Genome ohne Gene

Als der US-Präsident Bill Clinton und der britische Premierminister Tony Blair eine gemeinsame Pressekonferenz mit den Leitern der Teams, die bei der Sequenzierung des menschlichen Genoms konkurriert hatten – des staatlich finanzierten Projekts unter Leitung von Francis Collins und des privaten von Craig Venter –, abhielten, konnten sie nur einen sehr groben Entwurf des Genoms vorstellen. Dem Medienrummel zum Trotz fehlten damals, im Jahr 2000, noch große Abschnitte des Genoms, und man wusste kaum etwas darüber,

Das anfängliche Ergebnis des Human Genome Project hatte weniger mit Genomen als vielmehr mit Technologie zu tun. Das Wettrennen um die Sequenzierung des menschlichen Genoms setzte technisch eine Hektik in Gang, die sich bis heute fortsetzt. Gordon Moore formulierte 1965 seine berühmte Prophezeiung, die Geschwindigkeit der Mikroprozessoren werde sich alle zwei Jahre verdoppeln. Die Folgen dieser Zunahme spüren wir jedes Mal, wenn wir neue digitale Gerätschaften kaufen: Computer und Smartphones sind mit jedem Jahr leistungsfähiger und billiger geworden. Aber der Fortschritt der Genomtechnik hat sogar dieses Tempo hinter sich gelassen. Das Human Genome Project dauerte mehr als zehn Jahre, kostete über 3,8 Milliarden Dollar und erforderte ganze Räume voller Maschinen. Heute gibt es für das Sequenzieren eine App; und Sequenzierungsautomaten, die man in einer Hand halten kann, sind bereits auf dem Markt.

Nachdem das Genom des Menschen kartiert war, folgten Jahr für Jahr die Genome anderer Arten. Heute werden sie so schnell hintereinander veröffentlicht, dass das Tempo seine Grenzen nur in der Erscheinungshäufigkeit wissenschaftlicher Fachzeitschriften findet. Wir hatten das Maus-Genomprojekt, das Lilien-Genomprojekt, das Frosch-Genomprojekt, Projekte für alles Mögliche von Viren bis zu Primaten. Anfangs war es eine große Sensation, wenn die Ergebnisse eines Genomprojekts veröffentlicht wurden; die Artikel erschienen in hochrangigen Fachzeitschriften und wurden von der Presse lautstark begleitet. Heutzutage ist ihre Veröffentlichung kaum noch einer Erwähnung wert, es sei denn, es ginge um

Der Glanz der Genomveröffentlichungen ist also verblasst, aber sie sind weiterhin eine Goldgrube, über die Emil Zuckerkandl, Linus Pauling und Allan Wilson begeistert gewesen wären. Ausgestattet mit Kenntnissen über die Genome von Fliegen, Mäusen und Menschen, können wir heute zentrale Fragen nach dem Leben stellen: Wie sind die Arten verwandt, und warum sind sie alle verschieden?

Jeder von uns besteht aus Billionen Zellen – Muskelzellen, Nervenzellen, Knochenzellen und Hunderten anderer. Sie alle arbeiten zusammen, alle sind genau auf die richtige Weise gelagert und verbunden. Der Fadenwurm Caenorhabditis elegans kommt mit nur 956 Zellen aus. Und als wäre das nicht schon erstaunlich genug, gilt es noch etwas anderes zu bedenken: Trotz der gewaltigen Unterschiede in der Zahl der Zellen und der Komplexität von Organen und Körperteilen haben Menschen und Würmer die gleiche Anzahl von Genen, nämlich rund 20000. Und Würmer sind nur der Anfang. Auch Fliegen haben ungefähr ebenso viele Gene wie wir. Eigentlich sind Tiere sogar wahre Habenichtse im Vergleich zu Pflanzen wie Reis, Sojabohnen, Mais und Maniok, die fast doppelt so viele Gene ihr Eigen nennen. Dass die Evolution in der Tierwelt komplexe neue Organe, Gewebe und Verhaltensweisen hervorgebracht hat, liegt also nicht an einer größeren Zahl von Genen.

Noch seltsamer ist die Organisation des Genoms selbst. Denken wir noch einmal an unser Mantra: Gene sind Ketten aus Basen, die in eine Sequenz von Aminosäuren umgesetzt werden, und diese Aminosäureketten sind die Proteine.

Gene sind nur Inseln im Meer der DNA. Diese Gesetzmäßigkeit gilt nicht nur für Menschen, sondern – von seltenen Ausnahmen abgesehen – für viele Arten von den Würmern bis zu den Mäusen. Aber wenn der größte Teil des Genoms keine Gene enthält, die Proteine codieren, stellt sich die Frage: Wozu ist er dann da?