Als meine Kinder noch klein waren, fanden sie am Strand von Cape Cod regelmäßig winzige, wie Garnelen geformte Tiere. Sie stießen sie an, beobachteten die Reaktion und gaben ihnen dann den Spitznamen »Jumpies« (»Springerle«). Diese Tiere, die ansonsten auf den Namen Flohkrebse hören, sind ungefähr einen guten Zentimeter lang, durchsichtig und graben sich am Strand in den Sand ein. Wenn man sie reizt, können sie sich zusammenziehen und bis zu 30 Zentimeter hoch in die Luft springen. Die von den Stränden bekannte Form ist nur eine von ungefähr 8000 Arten. Sie alle besitzen die bemerkenswerte Fähigkeit, sich mit vielfältigen Formen des Schwimmens, Grabens und Springens fortzubewegen. Das bewerkstelligen sie mit Beinen, die so vielseitig sind wie ein Schweizer Taschenmesser: Manche sind groß, andere klein, manche weisen nach vorn, andere nach hinten. Ihr wissenschaftlicher Name Amphipoda trägt auf Griechisch der Tatsache Rechnung, dass sie nach hinten und vorn weisende Beine besitzen: amphi heißt »zweifach« und poda sind die Beine.
Nachdem der Biologe Nipam Patel 1995 in Chicago sein eigenes, unabhängiges Labor eingerichtet hatte, wollte er das ideale Tier finden, an dem man untersuchen konnte, wie Gene den Aufbau eines Körpers bewerkstelligen. Da die Flohkrebse so viele verschiedenartige Beine vorzuweisen haben, kam ihm der Verdacht, dass sie die idealen Objekte für die nähere Erforschung von Lewis’ Genen sein könnten. Jahrelang stöberte er in deutschen Büchern aus dem 19. Jahrhundert nach der idealen Flohkrebsart für Laboruntersuchungen. Das 19. Jahrhundert war eine Blütezeit der anatomischen Abbildungen und Beschreibungen, und in den Bibliotheken waren den verschiedenen Organismengruppen ganze Regale gewidmet. Nachdem er die Beschreibungen und Lithographien studiert hatte, entwickelte Patel einen Plan, der auch sehr hübsch zu seinem langjährigen Hobby passte.
Wer Patels Wohnhaus in Chicago besuchte, musste ein riesiges Salzwasseraquarium in der Mitte seines Wohnzimmers umrunden. Als begeisterter Amateuraquarianer kam er durch seine Erfahrungen mit dem Filtersystem seines heimatlichen Fischbeckens auf eine Idee. Das Wasser sauber zu halten wurde regelmäßig zum Problem; insbesondere musste er aus dem Filter die kleinen Tiere beseitigen, die sich dort ansammelten und vermehrten. Dabei fiel ihm zwangsläufig auf, dass unter dem Schmutz auch wirbellose Tiere saßen, die im Schlamm gruben. Offensichtlich liebten sie die nährstoffreichen Teilchen, die vorbeischwammen und ihnen ein angenehmes Leben ermöglichten.
Das brachte Patel auf eine Idee. Wenn winzige Tiere schon sein kleines Filtersystem mochten, konnte man sich leicht vorstellen, welche Artenvielfalt man im Filterschlamm der riesigen Salzwassertanks im Shedd Aquarium seiner Heimatstadt finden würde. In diesen Tanks lebten Haie, Rochen, mehr als 50 Arten großer Fische und von Zeit zu Zeit sogar ein menschlicher Dozent im Taucheranzug. Patel schickte einen Doktoranden mit einem Eimer los. Was würde er finden? Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen mit Aquarien vermutete er, dass der Schlamm widerstandsfähige kleine Tiere beherbergen würde, die ihm im Labor nützlich sein konnten.
Die Filter des Shedd Aquarium erwiesen sich als Paradies für kleine wirbellose Tiere. In Nipams Labor brachte ein Doktorand mehrere Tage damit zu, die Filter abzukratzen und sich die Lebewesen unter dem Mikroskop anzusehen. Insbesondere eines davon war für die Forschung höchst vielversprechend. Der Flohkrebs namens Parhyale war klein, in kurzer Zeit aufgewachsen und vermehrte sich schnell. Außerdem hatte er viele verschiedenartige Körperanhänge. Damit sah er nach einem idealen Versuchstier aus. Patel machte sich daran, Parhyale im Labor zu züchten und die Experimente in Gang zu setzen. Morgan hatte an Fliegen die Funktionsweise der Vererbung untersucht; Patel war entschlossen, mit Hilfe der Flohkrebse zu verstehen, wie Gene einen Körper aufbauen.
Nicht lange nachdem Patel die Parhyale-Flohkrebse aus dem Shedd Aquarium erhalten hatte, verlegte er seinen Arbeitsplatz von Chicago an die University of California in Berkeley und nahm dort ein Forschungsprogramm in Angriff, in dessen Mittelpunkt die kleinen Tiere standen. Berkeley, Patel und Parhyale erwiesen sich als verheißungsvolle Kombination, denn in Berkeley arbeitete auch Jennifer Doudna, eine der Wissenschaftlerinnen, die CRISPR-Cas entdeckten, eine neue Methode zur Veränderung des Genoms. Mit diesem Verfahren können Wissenschaftler mit zweierlei Hilfsmitteln ganz bestimmte Genomabschnitte herausgreifen: Mit einem molekularen Skalpell zerschneiden sie die DNA, und mit einer Steuerung dirigieren sie das Skalpell an den richtigen Ort. Doudna und ihre Kollegen aus der ganzen Welt hatten 2013 nachgewiesen, dass man die DNA verschiedener Arten sehr präzise zerschneiden und »redigieren« kann. Mit ihrem CRISPR-Skalpell ließen sich Gene aus dem Genom herausschneiden. Wenn man dann die Embryonen großzog, konnte man beobachten, wie sich die Beseitigung einzelner Gene auswirkt. In weiteren, komplizierteren Experimenten konnte man Gene austauschen oder ihre Sequenz verändern.
Diese leistungsfähige Methode brachte Patel auf eine Idee: Warum sollte man die Gene von Parhyale nicht so verändern, dass in einem Körpersegment die genetische Aktivität eines anderen herrschte? Konnte man auf diese Weise Extremitäten und andere Körperteile hin und her schieben?
Parhyale hat entlang seines ganzen Körpers die verschiedensten Extremitäten – jedes Segment enthält ein anderes Anhangsgebilde. Die vordersten Segmente des Kopfes tragen Antennen, dann folgen solche, die Teile des Kiefers enthalten. (Die Kiefer und Mundwerkzeuge der wirbellosen Tiere bezeichnen wir als Extremitäten, weil sie wie die Beine von einem Körpersegment ausgehen.) Der Brustteil enthält größere Gliedmaßen, von denen manche nach vorn und andere nach hinten weisen. Auch vom Hinterleib gehen winzige Extremitäten aus, die an den vorderen Hinterleibssegmenten verzweigt und weiter hinten kurze Stummel sind.
Sechs von Lewis’ Genen sind während der Entwicklung der Körperachse von Parhyale aktiv. Wie bei Fliegen, so kann man die Körpersegmente auch hier daran erkennen, welche Extremitäten sich an ihnen entwickeln und welche Gene demnach während der Entwicklung aktiv sind. Was würde geschehen, wenn man die Verteilung der Genaktivität in den Segmenten veränderte und beispielsweise dafür sorgte, dass in den Brustsegmenten die Gene aktiv sind, die normalerweise im Hinterleib eingeschaltet werden? Würden sich dann an den Segmenten andere Gliedmaßen entwickeln? Mit der Methode zum Redigieren von Genen, die seine Kollegin in Berkeley entwickelt hatte, schaltete Patel ein Gen nach dem anderen aus.
Wie elegant die Experimente waren, zeigt sich an den Details. Am Hinterende von Parhyale sind während der Entwicklung drei von Lewis’ Genen aktiv; sie tragen die Bezeichnungen Ubx, abd-A und Abd-B. Ihre Aktivität kennzeichnet vier Körperabschnitte: In dem ersten, in Richtung des Kopfes, ist nur Ubx aktiv, dann folgt ein weiterer mit Aktivität von Ubx und abd-A, dann einer mit Aktivität von abd-A und Abd-B, und schließlich der vierte, in dem nur Abd-B aktiv ist. Das Ganze kann man sich so vorstellen, als hätte jede der vier Regionen eine genetische Adresse, die davon abhängt, welche Gene in ihnen aktiv sind. Das Muster der Genaktivität entspricht dem Typ der jeweils entstehenden Extremitäten. Wo nur Ubx aktiv ist, entstehen nach vorn gerichtete Gliedmaßen, abd-A/Abd-B lassen die buschförmigen Gliedmaßen entstehen, und bei Aktivität von Abd-B werden stummelförmige Extremitäten gebildet.
Regelmäßige Genaktivitätsmuster (oben, schattierte Bereiche). Wenn man Gene entfernt und damit das Aktivitätsmuster in den Segmenten (unten) verändert, entwickeln sich im Inneren auch andere Extremitäten.
Patel hatte vor, Gene zu entfernen und damit die »Adressen« verschiedener Körpersegmente zu verändern. Was geschieht, wenn man in das Aktivitätsmuster der einzelnen Körpersegmente eingreift?
Als Patel das Gen abd-A entfernte, hatten die Körperteile, die zuvor durch Ubx/abd-A gekennzeichnet waren, nur noch die Adresse Ubx. Und die Teile, die zuvor durch abd-A/Abd-B charakterisiert waren, hießen nun Abd-B. Durch die Adressenänderung entstand ein schönes experimentelles Monster: Die Extremitäten dieses Tieres wiesen nach hinten, wo sie eigentlich nach vorn gerichtet sein sollten, und stummelförmige Gliedmaßen standen an der Stelle der verzweigten Strukturen. Durch die Veränderung des Genaktivitätsmusters in den Körpersegmenten bildeten sich in den einzelnen Segmenten andere Extremitäten.
Patel stellte fest, dass er die genetischen Adressen verändern und damit die Extremitäten beliebig am Körper hin und her schieben konnte. Damit schuf er nicht nur Monster, sondern er ahmte auch die natürliche Vielfalt des Lebendigen nach.
Vergleichen wir nun einmal die Flohkrebse oder Amphipoda mit ihren Vettern, den Isopoda oder Asseln. Den meisten von uns sind die Isopoda in Form einer ihrer am weitesten verbreiteten Artengruppen bekannt, den Landasseln. Wie der Name Isopoda (griechisch für »gleiche Beine«) schon vermuten lässt, weisen alle Beine nach vorn, während Flohkrebse nach vorn und hinten gerichtete Beine besitzen. Als Patel das Gen abd-A bei einem Flohkrebs entfernte, sahen die so entstandenen Tiere wie Asseln aus: Alle ihre Gliedmaßen wiesen nach vorn. Damit hatte er die Natur nachgeahmt: Den Asseln fehlt in ihrer normalen Entwicklung das abd-A-Gen.
Veränderungen in diesen Genen sind die Ursache für die Unterschiede zwischen Tieren wie Hummer und Hundertfüßer. Wenn die großen Scheren eines Hummers gebildet werden, sind Gene in anderer Kombination aktiv, als wenn ein Bein entsteht. Und bei Tieren wie den Hundertfüßern, bei denen alle Segmente gleichartige Beine tragen, sind in den Segmenten auch ähnliche Gene aktiv. Bei Insekten, Würmern und Fliegen geben diese Gene den Weg zum Körperbau vor.