Jason Shepherd wuchs in Neuseeland und Südafrika auf. Das Kind löcherte seine Mutter mit so vielen Fragen, dass sie ihm schließlich sagte, er müsse Wissenschaftler werden und seine eigenen Antworten finden. Als er die Highschool abschloss, hatte er sich entschlossen, Medizin zu studieren. Er schrieb sich in einen Schnellstudiengang ein, der ihm in wenigen Jahren sowohl die vorklinische als auch die klinische Ausbildung verschaffen sollte. Im ersten Jahr des Studienprogramms stieß er auf den Klassiker Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte von Oliver Sacks. Das Buch veränderte sein Leben. Von Sacks inspiriert, brach er das Medizinstudium ab und nahm eine neue Karriere in Angriff: Jetzt wollte er die Moleküle und Zellen erforschen, die unserem Gehirn seine Tätigkeit ermöglichen. Er selbst sprach davon, herausfinden zu wollen, was uns zu Menschen macht. Das Gedächtnis und sein Verlust wurden zu Shepherds großer wissenschaftlicher Fragestellung. Unsere Erinnerungen an die Vergangenheit bestimmen in großem Umfang mit darüber, wie wir lernen, welche Beziehungen wir zu anderen eingehen und wie wir in der Welt zurechtkommen. Das ist alles andere als ein esoterisches Thema. Eine der großen Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft steht, sind die Nervenverfallskrankheiten. Wenn wir immer länger leben, wird das alternde Gehirn immer stärker zur entscheidenden Schranke. Der Verlust von Gedächtnis und Kognitionsfunktion ist ein schlimmes Übel mit unabsehbaren emotionalen, gesellschaftlichen und finanziellen Folgen.
In seinem letzten Collegejahr suchte Shepherd für einen Kurs in Neurobiologie nach einem Thema für eine Seminararbeit. Dabei fiel ihm ein Artikel über ein Gen namens Arc in die Hände, das offensichtlich an der Entstehung von Erinnerungen mitwirkt. Bei Mäusen wird Arc aktiv, wenn die Tiere lernen. Außerdem ist es im Gehirn in den Zwischenräumen der Nervenzellen tätig. Es sah aus, als würde Arc alle Voraussetzungen für ein Gen erfüllen, das für die Gedächtnisfunktion wichtig ist.
Wenige Jahre nach Shepherds Seminararbeit hatten sich die technischen Möglichkeiten so weit entwickelt, dass man Mäuse ohne Arc-Gen herstellen konnte. Die Tiere überlebten, wiesen aber eine Reihe von Anomalien auf. Bot man ihnen ein Labyrinth mit einem Stück Käse in der Mitte an, fanden sie den Weg dorthin, aber am nächsten Tag konnten sie sich nicht mehr daran erinnern. Mäuse mit einem normalen Gedächtnis sind dazu oftmals in der Lage. In einem Test nach dem anderen zeigte sich, dass bei den Mäusen insbesondere die Bildung von Erinnerungen beeinträchtigt war. Bei Menschen stehen Mutationen von Arc bekanntermaßen im Zusammenhang mit einer Reihe von Nervenverfallskrankheiten, von der Alzheimer-Krankheit bis zur Schizophrenie.
Nun rückten das Gedächtnis und das Arc-Gen in den Mittelpunkt von Shepherds Berufslaufbahn. Als Doktorand erforschte er Arc zusammen mit einem Biologen, der sich als Erster mit der Bedeutung des Gens für das Verhalten beschäftigt hatte. Nachdem er promoviert hatte, absolvierte er seine Postdoc-Ausbildung bei dem Wissenschaftler, der entdeckt hatte, wo Arc im Genom liegt. Shepherd hatte Arc sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinne im Kopf.
Nachdem er an der University of Utah als unabhängiger Wissenschaftler sein eigenes Labor eingerichtet hatte, plante Shepherd neue Experimente, um zu klären, wie das Proteinprodukt von Arc funktioniert. Es wirkt eindeutig an der Signalübertragung von einer Nervenzelle zur anderen mit, und derartige Signale sind von großer Bedeutung für Erinnerung und Lernen. Um Antworten auf seine Fragen zu finden, reinigte er das Protein und analysierte seine Struktur.
Im Rahmen eines solchen Reinigungsprozesses entfernt man in mehreren Schritten alle Zellbestandteile, bis nur noch das Protein übrigbleibt, für das man sich interessiert. Am Anfang wird das Gewebe – in diesem Fall aus dem Gehirn – chemisch verflüssigt, und dann unterwirft man es nacheinander verschiedenen Behandlungen, um das gewünschte Protein von allen anderen Bestandteilen der Mischung zu trennen. Die Proteinsuppe lässt man durch eine Reihe von Röhren laufen, in denen jeweils andere Verunreinigungen beseitigt werden. In einem der letzten Schritte fließt die Flüssigkeit durch eine »Säule« – eine Glasröhre, die mit einem besonderen Gel gefüllt ist. Das Gel entfernt die letzten Verunreinigungen und andere Proteine, so dass die Flüssigkeit, die herauskommt, nur noch das gereinigte Protein enthält. Shepherd vollzog die einzelnen Schritte und gewann dabei jeweils geringe Flüssigkeitsmengen, die er weiterverarbeiten konnte. Schließlich schüttete er die Flüssigkeit in die letzte Glasröhre und erhielt – nichts. Aus der Säule kam nichts heraus. Er tauschte das Gel gegen eine frische Charge aus. Wieder nichts. Offensichtlich war die Säule verstopft. Er versuchte es mit neuem Material, aber die Verstopfung blieb bestehen. Die Arbeitsgruppe probierte unterschiedliche Flüssigkeitskonzentrationen aus. Die Verstopfung war immer noch da.
Shepherds technische Assistentin hatte eine Vermutung. Vielleicht hatte das Arc-Protein eine besondere Eigenschaft, die die Säulen verstopfen ließ. Dann war die Verstopfung kein Artefakt, sondern sagte etwas über die Struktur des Arc-Moleküls aus. Shepherd und seine Assistentin untersuchten die Flüssigkeit unter dem Elektronenmikroskop, wo sie die Struktur der Proteine auf dem Bildschirm bei sehr starker Vergrößerung betrachten konnten. Die Struktur war eine so große Überraschung, dass Shepherd bei ihrem Anblick rief: »Um Himmels willen, was ist denn da los?«
Arc bildete Hohlkugeln, und diese Kugeln waren so groß, dass sie in den Zwischenräumen des Gelfilters stecken blieben. In anderer Form hatte er solche Kugeln bereits während seiner vorklinischen Ausbildung gesehen. Genau die gleiche Struktur bilden auch manche Viren, die sich zwischen den Zellen bewegen und sie infizieren.
Shepherd arbeitete im Forschungstrakt der medizinischen Fakultät der University of Utah. Er brauchte nur quer durch das Gebäude zu gehen und eine Arbeitsgruppe aufzusuchen, die sich mit dem AIDS-Erreger beschäftigte, dem Virus HIV. Wenn dieses von einer Zelle zur anderen wandert, bildet es eine Proteinkapsel, in der die genetische Information verpackt ist. Shepherd zeigte der virologischen Arbeitsgruppe seine Mikroskopaufnahmen und ließ die Kollegen raten, um was es sich handelte. Die HIV-Experten glaubten, sie hätten es mit einem HIV-ähnlichen Virus zu tun. Zwischen der von Arc gebildeten Proteinkapsel und der von HIV konnten sie keinen Unterschied feststellen. Beide bestanden aus vier verschiedenen Proteinketten, und beide hatten bis hin zum atomaren Aufbau der Biegungen und Falten die gleiche Molekülstruktur. Ganz ähnlich wie Anatomen, die Knochen studieren und benennen, so haben auch Biochemiker für Strukturen ihre eigenen Namen. Ein charakteristisches Merkmal von HIV ist eine Biegung der Molekülstruktur, die als Zink-Knick bezeichnet wird. Sie war auch bei Arc vorhanden.
Wie sich herausstellte, gleicht das Arc-Protein einem Protein von Viren wie HIV genau. Beide Moleküle funktionieren identisch: Sie transportieren kleine Stücke genetischen Materials von einer Zelle zur anderen. Und wie wir bereits erfahren haben, ähnelt das Syncytin ebenfalls HIV, wenn auch auf andere Weise.
In Zusammenarbeit mit Genetikern kartierte Shepherds Arbeitsgruppe die Struktur der Arc-DNA und suchte in den Genom-Datenbanken des Tierreiches nach anderen Arten, in denen sie ebenfalls vorkommt. Als sie die Struktur und Verteilung des Gens verfolgten, kristallisierte sich eine Geschichte über vorzeitliche Infektionen heraus. Alle landlebenden Wirbeltiere besitzen das Arc-Gen, Fische aber nicht. Demnach drang ein Virus vor rund 375 Millionen Jahren in das Genom des gemeinsamen Vorfahren aller landlebenden Wirbeltiere ein. Ich male mir gern aus, dass diese erste Infektion bei einem engen Verwandten von Tiktaalik stattfand. Das Virus versetzte seinen Wirt in die Lage, ein besonderes Protein herzustellen, eine Version von Arc. Dieses Protein würde es dem Virus normalerweise ermöglichen, von einer Zelle zur nächsten zu wandern und die Infektion weiter zu verbreiten. Aber da es sich an einer ganz bestimmten Stelle in das Fischgenom eingebaut hatte, wurde das Protein in diesem Fall im Gehirn aktiv und verstärkte die Erinnerungsfähigkeit. Die Individuen, bei denen die Infektion stattgefunden hatte, waren die Nutznießer eines biologischen Geschenks. Das Virus infizierte nicht mehr, sondern war verändert, neutralisiert, domestiziert und auf eine neue Funktion im Gehirn eingestellt. Dass wir lesen, schreiben und uns an die freudigen Augenblicke unseres Lebens erinnern können, verdanken wir einer vorzeitlichen Virusinfektion, die sich ereignete, als Fische die ersten Schritte an Land unternahmen.
Shepherd war erpicht darauf, seine Befunde bekannt zu machen, und fuhr zu einer Tagung über Neurowissenschaft und Verhalten. Bevor er mit seinem Vortrag an der Reihe war, hörte er die Präsentation einer Wissenschaftlerin, die mit Taufliegen arbeitete. Sie hatte nachgewiesen, dass die Fliegen ebenfalls Arc besitzen. Das Protein ist dort wie bei uns in den Zwischenräumen der Nervenzellen aktiv. Außerdem bildet das Fliegen-Arc ebenfalls hohle Kapseln, die Moleküle von einer Nervenzelle zur nächsten transportieren. Aber das Protein der Fliegen sieht aus, als würde es von einem anderen Virus stammen als das der landlebenden Tiere. Es ging also auf eine eigene Infektion zurück.
Wie kann ein Genom ein Virus zähmen und dafür sorgen, dass es arbeitet, statt weiterhin zu infizieren? Die Antwort ist nicht ganz geklärt, aber es könnte auf vielen verschiedenen Wegen geschehen. Malen wir uns einmal das Schicksal eines Virus und seines Wirtes unter unterschiedlichen Bedingungen aus. Ist das Virus sehr infektiös, stirbt der Wirt, und der Erreger gelangt nicht in die nächste Generation. Ist das Virus gutartig oder nützlich, dringt es ins Genom ein und setzt sich dort fest. Wenn es den Weg in das Genom einer Samen- oder Eizelle findet, wird es an die Nachkommen weitergegeben. Hat das Virus sehr nützliche Wirkungen, beispielsweise weil es dem Tier die Produktion einer leistungsfähigeren Plazenta ermöglicht oder für ein besseres Erinnerungsvermögen sorgt, kann die natürliche Selektion dafür sorgen, dass es erhalten bleibt und seine Aufgabe im Laufe der Zeit immer besser erfüllt.
Das Genom ähnelt dem Zombiefriedhof aus einem zweitklassigen Film. Überall liegen Stücke uralter Viren herum – nach manchen Schätzungen bestehen bis zu acht Prozent unseres Genoms aus toten Viren. Nach neuesten Schätzungen sind es mehr als 100000. Manche derartigen Virusfossilien haben noch eine Funktion und produzieren Proteine, die den Entdeckungen der letzten fünf Jahre zufolge für die Schwangerschaft, das Erinnerungsvermögen und unzählige weitere Aktivitäten nützlich sind. Andere liegen wie Leichen an den Stellen herum, an denen sie sich mit dem Genom verbunden haben und irgendwann abgetötet wurden.
Im Genom spielt sich ein Kampf ab. Manche Stücke des genetischen Materials produzieren immer neue Kopien ihrer selbst. Dabei kann es sich um fremde Eindringlinge handeln, beispielsweise um Viren, die das Kommando über das Genom übernehmen. Es können aber auch angeborene Genomteile sein, darunter die springenden Gene, die sich vermehren und überall eingebaut werden. Hin und wieder landen solche egoistischen genetischen Elemente an besonderen Orten und machen sich dann nützlich: Sie produzieren neues Gewebe wie das Endometrium oder machen neue Funktionen wie Gedächtnis und Kognition möglich. Genetische Mutationen können sich innerhalb weniger Generationen im gesamten Genom verbreiten. Und wenn Viren in verschiedene Arten eindringen, können ähnliche genetische Veränderungen unabhängig voneinander bei ganz unterschiedlichen Arten von Lebewesen stattfinden.
Meine Teestunden mit Mayr setzten sich noch zwei Jahre fort, nachdem ich mit Goldschmidt ins Fettnäpfchen getreten war. In den späteren Gesprächen merkte ich, dass Mayr einen mürrischen Respekt vor Goldschmidts Bemühungen empfand, Experimente aus Genetik und Entwicklungsbiologie mit den wichtigsten Erkenntnissen der Fossilforschung in Einklang zu bringen. Aber Mitte der 1980er Jahre wusste er, dass in der Molekularbiologie eine Revolution bevorstand, und deshalb forderte er die fortgeschrittenen Studierenden in seinem Umfeld auf, sich auf diesem Forschungsgebiet auf dem Laufenden zu halten.
Lillian Hellman hätte in diesem Zusammenhang vielleicht gesagt: Nichts beginnt zu dem Zeitpunkt und an dem Ort, an dem man glaubt. Genome sind keine unveränderlichen Stränge, sondern sie drehen und winden sich, während Viren angreifen und andere Gene springen. Genetische Mutationen können sich im gesamten Genom und über Artgrenzen hinweg ausbreiten. Veränderungen im Genom können schnell stattfinden, ähnliche genetische Veränderungen können sich unabhängig voneinander bei verschiedenen Lebewesen abspielen, und die Genome verschiedener Arten können durch ihre Vermischung und Verschmelzung biologische Neuerungen hervorbringen.