eigenen Kompromisslosigkeit berauschen. Christinnen und Christen „erinnern“ mit ihren ausgreifenden moralischen Orientierungen zu Recht „an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit“ und befördern doch zugleich ein Handeln „nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens“.48←385 | 386→

Die Brücke zwischen einem universalistischen Ethos und den Anforderungen realer Endlichkeit und partikularen Interessen darf nicht abgebrochen werden – weder von der einen noch von der anderen Seite her. In diesem Spannungsverhältnis wird über eine Verbesserung des Lebens von Menschen so verhandelt, dass beides, moralischer Größenwahn und nationaler Chauvinismus vermieden werden. Diese Brücke hält Realismus und Vision in einem so ehrlichen wie produktiv-spannungsreichen Verhältnis zueinander. ←386 | 387→


1 Dieses Essay wurde zwischen dem 21.2 und 20.3. 2016 in den USA geschrieben. Der liberale Chicagoer Kontext bot die Chance, zu erkennen, wie eigentümlich verschoben, ja wie in einem gewissen Sinne national ‚verrückt‘ das dominierende veröffentlichte Meinungsspektrum in der BRD zu diesem Zeitpunkt war bzw. noch immer ist – gegenläufig zu den Selbstansprüchen vieler Beteiligter. Es gelang mir trotz vieler Gespräche innerhalb von vier Wochen nicht, selbst unter sogenannten ‚linken‘ Demokraten auch nur eine einzige Person zu finden, die die Flüchtlingspolitik ‚ohne Obergrenze‘ befürwortete.

2 http://www.zeit.de/video/2016-02/4763783826001/papst-franziskus-donald-trump-ist-kein-christ: „Ich sage nur: Wenn er solche Dinge sagt, dann ist dieser Mann kein Christ.“

3 https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw04-gedenkstunde-rede-klueger/403436.

4 http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/spd-und-gruene-in-baden-wuerttemberg-wollen-nicht-mit-der-afd-diskutieren-14004573.html.

5 „Die Europäische Union darf nicht zur Festung werden – weder in ihrer Grenzsicherung, noch im Herzen ihrer Bürgerinnen und Bürger“. https://www.ekd.de/aktuell_presse/news_2015_12_08_1_empfang_bruessel_dutzmann.html.

6 https://www.ekd.de/presse/pm157_2015_gemeinsame_erklaerung_zur_fluechtlingssituation.html.

7 http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.politisches-statement-vor-der-landtagswahl-stadtdekan-hermes-afd-schuert-hass.0f061e73-7ee9-4d43-ba12-577aedcc9600.html.

8 http://de.sott.net/article/21493-EKD-Ratsvorsitzender-Obergrenze-fur-Fluchtlinge-ist-mit-humanitaren-Traditionen-Deutschlands-und-Europas-unvereinbar. Diese Position wurde noch einmal verstärkt in der offiziellen Erklärung der EKD.

9 Wolfgang Schäuble: „Das Reformationsjubiläum 2017 und die Politik in Deutschland und Europa“. Pastoraltheologie 105 (1), 2016, S. 44–53.

10 An dieser Stelle muss die ekklesiologisch-amtstheologische Frage ausgeklammert werden, aufgrund welcher Autorität die evangelischen Bischöfe und vor allem der Ratsvorsitzende der EKD sprechen – gibt es doch in den Evangelischen Kirchen kein moralisches Lehramt. Mit Gründen zu vermuten ist, dass in einem Prozess der Mediatisierung, in welchem die Kirche die Erwartung der Medien verarbeitet, die eher private Meinung des evangelischen Bischofs zur moralischen Repräsentation der Kirche wird – ein Prozess der auch als Katholisierung gelesen werden könnte. Zivilgesellschaftlich fungiert die Kirche dann als Moralagentur, deren Unternehmensführung ‚spricht‘.

11 Darum soll an dieser Stelle nicht eine Neuauflage der Kritik Arnold Gehlens an der universalistischen Hypermoral vorgelegt werden. Dieser wollte letztlich die hier im Zentrum stehende Spannungslage auf seine Weise einseitig in Richtung partikularer Interessen auflösen. Siehe Arnold Gehlen: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. Frankfurt a. M.: Athenäum 1969.

12 So exemplarisch der Wiener Theologe Ulrich H. J. Körtner. Siehe http://religion.orf.at/radio/stories/2737354/ und Ulrich. H. J. Körtner: „Die Kirchen und die Flüchtlingsfrage“. Zeitzeichen (2), 2016, S. 8–10. Für die Webersche Unterscheidung siehe Max Weber: Wissenschaft als Beruf 1917–1919, Politik als Beruf 1919. Tübingen: Mohr 1994, S. 35–88.

13 http://www.ohchr.org/EN/UDHR/Pages/Language.aspx?LangID=ger.

14 Siehe hierzu die Prämierung der Bilder des Jahres durch UNICEF, http://www.heute.de/unicef-ehrt-bilder-des-jahres-und-stellt-fluechtlingsdrama-in-den-mittelpunkt-41498664.html. Dass Typiken der visuellen Repräsentation mit moralischen Typiken in einem prekären Resonanzverhältnis stehen, zeigt die intensive Debatte um die Bebilderung der Flüchtlingsströme vornehmlich mit Frauen und Kindern, während doch die überwiegende Anzahl der Flüchtlinge Männer zwischen 25 und 45 sind. Zum Problem der visuellen Ikonographie siehe Paul Frosh: The image factory. Consumer culture, photography and the visual content industry. Oxford / New York: Berg 2003; Lilie Chouliaraki: The spectatorship of suffering. London / Thousand Oaks, Calif.: Sage 2006.

15 Eine solche Güter- und Interessensabwägung ist allerdings der Kern eines Einwanderungsgesetzes, das hilft, die Aushandlung der Interessen des aufnehmenden Staates und die Interessen des Einwanderungswilligen zu regeln. Insofern operieren Einwanderungsgesetze weitgehend moralfrei und auf beiden Seiten (sic!) interessensgesteuert. Problematisch sind Grenzlagen, in denen aus der lebensbedrohenden wirtschaftlichen Not gewissermaßen ein Recht zur Einwanderung erwächst. Wie auch immer man diese Schwelle justiert, dann wird aus einem Wirtschaftsmigranten ein asylsuchender Flüchtling, der sein Leben retten möchte.

16 Exemplarisch http://www.Typiken.de/politik/deutschland/buendnis-90-die-gruenen-boris-palmer-will-mehr-fluechtlinge-abweisen-a-107710.

17 http://www.finanznachrichten.de/nachrichten-2016-02/36532446-katrin-goering-eckardt-ueber-boris-palmer-zurzeit-ist-er-idiotisch-007.htm und http://www.welt.de/152488215.

18 https://www.tagesschau.de/inland/parteitag-gruene-105.html.

19 Natürlich haben sich die christdemokratischen und christsozialen Kräfte dieses Problem auch selbst mitgeschaffen. Die langjährige Verweigerung der Einsicht, dass die BRD ein Einwanderungsland ist und sein wird und das entsprechende Versäumnis, ein Einwanderungsgesetz auf dem Weg zu bringen, hat nicht unwesentlich zu den gegenwärtigen Verwirrungen beigetragen. Die Beantwortung der schwierigen Frage, wie denn das Profil der Menschen zu beschreiben sei, die für die Zukunft Deutschlands zur Einwanderung eingeladen werden sollen, wurde so vermieden.

20 https://www.ekd.de/synode2015_bremen/media/video/20151108_ratsbericht.html. Die EKD sieht faktisch, dass die Zurückweisung nationalstaatlicher Grenzen und eine Betonung der Grenzen der Europäischen Union die Problematik staatlicher Grenzen nur verschiebt. Darum darf ein radikaler moralischer Universalismus letztlich auch die Grenzen Europas nicht als ausschließende Grenzen anerkennen. Die Grenzziehung ‚Europa‘ ist in diesem Denkrahmen selbst willkürlich und theologisch-moralisch wie auch menschenrechtlich nicht zu rechtfertigen. Dass sich der Ratsvorsitzende dann allerdings gegen einen Kurs der Renationalisierung von Europa ausspricht, verwundert. Es ist doch die Nationenbildung Europas, die gegen die einzelnen Nationalstaaten ins Feld geführt wird. Warum sollten die prinzipiellen Probleme von Grenzziehungen auf der europäischen Ebene auf moralisch überzeugendere Weise denn auf einer klassisch nationalstaatlichen gelöst werden?

21 Stellungnahme des Rates der EKD zur Situation von Flüchtlingen am 22. Januar 2016. http://www.ekd.de/EKD-Texte/20160122_stellungnahme_fluechtlinge.html.

22 Die Weltbank definiert Menschen als extrem arm, wenn sie weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben. Bei diesem Ansatz wird die Kaufkraft des US-Dollars in die lokale Kaufkraft umgerechnet. Das heißt, dass extrem arme Menschen nicht in der Lage sind, sich täglich die Menge an Gütern zu kaufen, die in den USA 1,90 US-Dollar kosten würden. Die 1,90-Dollar-Grenze wird als finanzielles Minimum angesehen, das eine Person zum Überleben braucht. Demnach leben im Jahr 2015 Prognosen zufolge noch etwa 700 Millionen Menschen in dieser extremen Armut. Die Zahl der Menschen in Armut liegt deutlich darüber.

23 http://www.ekd.de/EKD-Texte/20160122_stellungnahme_fluechtlinge.html.

24 Hans Blumenberg hat dies als Emanzipationsprozess beschrieben (Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt/M: Suhrkamp 1988). Man kann dies aber auch angesichts der bedrängenden Probleme des 21. Jahrhunderts als Prozess der schrittweisen Überlastung des Menschen lesen.

25 Die Wahrnehmung des Tragischen ist von fatalistischen Haltungen scharf zu unterscheiden, hat sie doch eine doppelte Voraussetzung: ein universalistisches Ethos der Humanität und eine Anerkennung der Grenzen des Handelns. Ein Ausfall des Tragischen kann also entweder eine (eher ‚linke‘) Leugnung der Grenzen oder eine (eher ‚rechte‘) Relativierung der Zumutungen eines Universalismus als Grundlage haben. Zur neueren Diskussion siehe die Beiträge in T. Kevin Taylor / Giles Waller (Hrsg.): Christian theology and tragedy. Theologians, tragic literature and tragic theory. Ashgate studies in theology, imagination and the arts. Farnham / Burlington, VT: Ashgate 2011.

26 Die christliche Tradition hatte stets ein kritisches Verhältnis zum Tragischen, steht es doch der Vorstellung eines gerechten und geordneten Welthandelns Gottes entgegen. Die christliche Umgestaltung des Tragischen ist darum die aktive Performanz der Klage. Sie kommt in Wegfall, wenn die Weltordnung überbetont wird (dann ist sie eine unzulässige Form des Zweifels) oder aber, wenn die menschlichen Möglichkeiten massiv überschätzt werden (sie wird dann als moralisch unzulässige Bereitschaft zur Passivität begriffen). In der Gegenwart dominiert zweifelsohne die letztere Variante.

27 Natürlich hat Durkheim in Grenzen recht, betrachtet man die Dynamiken moralischer Schweigespiralen in Synoden oder Gemeinden der Kirchen. Allerdings bedarf es keiner Realität eines moralischen Konsenses, sondern es reicht die kommunikative Herstellung und Stabilisierung, eine operative Fiktion eines Konsenses. Als Beispiel mag dienen, dass Widersprüche und Skepsis gegenüber den gesinnungsethischen Rauschzuständen in evangelischen Synoden in (intensive) Pausengespräche abdelegiert werden.

28 Wie ihre weitere Verwendung zeigt, werden sie vor geschlossenen Grenzen zum visuellen moralischen Appell.

29 Dies zeigt die zunehmende Bereitschaft der Schlepper, am Ende Flüchtlinge in manövrierunfähigen ‚Einwegbooten‘ aufs Mittelmeer zu schicken.

30 Wie verworren die Lage ist, zeigt sich darin, dass es keinen Protest gegen die Entsendung von Nato-Schiffen in die Ägäis zum Zwecke der Abschreckung (als Prozessintervention) gibt – und doch die Bilder verzweifelter Menschen an der Grenze von Mazedonien in Deutschland öffentliche Empörung hervorrufen. Die Länder der Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn verweisen wiederum darauf, dass es genau diese Bilder seien, die die Flüchtlingszahlen qua Abschreckung (als Prozessintervention) reduzieren würden.

31 Nach den Messungen der Weltbank lebten 2012 insgesamt 2,1 Milliarden Menschen in Armut, d. h. lokal kaufkraftbereinigt (!) müssen sie im Schnitt von 3,1 US Dollar pro Tag leben. Davon lebten 2012 noch 896 Millionen in sogenannter massiver Armut, d. h. sie müssen mit dem lokalen Äquivalent von 1,9 Dollar pro Tag oder weniger auskommen. Siehe http://www.worldbank.org/en/topic/poverty/overview. Unter den menschenrechtlichen Gesichtspunkten eines radikalen moralischen Universalismus könnte niemand zumindest den Menschen in massiver Armut die Migration in ‚reichere‘ Staaten verweigern wollen. Diese Zahlen zeigen, wie eine Behandlung wirtschaftlicher Lebensbedrohung als legitimer Grund für einen Asylantrag die Weite der Problematik verschieben würde. Und: Nach Auskunft des UNHCR gab es 2014 insgesamt 59.5 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge (im eigenen Land oder auf der Flucht in andere Länder).

32 Dies ist, ganz ohne Zweifel, ein Dauerproblem grüner und roter Politik, die von einem Fürsorgeethos und Bewahrensethos geprägt ist. Es wäre interessant zu untersuchen, mit welcher Latenz im Raum der Politik hoch moralisierende Bewegungen mittelfristig (je nach Perspektive) offen ‚unmoralische‘ oder ‚a-moralische‘ Gegenbewegungen mit auszulösen helfen, diese sozusagen ‚triggern‘.

33 So wäre zu fragen, ob nicht auch die Probleme der Europäischen Union lösbarer erscheinen würden, wenn sie sich von der gefährlichen Illusion einer klaren Wertegemeinschaft verabschieden würde und sich primär als Interessensgemeinschaft begreifen könnte. Dies würde nicht aus-, sondern einschließen, dass über die Legitimität von Interessen auch moralische Diskurse geführt werden müssen. Wenig überraschend, aber doch paradox, hat das moralisch-gesinnungsethische Pochen auf ‚Europa‘ die Europäische Union in eine ihrer ernstesten Krisen geführt.

34 Noch am Abend der Landtagswahlen vom 13. März 2016 nimmt der Ratsvorsitzende der EKD über Twitter Stellung zur Wahl und hält angesichts der „Ergebnisse für eine rechtspopulistische Protestpartei“ fest: „Die demokratischen Parteien sollten jetzt gemeinsam den Blick nach vorne richten“. (https://twitter.com/EKD) Was liegt hier vor – vorausgesetzt, dass dies keine Privatmeinung ist? Ist dies ‚Öffentliche Theologie‘? Ist dies angesichts der Tatsache, dass Wahlen notwendig mit der operativen Fiktion von freien Entscheidungen mündiger Bürger arbeiten, religiöser Parternalismus eines Bischofs, diesmal protestantischerseits von links statt wie in der Nachkriegszeit katholischerseits von rechts? Ist dies, da es im Protestantismus kein auch moralische Dinge betreffendes Lehramt gibt, ein Moment einer katholisierenden Tendenz? Es gibt sehr viele gute Gründe, den Erfolg der AfD kritisch zu beurteilen. Sollte aber die Entscheidung darüber, welche Partei als demokratische Partei zählen kann, nicht doch lieber – entsprechend der Verfassung und eben nicht entsprechend der politisch-moralischen Empörungsbereitschaft – den dafür zuständigen Behörden und Gerichten überlassen werden? ‚Repräsentiert‘ der Ratsvorsitzende die Evangelische Kirche? Wohl kaum. Spricht der Evangelische Ratsvorsitzende als Sprecher der ‚intermediären Institution‘ der Evangelischen Kirche in Deutschland (früher nannte man dies schlicht einen Verband), so repräsentiert er die einzelnen Mitglieder ungefähr so zuverlässig wie August Makl als Präsident der intermediären Institution ADAC die 18,9 Millionen beitragszahlenden Mitglieder dieses ADAC.

35 Als erste Reaktion darauf, dass sich in Clausnitz am 18.02.2016 ein randalierender Mob einem Flüchtlingsbus in den Weg stellte, sagte Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich: „Das sind keine Menschen, die so was tun … Das sind Verbrecher. Widerlich und abscheulich ist das.“ http://www.spiegel.de/politik/deutschland/stanislaw-tillich-schockiert-ueber-clausnitz-und-bautzen-a-1078521.html.

36 http://www.welt.de/politik/deutschland/article155854013/Fluechtlinge-nutzen-ein-Menschenrecht-zu-luegen.html.

37 Das nicht mehr zu leugnende vielgestaltige Beschweigen der Täterschaft mancher Opfer hat in dieser moralischen Opferidealisierung der Flüchtlinge ihren Grund. Gerade die protestantischen Kirchen sollten nicht nur wissen, sondern auch kommunizieren: Die Opfer von Ungerechtigkeiten und Gewalt werden keine Heilige, sondern bleiben Sünder.

38 In diesem Spannungsverhältnis sind es die Grundrechte, die die konkrete Rechtsprechung stets herausfordern. Doch zugleich ist es nur der partikulare Nationalstaat, der in aller Begrenztheit und Vorläufigkeit die Rechte einzulösen befähigt ist. Nur innerhalb eines solchen Spannungsverhältnisses ist auch echter Fortschritt und eine progressive Humanisierung einer Gesellschaft möglich. In den Worten des ehemaligen Richters des Bundesverfassungsgerichts Udo Di Fabio formuliert: „Der Rechtsstaat, die parlamentarische Demokratie, das Sozialstaatsversprechen des Grundgesetzes und die Föderalität – sie sind ebenso wie die Menschenwürde unverfügbare Grundlagen unserer Verfassungsordnung. Deshalb […] gehört zu einem reflektierten Umgang mit den Problemen unserer Zeit, dass wir den universellen, den humanitären Imperativ und die Ordnung der Verfassungsstaaten zugleich denken und reflektieren. Wir können nicht das eine gegen das andere ausspielen. Die einen können nicht um des Staates und seiner Institutionen willen Grenzen verriegeln und verschließen, aber wir können sie auch nicht aus einem humanen Imperativ einfach aufreißen. … beides wäre ein Abschied von der Dialektik der Neuzeit.“ So DiFabio in seinem Referat zum Schwerpunktthema „Reformationsjubiläum 2017 – Christlicher Glaube in offener Gesellschaft“ am 9. November 2015 (https://www.ekd.de/synode2015_bremen/schwerpunktthema/s15_04_iv_referat_schwerpunktthema_di_fabio.html).

39 Die nationalstaatliche Begrenzung macht die Bearbeitung von Problemen mit globalen Rückbetroffenheiten zugegebenermaßen zunehmend schwierig. Zugleich setzt die Hoffnung auf eine effektive Bearbeitung dieser Probleme auf funktionierende Nationalstaaten. Wer im Rahmen von Globalisierungsprozessen die nationalen, territorialen Grenzen für irrelevant erklärt und (sehr beliebt) gleich auf Nordkorea verweist, sollte die Behandlung von Grenzen in demokratischen Staaten wie Kanada, USA, Frankreich oder Großbritannien besichtigen. Auch der von Präsident Obama vorgenommenen Versuch einer Legalisierung illegaler Migranten in den USA zielt gegen eine Doppelmoral und auf eine stärkere und effektivere Regelung von Migration.

40 Ähnlich ist die nationale moralische Erregung über einen robusten Grenzschutz für die überwiegende Mehrheit internationaler Beobachter eine schon fast mit einem mild therapeutischen Gestus begleitete Angelegenheit.

41 Dies macht eindrücklich deutlich Hartmut Ruddies: „Religion und Nation. Reflexionen zu einem beschädigten Verhältnis“. In: Ulrich Barth / Wilhelm Gräb (Hrsg.): Gott im Selbstbewusstsein der Moderne. Zum neuzeitlichen Begriff der Religion. Gütersloh: Gerd Mohn 1993, S. 196–221.

42 Wer Beispiele für diese Konfliktlinie sucht, mag die lokalen Debatten um die Belegung von Sporthallen und Gemeinschaftszentren als Flüchtlingsunterkünfte verfolgen.

43 Unabhängig von der Frage nach der moralischen Angemessenheit ist unter soziologischen und institutionentheoretischen Gesichtspunkten die scharfe Abgrenzung leitender evangelischer Geistlicher von jeglicher Gruppierung rechts einer nach links gerückten CDU zumindest riskant. Die Kirchen könnten langfristig in die Falle geraten, in der sich die SPD gegenwärtig befindet und mit der diese im Augenblick höchstwahrscheinlich ihren Untergang als Volkspartei inszeniert: Da die Funktionäre deutlich ‚linker‘ und moralisch lupenreiner sind (die universalistischen Werte der Partei vertreten) als die traditionellen Wähler, kommt es zu einer folgenreichen Entkopplung der Milieus. Eine solche Entkopplung dürfte auch auf Seiten der Evangelischen Volkskirchen eintreten, wenn der Faden zwischen einem eher konservativen, aber passiven Milieu und einem eher grün/linken, aber hoch aktiven Milieu reißt. Solche Entkopplungen können zu Segregationsprozessen führen, die oft erstaunlich periphere moralische Konfliktkonstellationen als Katalysatoren haben. Dies ist in vielen Weltgegenden ein selbstzerstörerischer Impuls moralisch rechtschaffener Protestanten. Darauf zu vertrauen, dass die deutschen volkskirchlichen Strukturen dauerhaft davor schützen würden, wäre blauäugig. Die beobachtbare Tendenz, dass in Synoden die rechtlich geforderten sogenannten Laien vielfach keine Theologen, aber doch irgendwie Angestellte der Kirche sind, führt dazu, dass Synoden als Regulations- und Verhandlungsinstanzen in diesem Konflikt der Moralen der ‚Funktionäre‘ und der ‚Laien der Basis‘ zunehmend ausfallen.

44 Einer der häufigsten faktischen Kommunikationsabbrüche ist der Wechsel in ein neues Register oder in eine neue, und d. h. dann, metakommunikative Rahmung. Dieser Wechsel lässt den Äußerungen anderer mit therapeutischen, mit eher strengen pädagogischen, mit politisch-strategischen, mit moralisch-dämonisierenden oder anderen metakommunikativen Interventionen begegnen. In all diesen Fällen besteht der Kommunikationsabbruch darin, dass das, was jemand sagt, abgeblendet wird zugunsten der Fragen, warum jemand etwas sagt und was die möglichen Folgen dieser Äußerung auf Dritte sein könnten.

45 Dies führt zu der geradewegs absurden Feststellung des Flüchtlingskoordinators Peter Altmeier, die Türkei verhalte sich europäischer als manches EU-Mitglied. Warum und wie eine Politik geostrategischer Interessen mit einem radikalen moralischen Universalismus kombinierbar ist, verrät Altmeier nicht. http://www.welt.de/politik/deutschland/article153131429/Tuerkei-verhaelt-sich-europaeischer-als-manches-EU-Land.html.

46 http://www.welt.de/147940660.

47 Dies gilt für Di Fabio speziell dann, „wenn unsere Gesellschaft Grenzen öffnet, wenn sie das Risiko eingeht, dass andere Religionen auf dem Boden Europas wieder oder zum ersten Mal heimisch werden und wir damit eine kulturelle Fragmentierung befürchten müssen, aber nicht als Schicksal fatalistisch hinnehmen müssen“. Eine entsprechende Spur hat der gegenwärtige Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm schon in seiner Habilitation gelegt, in der er eine grundlegende Unterscheidung zwischen einem nächsten Nächsten und einem fernen Nächsten bestreitet. Siehe Heinrich Bedford-Strohm: Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag. Gütersloh: Chr. Kaiser 1999.

48 So die Formulierungen der Erklärung der Bekenntnissynode in Barmen vom 31. Mai 1934, die die entscheidende theologische Stellungnahme der Bekennenden Kirche unter der nationalsozialistischen Herrschaft war. Siehe https://www.ekd.de/glauben/grundlagen/barmer_theologische_erklaerung.html. Die das staatliche Handeln thematisierende 5. These ist bei aller Zeitbedingtheit auch gegenwärtig nicht ohne provokante Spitzen: „Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.“