Den sanftmütigen, kollegialen David Wake (geb. 1936) von der University of California in Berkeley würde niemand mit Ray Lankester verwechseln. Wakes Arbeiten hatten seit den 1960er Jahren aber ebenso weitreichende Folgen. Während Lankesters Thema die Meerestiere waren, widmete Wake sein Wissenschaftlerleben dem Ziel, Salamander zu verstehen.
Wir könnten froh sein, würden wir manche biologischen Eigenschaften von Salamandern in uns tragen. Schneidet man ihnen eine Extremität ab, kann der fehlende Körperteil vollständig regeneriert werden, einschließlich aller Muskeln, Knochen, Nerven und Blutgefäße. Bei Salamandern wächst ein geschädigtes Herz und sogar das Rückenmark nach. Das Spektrum ihrer bemerkenswerten Erfindungen reicht von verschiedenartigen Giftdrüsen bis zu den Methoden des Beutefangs. Seit über 40 Jahren kommen Studierende und ältere Wissenschaftler aus der ganzen Welt nach Berkeley, um mehr über die Biologie der Salamander zu erfahren. Wake ist ein moderner Duméril: Er gewinnt aus den vordergründig so einfachen Salamandern erstaunliche biologische Erkenntnisse.
Wie wir seit Dumérils Zeit wissen, werden Salamander häufig in einer Umwelt geboren und wechseln dann im Laufe ihres Wachstums in eine ganz andere. Viele Arten schlüpfen im Wasser und leben nach ihrer Metamorphose an Land. Dieser Übergang erfordert umfassende Veränderungen der Lebensweise und insbesondere der Ernährung.
Ganz allgemein gesagt, gibt es auf der Welt zweierlei Raubtiere. Die meisten bewegen das Maul zur Beute: Löwen, Geparden und Krokodile schnappen zu oder beißen, wenn sie ihre Beute jagen, oder warten in aller Stille, bis ein Tier vorbeikommt. Andere beschaffen sich ihre Nahrung auf die umgekehrte Weise: Sie holen sich die Beute zum Mund. In diese Kategorie gehören die Salamander.
David Wake sucht in Mexiko nach Salamandern.
Wenn Salamander sich im Wasser aufhalten, saugen sie Insekten und andere kleine Gliederfüßer ins Maul. Winzige Knochen im Rachen und oben am Schädel erweitern die Mundhöhle und schaffen so ein Vakuum, das Wasser und Beutetiere in den Mund zieht. Für im Wasser lebende Amphibien funktioniert diese Strategie hervorragend, aber an Land versagt sie. Um schwere Beutetiere mit ausreichender Saugkraft ins Maul zu ziehen, müssten Landtiere ein Vakuum von der Stärke eines Düsentriebwerks erzeugen, das größer ist als ihr ganzer Körper.
Deshalb haben Salamander viele Tricks entwickelt, mit denen sie die Beute an Land in ihren Mund befördern können. Manche Arten strecken die Zunge heraus, fassen damit die Insekten und ziehen sie ein. Sie können die Zunge fast bis auf die halbe Körperlänge ausfahren, fangen mit einem klebrigen Polster kleine Insekten und befördern sie ins Maul. Salamander erlangen diese Fähigkeit durch zwei Mechanismen: Der eine streckt die Zunge heraus, der andere zieht sie zurück. Die spezialisierte Zunge ist einer der bemerkenswertesten Apparate von Mutter Natur, und auch wenn es auf den ersten Blick weit hergeholt erscheint, lassen sich an ihr einige wirklich überraschende allgemeine Erkenntnisse über das Leben auf der Erde gewinnen. Da die Schönheit und Bedeutung des Systems in den anatomischen Details liegen, müssen wir uns ein wenig genauer mit der Anatomie von Salamandern beschäftigen.
Wenn wir das Zungenspiel der Salamander verstehen wollen, können wir zunächst einmal die eigene Zunge herausstrecken. Möglich wird die Bewegung durch ein komplexes Wechselspiel verschiedener Muskeln. Unsere Zunge ist im Wesentlichen ein von Bindegewebe eingehülltes und mit Geschmacksknospen besetztes Muskelpaket. Eine Reihe weiterer Muskeln verbindet sie mit den Knochen von Unterkiefer und Hals. Wenn wir die Zunge herausstrecken, bewegen wir Muskeln in ihrem Inneren – diese machen aus der weichen, flachen Zunge ein starres, längliches Gebilde –, und mit äußeren, an der Zunge ansetzenden Muskeln schieben wir sie aus dem Mund. Einer der wichtigsten Muskeln, der die Zunge nach außen zieht, verläuft von der Innenseite des Kinns bis zur Zungenunterseite. Wenn sich dieser Kinn-Zungen-Muskel oder Genioglossus zusammenzieht, strecken wir die Zunge heraus.
Menschen nutzen den Genioglossus zum Sprechen und Essen. Manchmal wird er chirurgisch behandelt, weil man das Schnarchen vermindern will. Durch die Straffung des Muskels bewegt sich die Ruheposition nach vorn und vom Rachen weg. Durch diese Korrektur blockiert die Zunge im Schlaf nicht mehr die Luftwege, so dass das Schnarchen und – so hofft man – auch die Schlafapnoe verhindert wird.
Wir Menschen sind zwar zu Recht stolz darauf, dass wir sprechen können, und dafür sind Bewegungen von Zunge und Genioglossus unverzichtbare Voraussetzungen, aber der Versuch, mit unserer Zunge fliegende Insekten zu fangen, wäre ein hoffnungsloses Unterfangen. Eine Zunge wie die unsere ragt weder weit genug aus dem Mund, noch ist sie schnell genug, um irgendetwas zu fangen. Das ist angesichts unserer gesellschaftlichen Normen und Ernährungsgewohnheiten wahrscheinlich etwas Gutes, aber einem Salamander würde ein solcher Zustand nichts nützen.
Viele Salamander besitzen ebenfalls einen Genioglossus, der auch an der Ernährung mitwirkt. Bei mehreren Arten ist er abgewandelt und bildet einen langen Streifen, der im zusammengezogenen Zustand dafür sorgt, dass die Zunge aus dem Mund ragt. Eine solche nach außen ragende Zunge besitzen die meisten Salamanderarten. Im Wettbewerb des Zungenausstreckens würde sie aber nicht einmal einen der hinteren Plätze belegen: Sie ist zwar gut, aber in keiner Hinsicht so unglaublich wie andere Mechanismen. Die Kontraktionsgeschwindigkeit des Genioglossus stellt für die Funktionsgeschwindigkeit des Systems eine physische Grenze dar. Sie reicht nicht aus, um schnell fliegende Insekten einzufangen.
Eine von Wakes Spezialitäten war die Gattung Bolitoglossa. Diese Salamander können die Zunge in der Länge ihres halben Körpers herausstrecken und dann in weniger als zwei Tausendstelsekunden wieder einziehen. Ihnen beim Fressen zuzusehen ist ein verblüffendes Erlebnis. Die Zunge bewegt sich so schnell, dass man die Bewegung selbst in Zeitlupenvideos auf YouTube kaum wahrnimmt. Atemberaubend ist dabei, dass kein Muskel des Salamanders sich so schnell zusammenziehen kann, wie die Zunge herausschießt; sie bewegt sich oberhalb der Geschwindigkeitsbegrenzung der Muskeln. Es scheint, als würden Salamander die Gesetze der Physik außer Kraft setzen.
David Wake und Eric Lombard, einer seiner Doktoranden aus den 1960er Jahren, beschäftigten sich näher mit dieser Zunge. In fast zehnjähriger Arbeit wollten sie verstehen, wie sie funktioniert und vor allem, wie sie entstanden ist. Sie sezierten die Zungen verschiedener Tierarten und prüften sorgfältig jeden Muskel, jeden Knochen und jedes Band. Außerdem manipulierten sie verschiedene Knochen und Muskeln mit einer Pinzette, weil sie wissen wollten, wie sich die Bewegungen anregen lassen. Jahrzehnte später filmte einer von Wakes Studenten schnelle Zungenbewegungen, um so herauszufinden, wie Muskeln und Knochen durch ihr Zusammenwirken das scheinbar Unmögliche bewerkstelligen.
Wake entdeckte, dass die Zunge eines Salamanders wie ein äußerst raffiniertes biologisches Geschütz funktioniert. Stark spezialisierte Salamander strecken nicht einfach die Zunge heraus. Sie schießt vielmehr aus dem Mund wie eine Gewehrkugel, die an einer Leine befestigt ist. Und als wäre das nicht schon seltsam genug, handelt es sich bei dem Geschoss, das der Salamander abschießt, um kleine Knochen aus dem Kiemenapparat, die mit einem klebrigen Polster verbunden sind. Der Salamander schießt Teile seiner Kiemen in einem buchstäblichen Augenblick über die halbe Körperlänge. Und was ebenso bemerkenswert ist: Anschließend klappt das ganze Organ nahezu ebenso schnell, wie es ausgestoßen wurde, wieder in den Mund zurück.
Bei Salamandern mit einer solchen Geschosszunge ist der Genioglossus vollständig verlorengegangen. Dieser Muskel zieht sich zu langsam zusammen und wäre beim Abschuss des Projektils nur im Wege. Außerdem sind die Kiemenknochen bei den meisten Salamanderarten beiderseits des Kopfes befestigt und dienen als Anheftungsstellen für die Kiemenfilamente. Salamander mit einer Projektilzunge machen es vollkommen anders. Hier sind die Kiemenknochen vom Schädel gelöst und an die Zunge angeheftet, so dass sie zu dem Projektil werden, das wie eine Gewehrkugel abgeschossen wird.
Wenn wir uns ein Bild von der herausschießenden Salamanderzunge machen wollen, können wir uns vorstellen, wir würden einen Wassermelonenkern abschießen, indem wir ihn zwischen Daumen und Zeigefinger einklemmen. Der Kern ist glitschig und läuft spitz zu. Wenn wir ihn zwischen die Fingerspitzen klemmen, schießt er schnell und weit heraus. Für die Salamanderzunge gilt das Gleiche. Für das Quetschen sorgen raffinierte Muskeln, und die Knochenstäbe des Kiemenapparats werden zu der feuchten, spitz zulaufenden Oberfläche. Wenn die Muskeln sich zusammenziehen, fliegen die Knochen wie ein Wassermelonenkern davon.
Bei einer Projektilzunge sind zwei Kiemenknochen vergrößert und sehen aus wie eine Stimmgabel, deren Zinken in Richtung des Schwanzes weisen. Diese langen Stäbe laufen ganz ähnlich wie der Wassermelonenkern spitz zu und sind glitschig. Um sie herum sind Spannmuskeln gewickelt, die den Stab auf seiner ganzen Länge einhüllen. Wenn diese Muskeln aktiv werden, quetschen sie die Stäbe zusammen und lassen sie aus dem Mund schießen. Das hat zur Folge, dass Zungenpolster und Kiemenknochen ihr Ziel treffen. Geht alles gut, wird das Insekt von dem Polster gefangen und zum Mund transportiert.
Für den Salamander wäre allerdings nichts gewonnen, wenn die Zunge nur herausschießen und ein Insekt fangen würde, ohne dass Beute oder Zunge zum Mund zurückkehren könnten. Der Gedanke an einen Salamander, der seine lange Zunge nicht mehr einziehen kann, mag komisch wirken, in Wirklichkeit wäre ein solcher Zustand aber tödlich. Das Tier wäre natürlichen Feinden ausgeliefert, könnte sich keine Nahrung mehr beschaffen und würde mit ziemlicher Sicherheit sterben. Dafür hat es eine kluge Lösung. Die Bauchhöhle ist bei allen Salamandern von Muskeln umgeben, die sich von der Hüfte bis zu den Kiemen erstrecken und normalerweise den Körper stützen. Bei Arten mit einer besonders ausgeprägten Projektilzunge sind Fasern der beiden Muskelgruppen verschmolzen und bilden einen einzigen Muskel, der sich von den Beckenknochen bis zu den spezialisierten Kiemenknochen erstreckt. Das Ganze kann man sich wie eine riesige Feder vorstellen: Wenn die Kiemenknochen hinausgeschossen werden, dehnt sich das Muskelband und sorgt dafür, dass der ganze Apparat sich wieder aufrollt.
Zur Entstehung dieses komplexen biologischen Mechanismus entwickelten sich keine neuen Organe und noch nicht einmal neue Knochen. Stattdessen wurden alte Knochen und Muskeln zu neuen Zwecken verwendet. Die gleichen Muskeln, die für das Herausschießen der Zunge sorgen, werden von anderen Salamandern zum Schlucken genutzt. Knochen, die einst die Kiemen stützten, erwarben ein spitz zulaufendes Ende und wurden zu den Geschossen. Der Genioglossus ging verloren, um das Projektil nicht zu behindern. Bauchmuskeln verschmolzen und bildeten den Federmechanismus, der die Zunge zurückzieht. Alle diese Veränderungen und Zweckentfremdungen ließen ein natürliches Wunder entstehen, eine höchst komplizierte Erfindung, die aus vielen Teilen besteht.
Ein biologisches Wunder: Die herausschießende Salamanderzunge
War schon die Salamanderzunge als solche ein Wunder, so erwuchs aus Wakes Forschungsarbeiten eine noch ungewöhnlichere Erkenntnis.
Wake hat sich unter anderem darauf spezialisiert, mit Hilfe der DNA den Stammbaum der Salamander zu entschlüsseln, um herauszufinden, wie verschiedene Arten miteinander verwandt sind. In der Tradition, die mit Zuckerkandl und Pauling begann, vergleicht er Gensequenzen verschiedener Arten und kann so abschätzen, wo und wann sie in der Evolution entstanden sind. Anhand von Gewebeproben nahezu aller Salamanderarten stellte Wake den bis heute maßgeblichen Stammbaum der Salamander zusammen. Über das Ergebnis war selbst er erschrocken.
Salamander mit besonders extremen Projektilzungen sind nicht eng miteinander verwandt. Im Gegenteil: Zwischen diesen Arten liegen im Stammbaum große Entfernungen; offensichtlich lebten sie also Hunderte von Kilometern voneinander entfernt und hatten unterschiedliche Vorfahren. Die Projektilzunge, eine raffinierte biologische Neuerung, die mit vielen koordinierten Veränderungen von Kopf und Körper einherging, ist mindestens dreimal unabhängig voneinander entstanden, vielleicht auch noch häufiger. In allen Fällen ging der Genioglossus verloren, die Kiemenknochen wurden abgewandelt und zu Projektilen umgestaltet, und die Bauchmuskeln verwandelten sich in einen Federmechanismus, der das Projektil in den Mund zurückholen konnte. Diese Zungen sind ein weiteres Beispiel für Sir Ray Lankesters Mehrfachentwicklungen.
Dass ein so stark spezialisiertes Organ sich mehrmals vollkommen unabhängig entwickelte, ist kein Zufall. Alle Arten, die das Merkmal besitzen, haben mehrere Gemeinsamkeiten. Die meisten Salamander nutzen die Kiemenknochen zum Atmen: Sie erweitern damit den Mund und saugen Luft in die Lunge. Außerdem werden die Kiemenknochen im Larvenstadium ausgiebig zum Fressen genutzt: Ihre Bewegung erzeugt die Saugkraft, mit denen das Futter eingezogen wird. Wenn die Kiemenknochen zum Atmen und Fressen gebraucht werden, stellt sich die Frage: Wie konnten sie für die herausschießende Zunge verwendet werden? Arten mit den extremsten Projektilzungen haben weder eine Lunge, noch gibt es bei ihnen Larvenstadien. Da beides verlorengegangen ist, muss der Kiemenapparat die anderen Funktionen nicht mehr erfüllen und kann nun eine neue Aufgabe übernehmen: Er dient als Geschoss zum Beutefang.
Aber wie entstehen solche neuen Funktionen? Was können wir aus ihnen über die innere Funktionsweise von Lebewesen lernen?