Religion und Politik bilden seit jeher ein spannungsvolles Geflecht wechselseitiger Begründungs- und Abgrenzungsprozesse. Für das Christentum sind dabei einerseits grundlegende Formen der Differenzierung zwischen beiden Sphären charakteristisch. Dafür stehen exemplarisch die klassischen Denkmuster von Paulus über Augustin bis zur reformatorischen Zwei-Reiche/Regimenter-Lehre und deren Transformationen in der Moderne. Zu deren wirkungsgeschichtlichem Umkreis gehört auch das moderne Konzept eines weltanschaulich neutralen Staates, der neben der negativen auch die positive Religionsfreiheit schützt und den Kirchen eine bedeutende Stellung in der Öffentlichkeit zuerkennt, ohne daraus seine eigene Legitimität abzuleiten. Andererseits gibt es in der Geschichte des Christentums bedeutende Muster von (hierarchischer) Legitimierung, Einhegung und Kritik der politischen Macht. Die politische Gewalt und ihre Repräsentanten unterstehen danach Gott, ihr Handeln ist an seiner Ordnung zu messen, und diese kann zur Quelle harter Kritik und Opposition werden. Auch hierfür lassen sich klassische Belege aus der biblischen Tradition sowie der Kirchen- und Theologiegeschichte nennen. Gott mehr gehorchen zu müssen als den Menschen, eine höhere Gerechtigkeit gegenüber der von irdischen Herrschern ausgeübten einzuklagen und hiergegen im Grenzfall durch Kirchen und christliche Gruppen aufzubegehren gehört ebenfalls in den Radius der Christentumsgeschichte. Beide Linien, die der Differenzierung wie die der (kritischen) Hierarchisierung von Religion und Politik, lassen sich nicht einfach voneinander absondern. Sie sind vielmehr miteinander verflochten, teils bis zur Unkenntlichkeit. So kann die vielfach kritisch gemeinte Hierarchisierung von Gott und Obrigkeit zum Begründungsmuster für Ansprüche der Geistlichkeit auf weltliche Gewalt mutieren oder die irdische Macht eines vorgeblich christlichen Staates religiös legitimieren und damit irdischer Rechenschaft tendenziell entziehen. Zudem stellt sich immer wieder und auf allen Seiten die grundlegende Frage, wer aufgrund welcher Geschichts- und Christentumshermeneutik die verschlungenen Verhältnisse politischer bzw. religiöser Institutionen und Kommunikationslinien angemessen beurteilen kann und darf. Auch um Deutungshoheit wurde und wird gekämpft, und zwar in sehr unterschiedlichen Arenen.
Die in diesem Band versammelten Arbeiten beleuchten historische und aktuelle Konstellationen dieser Prozesse von Begründung und Abgrenzung von Religion und Politik durch die Verschränkung von systematischen und historischen Perspektiven. So reicht die Spannweite der Beiträge von der Frühzeit des←7 | 8→ Christentums über die Reformation bis hin zu Schelling, Schleiermacher, Troeltsch und Barth, während gleichzeitig aktuelle Debatten u. a. zur Theologie in der DDR, zum Verständnis der Menschenrechte, zum Konzept der inneren Führung und zur Flüchtlingsdebatte kritisch analysiert werden. Wenn die Beiträge einerseits eher historische Perspektiven bieten und andererseits stärker gegenwärtige Debatten aufnehmen, will diese Einteilung keiner simplen Trennung von Geschichtlichem und Gegenwärtigem das Wort reden. Wie Religion und Politik einander überlagern und durchdringen, so bedarf es zu deren Analyse einer wechselseitigen Befruchtung von historischen und systematischen Erörterungsmethoden.
Damit markieren die Stichworte des Titels und die methodischen Zugriffsweisen dieses Bandes ein Feld, das von Hartmut Ruddies vielfältig bearbeitet wurde und wird. In zahlreichen Aufsätzen und Vorträgen sowie bei einschlägigen Tagungen und im Rahmen von Lehrveranstaltungen hat Ruddies dazu beigetragen, das komplexe Geflecht von Religion und Politik zu beleuchten. Im Zentrum standen und stehen dabei die spannungsvollen Konstellationen im 20. Jahrhundert. Charakteristisch für Ruddies ist eine Verschränkung von systematischen und historischen Perspektiven. Seine Arbeiten erörtern ebenso die begrifflichen Strukturen systematischer Konzepte wie auch die historischen Konstellationen ihrer Genese und ihrer Wirkung. Dabei stehen die für die Theologie- und Christentumsgeschichte bedeutenden Namen Ernst Troeltsch und Karl Barth in besonderer Weise im Mittelpunkt. Deren gedanklich kaum zu vereinbarende, ja geradezu konträre Konzepte sollten in ihren historischen Kontexten verständlich gemacht werden, um sie über ihren jeweiligen Ort im geschichtlichen Zusammenhang aufeinander zu beziehen. Ideen- und kulturgeschichtliche Grundfragen sind dabei ebenso im Spiel wie zentrale Themen der Gesellschafts- und Kirchengeschichte.
In den verschiedenen Phasen der Vorbereitung der Drucklegung haben wir vielfältige Unterstützung erfahren. Herzlich bedankt seien Dr. Marianne Schröter, Constantin Plaul und Elisbeth Nebe. Der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gebührt Dank für einen Druckkostenzuschuss. Dem Verlag und seinen Mitarbeitern sei für die verlegerische Betreuung gedankt.
Die in diesem Band versammelten Beiträge respondieren auf viele Impulse, die Hartmut Ruddies in verschiedene Debatten im Umfeld der Stichworte Religion und Politik gegeben hat. Dieses Buch ist ihm zu seinem 70. Geburtstag gewidmet.
Jörg Dierken |