Veränderungen des zeitlichen Ablaufs sind nur eine von mehreren Wegen, auf denen es durch Abwandlungen der Embryonalentwicklung zum evolutionären Wandel kommen kann.
Seit Pander erstmals Embryonen unter dem Vergrößerungsglas studierte, wissen wir, dass die Entwicklung der verschiedenen Körperteile oftmals genau koordiniert ist. Eine einfache Verschiebung in der Funktionsweise einer einzelnen oder einer Handvoll Zellen kann Veränderungen in vielen Teilen des ausgewachsenen Körpers auslösen. Den Effekt erkennt man sogar an den Namen, mit denen wir Entwicklungsstörungen bezeichnen. Das Hand-Fuß-Genital-Syndrom beispielsweise hat seine Ursache in einer genetischen Mutation, die das Verhalten von Zellen im Frühstadium der Entwicklung beeinflusst. Diese einzelne Veränderung hat Auswirkungen auf Größe und Form der Finger, den Aufbau der Füße und die Gänge, die den Urin aus den Nieren abtransportieren. Wenn man bedenkt, dass kleine Veränderungen solche weitreichenden Wirkungen haben können, steht zu vermuten, dass Abwandlungen der Zellen, aus denen unser Körper besteht, auch Hinweise auf manche evolutionären Umwälzungen der Vergangenheit liefern können.
Um diese Form der Evolution zu verstehen, müssen wir noch einmal zu den Seescheiden zurückkehren. Was Garstang auffiel, wurde in jüngerer Zeit auch durch DNA-Analysen bestätigt: Der Übergang von den Wirbellosen zu den Wirbeltieren kam einen entscheidenden Schritt voran, als die Merkmale der Seescheidenlarven bei der Entstehung eines Wirbeltiervorläufers beibehalten wurden. Dieses kaulquappenähnliche ausgewachsene Tier besaß den grundlegenden Körperbau eines Wirbeltiers. Die Entstehung der Wirbeltiere setzte aber noch einen anderen Schritt voraus.
Menschen, Fische und andere Wirbeltiere sind nicht einfach Seescheidenlarven. Von dem Knochenskelett, das den Körper stützt, über die fetthaltige Myelinscheide rund um die Nerven und die Pigmentzellen in der Haut bis hin zu den Nerven, die für die Muskelsteuerung im Kopf sorgen, haben Wirbeltiere Hunderte von Merkmalen, die es bei Wirbellosen nicht gibt. Eine Liste aller Unterschiede zwischen Wirbellosen und Wirbeltieren würde Organe und Gewebe vom Kopf bis zum Schwanz umfassen. Ganz offensichtlich kam dieser Wandel nicht nur durch einen veränderten Zeitablauf der Entwicklungsstadien zustande. Wie konnte ein derart vielfältiges Merkmalsrepertoire entstehen?
Julia Barlow Platt (1857–1935), deren Mutter kurz nach der Geburt der Tochter Witwe wurde, war ein biologisches Wunderkind. Nachdem sie innerhalb von nur drei Jahren ihr Studium an der University of Vermont abgeschlossen hatte, ging sie an die Harvard University und vertiefte sich dort in die Erforschung von Hühner-, Amphibien- und Haiembryonen. Mit ihrer Begabung und ihrem Ehrgeiz setzte sie sich ein hochgestecktes Ziel. Den Kopf kann man mit Fug und Recht als kompliziertestes Körperteil bezeichnen; die Zähne nicht mitgerechnet, besteht der Schädel eines Menschen aus fast 30 Knochen; bei Fischen und Haien sind es noch mehr. Dass der Kopf anatomisch so komplex ist, liegt daran, dass seine Strukturen durch ein Gewirr besonderer Nerven, Arterien und Venen versorgt werden, die auf relativ geringem Raum untergebracht sind. Platt wollte verstehen, wie sich der Kopf entwickelt, und nahm sich vor, die ausgewachsenen Strukturen wie Kiefer- und Wangenknochen bis zu ihrem frühesten Embryonalstadium zurückzuverfolgen. Vielleicht, so dachte sie, zeigen sich bei der Analyse der Schädelentwicklung wichtige Ähnlichkeiten, die im ausgewachsenen Körper verborgen bleiben. Ob sie es wusste oder nicht: Sie begab sich damit auf eines der umstrittensten Forschungsgebiete.
Das akademische Klima jener Zeit war für Frauen, die höhere Weihen anstrebten, alles andere als günstig. Nachdem Platt an der Harvard University große Mühe gehabt hatte, fand sie in Europa ein aufgeschlosseneres Umfeld vor und fing in Deutschland mit ihrer Doktorarbeit an. Damit begann ein Nomadendasein, das sie quer durch Europa und schließlich wieder in die Vereinigten Staaten führte, nämlich an das Marine Biological Laboratory in Woods Hole (Massachusetts). Dort lernte sie O.C. Whitman kennen, den Leiter des meeresbiologischen Labors; mit ihm ging sie später nach Chicago, wo er zum Direktor des zoologischen Instituts ernannt wurde.
In Whitmans aufgeschlossenem Institut wurden ehrgeizige Nachwuchswissenschaftler wie junge Kollegen behandelt und konnten ihre eigenen Forschungsinteressen verfolgen. In diesem Umfeld blühte Platt auf. Mit in Woods Hole gesammelten Fischen und den Methoden, die Whitman ihr in Chicago beigebracht hatte, untersuchte sie die Entstehung des Kopfes bei Salamandern, Haien und Hühnern. Dass sie diese Organismen wählte, hatte nicht zuletzt technische Gründe: Alle drei Tierarten haben besonders große Embryonen, die sich in einem Ei entwickeln, so dass sie leicht zu beobachten und zu handhaben sind.
Bei Whitman entwickelte sie eine aufwendige, aber präzise Methode, um Zellen während der Entwicklung zu verfolgen. Sie ging von den drei embryonalen Schichten aus, die Pander und von Baer in den 1820er Jahren entdeckt hatten. Diese drei Schichten galten zu Platts Zeit fast als biologisches Grundgesetz: Zellen der inneren Schicht bilden den Darm und die mit ihm verbundenen Verdauungsorgane, aus der mittleren gehen Skelett und Muskeln hervor, und die äußere wird zu Haut und Nervensystem. Platt fiel auf, dass die Zellen der äußeren und mittleren Schicht sich in Größe und Zahl der eingelagerten Fettkörnchen unterschieden. Sie orientierte sich an diesen Merkmalen, verfolgte kleine Zellgruppen aus den einzelnen Schichten und beobachtete, wo sie schließlich im Schädel ihren Platz fanden. Mit diesem Ansatz konnte sie feststellen, welche Strukturen im Kopf aus welcher Schicht hervorgehen.
Nach der Lehrbuchweisheit jener Zeit sollten alle Knochen des Salamanderschädels aus der mittleren Schicht entstehen. Platts Fettkörnchen zeigten ihr jedoch etwas ganz anderes. Manche Knochen im Kopf und sogar das Zahnbein in den Zähnen stammten aus der äußeren Schicht, die angeblich nur Haut und Nervengewebe hervorbringen konnte. In den Augen mancher Wissenschaftler war das ein ketzerischer Befund; führende Autoritäten widersprachen ihr. Ein angesehener Experte schrieb: »Bei der Überprüfung einer ganzen Reihe von Serien und Stadien konnte ich nicht den geringsten Anhaltspunkt finden, der für Miss Platts Schlussfolgerungen sprechen würde.« Das war nur eine Stimme im Chor der Kritiker, und deren Widerspruch konnte für eine junge Wissenschaftlerin im 19. Jahrhundert das Ende ihrer Karriere bedeuten, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte.
Aber Platt hatte Glück: Anton Dohrn (1840–1909), der einflussreiche Leiter der zoologischen Station in Neapel, griff ihre Gedanken auf. Ursprünglich stand er ihrer Entdeckung ebenfalls skeptisch gegenüber, aber Platts sorgfältige Analysen veranlassten ihn, mit Hilfe ihrer Marker die Entwicklung bei Haien zu studieren. Er schrieb: »Ich stimme mit den Ansichten, die wir Miss Platt zu verdanken haben, vollständig überein … Es braucht nicht besonders betont zu werden, dass auch ich diese Bekehrung vollzogen habe und nun allen kritischen Aufsätzen und Bemerkungen widerspreche, die sich gegen Miss Platts Befunde richten.«
Zu Platts Zeiten gab es für Frauen in den naturwissenschaftlichen Fakultäten wenig Platz; das galt insbesondere dann, wenn sie sich mit ihren Äußerungen gegen tief verwurzelte Lehrbuchmeinungen richteten. Da sie in der Wissenschaft keine Anstellung fand, zog sie nach Pacific Grove in Kalifornien und gründete dort eine eigene kleine Forschungsgruppe. Als sie weitere Entdeckungen machte, schrieb sie an David Starr Jordan, den Präsidenten der kurz zuvor gegründeten Stanford University. Da sie verzweifelt eine Tätigkeit in der Wissenschaft suchte und wusste, dass sie grundlegende Durchbrüche erzielt hatte, schloss sie das Schreiben mit den Worten: »Ohne Arbeit ist das Leben nicht lebenswert. Wenn ich die Tätigkeit, die ich mir wünsche, nicht ausüben kann, muss ich die zweitbeste annehmen.«
Da Platt arbeitslos war und den Eindruck hatte, sie könne keine Stelle bekommen, verließ sie das Fachgebiet und widmete ihren starken Willen und ihre energische Unabhängigkeit neuen Herausforderungen. Wenig später wurde sie zur ersten weiblichen Bürgermeisterin von Pacific Grove gewählt, und in dieser Position trieb sie Bemühungen zur Einrichtung eines Schutzgebietes voran, das die Monterey Bay vor übermäßiger Erschließung bewahren sollte. Den Effekt ihrer Tätigkeit spüren Bewohner und Besucher von Monterey noch heute.
Platt starb 1935. Dass sie fast 43 Jahre nach Veröffentlichung ihres ersten Artikels zu dem Thema bestätigt wurde, erlebte sie nicht mehr. Andere Wissenschaftler traten in ihre Fußstapfen und entwickelten verfeinerte Methoden, mit denen sich Zellen während der Entwicklung markieren lassen. Sie injizierten Farbstoffe in die Zellen von Embryonen und verfolgten, wo sie in späteren Stadien ihren Platz fanden. Ein anderes Verfahren bestand darin, Zellklumpen aus einer Wachtel zu entnehmen und sie in verschiedenen Entwicklungsstadien in einen Hühnerembryo zu transplantieren. Da sich Wachtel- und Hühnerzellen leicht unterscheiden lassen, konnten die Wissenschaftler auf diese Weise beobachten, welche Organe daraus entstanden. Mit beiden Methoden konnte man bestätigen, dass die Strukturen im Kopf, die Platt studiert hatte, nicht aus von Baers mittlerer Schicht stammen. Vielmehr befinden sich ihre Zellen ursprünglich in dem entstehenden Rückenmark, wandern dann zu den Kiemen und bilden die Kiemenknochen.
Julia Platt nach ihrer Amtszeit als Bürgermeisterin von Pacific Grove in Kalifornien
Die Entdeckung, dass Zellen zwischen den Schichten hin und her wandern, ist nicht nur ein interessanter Aspekt der Organisation von Zellen in dem dreischichtigen Embryo – daraus ergeben sich auch weitreichende Folgerungen für unsere Kenntnisse über die Entstehung neuer Strukturen. Diese Zellen lösen sich von dem entstehenden Rückenmark und wandern durch den gesamten Embryo. An ihrer neuen Position angekommen, bilden sie Gewebe. Sie werden zu Pigmentzellen, zu den Myelinscheiden der Nerven, zu Knochen im Kopf und vielem anderen – alles Merkmale, die es nur bei Wirbeltieren gibt. Garstangs großen Übergang von einem Vorläufer zum Wirbeltier, das überall in seinem Körper neue Gewebe besitzt, kann man auf die Entstehung eines einzigen Zelltyps zurückführen, auf einen neuen Abkömmling von Panders und von Baers Außenschicht. Platt hatte auf eine Weise recht, die sie sich nie hätte träumen lassen. Die von ihr identifizierten Zellen sind die Vorläufer aller Gewebe, die Wirbeltiere zu etwas Besonderem machen.
Wie Garstang nachgewiesen hatte, war eine Veränderung im zeitlichen Ablauf der Embryonalentwicklung ein erster Schritt in der Entstehung von Lebewesen mit einem Rückgrat: Die Merkmale von Seescheidenlarven blieben bei den ausgewachsenen Nachkommen erhalten. Platt brachte mit ihrer Entdeckung den nächsten Übergang ans Licht: die Entstehung neuartiger Zellen. In beiden Fällen lassen sich die komplexen Umgestaltungen verschiedener Organe und Gewebe auf einfachere Veränderungen in der Entwicklung zurückführen. In zwei Schritten – dem neuen zeitlichen Ablauf und der Entstehung neuer Zelltypen – kann so ein ganz neuer Körperbauplan entstehen.
Solche Beobachtungen werfen Fragen auf: Wie kommt es zu den Veränderungen in der Embryonalentwicklung? Was für biologische Verschiebungen können die Ursache sein, wenn die Embryonalentwicklung als solche eine Evolution durchmacht?
Lebewesen erben von ihren Vorfahren keinen Schädel, keine Wirbelsäule und keine Zellschichten, sondern die Anweisungen zu deren Aufbau. Ähnlich wie ein Familienrezept, das von Generation zu Generation weitergegeben und abgewandelt wird, so hat sich auch die Information, die über den Körperbau bestimmt, im Laufe der Jahrmillionen, in denen Vorfahren sie an die Nachkommen weitergegeben haben, kontinuierlich gewandelt. Aber im Gegensatz zu einem Kochrezept sind die Anweisungen, nach denen ein Körper in jeder Generation neu aufgebaut wird, nicht in Worten geschrieben, sondern in DNA. Um biologische Rezepte zu verstehen, müssen wir also lernen, eine ganz neue Sprache zu lesen, und wir müssen neue Vorstufen aus der Geschichte des Lebens kennenlernen.