Die gewissenhaften anatomischen Sezierarbeiten des 18. und 19. Jahrhunderts bildeten das Vorspiel zu den akribischen Versuchen in Morgans Fliegenzimmer. Sabra Cobey Tice, einer von Morgans Studenten, fand 1913 eine einzelne männliche Fliege mit sehr kleinen Augen. Die Mutante war selten: Es war die Einzige unter Hunderten von normalen Nachkommen. Er hielt die Fliege im Labor am Leben und brachte Monate damit zu, sowohl Männchen als auch Weibchen zu finden, aber am Ende konnte er weitere Exemplare züchten.
Im Jahr 1936, zwei Jahre vor seinem Tod, entschloss sich Calvin Bridges, das genetische Material der kleinäugigen Mutanten mit neuen, besonders genauen Methoden noch einmal zu untersuchen. Die Technik passte gut zu Bridges’ Begabung für Präzision. Zunächst entnahm er kleine Zellhaufen aus den Speicheldrüsen, erhitzte sie, brachte sie auf einen Objektträger, legte sie unter das Mikroskop und blickte mit hoher Vergrößerung in das Innere der Zellen. Wenn man alles richtig macht, werden unter solchen Bedingungen die Chromosomen in den Zellen sichtbar. Bridges wusste noch nichts von DNA, aber es war bekannt, dass die Gene in den Chromosomen enthalten sind.
Zahl, Form und Größe der Chromosomen von Tieren und Pflanzen sind sehr unterschiedlich. Wie wir im Zusammenhang mit Bithorax bereits erfahren haben, sehen Chromosomen, die man mit den von Bridges verwendeten Methoden präpariert, gestreift aus: Sie tragen dunkle und helle Banden, manche davon dick, andere dünn, und alle sind nach einem Muster, das auf den ersten Blick zufällig aussieht, abwechselnd angeordnet. In Wirklichkeit sind die Streifen genau organisiert und dienen als Koordinatensystem für die Lage der Gene, die Morgan und seine Arbeitsgruppe identifizierten. Wie gesagt: Jedes Gen ist ein DNA-Abschnitt, der dicht gefaltet und aufgewickelt ist, so dass er in die Chromosomen passt. Die Lage der Gene lässt sich anhand ihrer Anordnung in der Reihe der dunklen und hellen Banden erkennen. Eine Mutation zeigt sich dabei in einer räumlich begrenzten Veränderung des Streifenmusters. Heute wissen wir, dass die Banden einem Navigationssystem mit schlechtem Satellitenempfang ähneln: Sie geben die Lage eines genetischen Defekts in einer Mutante ungefähr an, aber nicht exakt.
Bridges präparierte die Chromosomen der kleinäugigen Fliegenmutante und verglich dann das Streifenmuster mit dem normaler Fliegen. Die beiden Muster stimmten genau überein, mit Ausnahme einer Region. Dort besaß die kleinäugige Mutante ein einzelnes besonders langes Chromosom, und ein ganzer Abschnitt mit hellen und dunklen Banden schien sich in einem benachbarten Abschnitt zu wiederholen. Bridges war überzeugt, dass sich in diesem Muster eine Verdoppelung eines Genomabschnitt widerspiegelte. Er fertigte detaillierte Notizen an und spekulierte, hier seien Gene auf anormale Weise kopiert worden; das war nach seiner Vermutung der Grund, warum die Fliege besonders kleine Augen und ein längeres Chromosom besaß.
Hatten Vicq d’Azyr, Owen und ihre Zeitgenossen im Körper eine Zusammenstellung sich wiederholender Teile gesehen, so erkannte Calvin Bridges nun Kopien im Genom. Der Gedanke von genetischer Verdoppelung fasste Fuß.