Unser inneres Schlachtfeld

In den 1980er Jahren, während meiner Doktorandenzeit, legte ein wöchentlich von mir praktiziertes Ritual die Grundlagen für meine Arbeit. Jeden Donnerstagmorgen trottete ich fünf Treppen hoch in einen großen Lagerraum des Museums für Vergleichende Zoologie an der Harvard University. Dort, zwischen knarrenden Holzfußböden und einer sechs Meter hohen Decke, war die Vogelsammlung untergebracht. An den Wänden standen Vitrinen und Regale voller Skelette, Federn und Häute, die man im 19. und 20. Jahrhundert auf Expeditionen gesammelt hatte. In der Luft hing der Geruch der Mottenkugeln, mit denen die Häute geschützt werden sollten. Außerdem roch es nach Geschichte, sowohl was die Ornithologie anging als auch die Wissenschaft als Ganzes. Die Verbindung zur Vergangenheit war das, was mich reizte: Ich unternahm meine Pilgergänge, um mich mit Ernst Mayr zu treffen, dem 80-jährigen, pensionierten Kurator für die Vögel.

Mayr war Mitte der 1980er Jahre einer der letzten noch lebenden Vertreter einer Generation von Genetikern, Paläontologen und Systematikern, die Mitte des 20. Jahrhunderts das Fachgebiet der Evolutionsbiologie definiert hatten. Als Beitrag zu dieser wissenschaftlichen Leistung hatte Mayr einen Klassiker geschrieben: Animal Species and Evolution [dt. Artbegriff und Evolution] war ein gewaltiges Werk, das für eine ganze

Jede Woche kam ich mit einer Frage und trank eine Kanne Tee mit dem großen alten Mann, der über die Geschichte des Fachgebietes dozierte und geistreiche Ansichten über ihre prägenden Ideen und Persönlichkeiten äußerte. Im Vorfeld meiner Besuche durchstöberte ich jedes Mal die Literatur nach einem guten Thema, das als Aufhänger für seine Erinnerungen dienen konnte. Mit seinen Geschichten versetzte er mich in eine andere Zeit und an andere Orte, und ich empfand es als unglaubliches Glück, zu Beginn meiner eigenen Karriere solche faszinierenden Erfahrungen machen zu können.

An einem Donnerstag brachte ich das Buch The Material Basis of Evolution des deutschen Wissenschaftlers Richard Goldschmidt mit. Das Taschenbuch war der Nachdruck eines Werkes, das erstmals 1940 erschienen war. Als ich es Mayr zeigte, konnte ich zusehen, wie sein Gesicht dunkelrot wurde und seine Augen mich mit eisigen Blicken anstarrten. Er erhob sich, blieb stehen und nahm meine Gegenwart für einen Zeitraum, der mir unendlich erschien, nicht mehr zur Kenntnis. Ich hatte eine rote Linie überschritten und war sicher, dass ich von nun an auf meine Donnerstags-Teestunden verzichten musste.

Schweigend ging Mayr zu einem alten hölzernen Aktenschrank und blätterte den Inhalt durch. Er kam mit einem vergilbten Sonderdruck eines Artikels von Goldschmidt zurück, knallte ihn auf den Tisch und sagte: »Mein Buch ist die Antwort auf den Unsinn im ersten Satz eines Absatzes kurz vor dem Ende.« Ich griff den Hinweis auf und blätterte den Artikel durch, bis ich auf Seite 96 angelangte. Es war nicht zu

Zwischen dem Erscheinen von Goldschmidts Artikel und Mayrs Wutanfall lagen dreieinhalb Jahrzehnte. Wie konnte ein einziger Satz, ganz zu schweigen von einer Idee, solche Leidenschaften wecken und den Anlass für ein Buch von 811 Seiten geben, das seinerseits zum Ausgangspunkt für ganze Wissenschaftlerkarrieren geworden war?

Es ging darum, wie Genveränderungen in der Geschichte des Lebens neue Erfindungen hervorbringen können. Nach der herkömmlichen Ansicht entstehen solche Neuerungen allmählich und über lange Zeit, wobei in jedem Schritt nur kleine genetische Veränderungen stattfinden. Diese Vorstellung wurde durch eine solche Menge theoretischer und experimenteller Arbeiten gestützt, dass man sie fast für eine unumstößliche Lehre hielt. Der britische Statistiker R.A. Fisher hatte sie in den 1920er Jahren im Rahmen seiner Bestrebungen, das entstehende Fachgebiet der Genetik mit der darwinistischen Evolution in Verbindung zu bringen, mathematisch abgeleitet. Unter anderem steht dahinter die Überlegung, dass große zufällige Veränderungen in einem System mit höherer Wahrscheinlichkeit schlechte und oftmals katastrophale Folgen haben als kleinere.

Betrachten wir beispielsweise einmal ein Flugzeug. Jede zufällige Veränderung, die eine dramatische Abweichung von der Norm darstellt, führt mit ziemlicher Sicherheit zu einem Flugzeug, das nicht fliegen kann. Verändert man nach dem Zufallsprinzip die Form des Rumpfes, die Position oder Form der Triebwerke oder die Anordnung der Tragflächen, entsteht fast unter Garantie ein monströses Gebilde, das am Boden

Als Goldschmidt nach seiner Flucht aus Nazideutschland in die wissenschaftliche Welt der Vereinigten Staaten eintrat, hatte er sich bereits seit Jahrzehnten mit Mutanten beschäftigt. Mit seinem Umzug nach Nordamerika wurde er auf dem Gebiet der Genetik zum Partyschreck, weil er sich nicht um den Status quo kümmerte. Er war beeindruckt von Mutanten mit zwei Köpfen oder überzähligen Körpersegmenten, wie Calvin Bridges sie entdeckt hatte, und gelangte zu der Überzeugung, dass eine große Umformung durch eine einzige dramatische Mutation in einem Schritt stattfinden kann. Was für eine Umwälzung seine Ideen darstellten, zeigt sich exemplarisch in einer der berühmtesten Bemerkungen von Goldschmidt, und das war auch die, die Mayr so in Rage brachte: »Der erste Vogel schlüpfte aus einem Reptilienei.« Also keine allmähliche Veränderung – biologische Umwälzungen finden innerhalb einer Generation durch eine einzige, alles verändernde Mutation statt.

Goldschmidts Mutanten wurden auf den Namen hopeful monsters (»hoffnungsvolle Monster«) getauft. Monster waren sie, weil sie so drastisch von der Norm abwichen, und hoffnungsvoll, weil sie in der Geschichte des Lebens zum Ausgangspunkt für eine ganze Revolution werden konnten. In der

Die Angriffe auf Goldschmidt setzten sofort und in aller Härte ein. Die Hauptkritik betraf die sehr geringe Wahrscheinlichkeit, dass ein hopeful monster lebensfähig ist und sich fortpflanzen kann. Zunächst einmal müsste eine solche umwälzende Mutation lebensfähige, fruchtbare Nachkommen hervorbringen. Zu jener Zeit wusste man aber bereits, dass die meisten Mutanten, insbesondere dann, wenn es sich um dramatische Veränderungen handelt, entweder unfruchtbar sind oder sterben, bevor sie Nachkommen hervorbringen können. Und selbst wenn eine Mutante überlebt und fruchtbar ist, kann man sich ihres weiteren Schicksals nicht sicher sein. Eine einzige Mutante in einer Population würde nicht ausreichen – sie müsste einen Partner finden, der ebenfalls die Mutation trägt. Damit Goldschmidts hopeful monster in einem Schritt eine Revolution in Gang setzen kann, muss sich eine sehr unwahrscheinliche Kette von Ereignissen abspielen: Eine große Mutation müsste ein lebensfähiges, ausgewachsenes Tier hervorbringen, dies müsste bei Männchen und Weibchen gleichzeitig geschehen, und einige so veränderte Individuen müssten zusammenfinden, sich paaren und ihre veränderten Nachkommen zeugen, die sich ihrerseits fortpflanzen können.

In den 1970er Jahren, als ich Biologie studierte, stand Goldschmidt mit seinem Ruf irgendwo zwischen einem Ausgestoßenen und einem Ketzer, hatte er es doch gewagt, eine so offenkundig falsche Ansicht zu veröffentlichen. Und er veröffentlichte sie nicht nur, sondern offensichtlich gefiel er

Mayr, Goldschmidt und ihre Zeitgenossen diskutierten über eine zentrale Frage der Evolution: Wie kommt es zu größeren evolutionären Veränderungen? Goldschmidts hopeful monster waren zwar nicht plausibel, aber es blieben offene Fragen. Der allmähliche Wandel war kein Thema: In der Biologie wusste man schon seit langem, dass kleine, allmähliche genetische Veränderungen im Laufe der jahrmillionenlangen geologischen Zeiträume zu gewaltigen Umwälzungen führen können. Ein tieferliegendes Rätsel zeigt sich an den Fossilien. So beispielsweise bei der Entstehung des Skeletts, eines der größten Ereignisse in der Geschichte unserer eigenen Spezies. Wurmähnliche Vorfahren lebten über Jahrmillionen ohne Knochen. Knochen haben eine charakteristische Struktur: Stark organisierte Zellschichten produzieren die charakteristischen Proteine und Kristalle, die dem Skelett seine Härte verleihen und seine besondere Form des Wachstums ermöglichen. Nachdem ein Skelett entstanden war, konnten unsere Vorfahren größer werden und mit einem stabileren Körper sowohl Beute finden als auch natürlichen Feinden aus dem Weg gehen und sich fortbewegen. Diese revolutionäre Neuerung hatte ihre Ursache in der Entstehung eines neuen Zelltyps, der die Proteine zur Herstellung und Ernährung eines Skeletts produzieren konnte und zu seinem Wachstum beitrug. Aber die Zellen, aus denen verschiedene Gewebe wie Haut, Nerven oder Knochen bestehen, produzieren Hunderte von unterschiedlichen Proteinen. Nervenzellen unterscheiden sich von Knochenzellen, weil zahlreiche Proteine sie in die Lage

Damit sind wir bei der entscheidenden Schwierigkeit. Die Entstehung neuer Zellen und Gewebe aus denen der Vorfahren erfordert Veränderungen in Hunderten von Genen. Wie können neue Zellen und Gewebe entstehen, wenn sich im gesamten Genom eine Vielzahl von Einzelmutationen gleichzeitig abspielen muss? Schon die Chancen für eine geringfügige Mutation sind gering, aber nun stelle man sich vor, Hunderte solcher Veränderungen sollten gleichzeitig stattfinden – unmöglich. Es wäre so, als würde man den Jackpot nicht nur an einem Roulette-Tisch gewinnen, sondern an allen Tischen des gesamten Casinos gleichzeitig.