3

AM ANFANG WAR DIE PARTEI

Der Funke

Dass sich die russischen Sozialdemokratie 1903 auf ihrem Parteitag in London in Lenins Bolschewiki einerseits und die Menschewiki andererseits spaltete, lässt sich in jedem Geschichtslexikon nachschlagen. Hinsichtlich der Gründe, die diesen Bruch herbeiführten, bleibt es meist bei dem kurzen Hinweis, wonach sich Lenin für eine Kader-, die andere Seite für eine Massenpartei ausgesprochen habe. In die Darstellung dieser Entzweiung mischten sich rückwirkend außerdem moralisierende Bewertungen, die – in der westlichen Hemisphäre – zu Ungunsten der Bolschewiki ausfielen und hier den Ursprung nachfolgender Fehlentwicklungen erkannten. Lässt sich die Kluft, die sich damals auftat und zwei Gruppen hinterließ, bereits als bestimmende Zäsur beschreiben? Ging es hier schon um jene Weichenstellungen, die für 1917 die Parteidiktatur als Richtung vorzugeben begannen? Standen den Lenin’schen Losungen aufseiten der widerstrebenden Genossen alternative Konzepte für einen ganz anderen Weg gegenüber? Welche Differenzen trieben die russischen Sozialdemokraten so weit auseinander, dass aus Weggefährten unversöhnliche Rivalen werden konnten? Hatte Lenin die sibirische Verbannung nicht mit dem Ziel verlassen, eine starke, einige Partei zu schaffen?

Tatsächlich bemühte sich Lenin in den ersten Monaten nach dem Ende der Verbannung und im Hochgefühl seiner wiedererlangten Freiheit sehr viel eher um Konsens als um Abgrenzung. Zuvor geradezu überhandnehmende Ängste vor dem Abdriften der russischen Sozialdemokratie in eine rein ökonomistische, reformorientierte und – wie er meinte – apolitische Richtung wichen vielversprechenden Perspektiven, die solche »Verirrungen« neutralisierten. Vor allem ging es in dieser Phase um konkrete Arbeit, d. h. um die Realisierung des Plans für die Gründung gleich zweier Zeitungen, welche die Namen Iskra (»Der Funke«) und Sarja (»Morgenröte«) erhalten sollten. Letztere war als theoretischer »Ableger« der Iskra konzipiert worden.

Pskow, eine Stadt in der Nähe des Pejpussees, etwa 300 Kilometer südwestlich von St. Petersburg, wurde zum vorläufigen Hauptquartier einer Troika, die aus Lenin, Alexander Potresow und Julij Martow bestand und den Kern des künftigen Redaktionskollegiums bilden sollte. Der Aufenthalt in der Kapitale sowie in Russlands Universitätsstädten war den drei Ex-Verbannten untersagt worden. Trotzdem dachte Lenin nicht daran, sich solchen Restriktionen zu beugen. Schon in sibirscher Verbannung hatte er sich nicht immer an die Regeln gehalten. Die Folge war eine polizeiliche Hausdurchsuchung gewesen, begleitet von der Erkenntnis, immer noch unter Beobachtung zu stehen. Dennoch wollte Lenin nicht klein begeben. Für den Besuch seiner Frau, die in Ufa den Rest ihrer Verbannungsstrafe verbüßen musste, holte er sich zwar eine offizielle Erlaubnis, andere Fahrten aber, die ihn etwa in die Stadt an der Newa führten, unternahm er ohne das Plazet der Behörden.

Nach Pskow kam auch Pjotr Struwe, um in Verhandlungen mit der Dreiergruppe zu treten. Bei aller Skepsis gegenüber dem Abtrünnigen und seinen Anhängern ergab sich dennoch eine Übereinkunft, die sich für die drei vor allem aufgrund der zugesagten finanziellen Unterstützung als attraktiv erwies. Gleichzeitig erhielt Struwe die Zusicherung, in den betreffenden Publikationsorganen auch eigene Artikel veröffentlichen und abweichende Meinungen präsentieren zu dürfen.1

Lenin hielt sich nicht lange in Russland auf. Dort blieben seine Entfaltungsmöglichkeiten äußerst gering. Die Ochrana folgte ihm auf Schritt und Tritt und so war es nur eine Frage der Zeit, bis er erneut verhaftet wurde. Dass es dazu kam, lag aber auch an mangelnder Umsicht. Als er wieder im Zug nach St. Petersburg saß und mit einem Mal fürchtete, verfolgt zu werden, unterbrach er die Reise ausgerechnet in Zarskoje Selo, der Hauptresidenz des Zaren. Die Dichte an Geheimagenten war vermutlich nirgendwo größer als dort. Der Zugriff erfolgte umgehend.2 Zwei Wochen verbrachte Lenin im Gefängnis, gequält von »Flöhen und Wanzen«, inmitten von abstoßendem »Dreck« und geplagt vom nächtlichen Geschrei der Häftlinge.3 Zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Ausreiseerlaubnis bereits in der Tasche. Die Sorge vor den nunmehrigen Konsequenzen war daher umso größer. Würde er abermals nach Sibirien verschickt werden? Musste er seine Auslandspläne ad acta legen? Die Behörden entschieden zu seinen Gunsten: Lenin durfte seinen Pass behalten. Man hielt es offenbar für zweckmäßiger, den umtriebigen Revolutionär loszuwerden, als ihn weiterhin engmaschig überwachen zu müssen. Im Sommer 1900 begann die erste Etappe einer viele Jahre dauernden Emigration.

Lenin musste nicht lange über das Ziel seiner ersten Reise nachdenken. Die Iskra würde nur unter Einbindung jener Galionsfigur der russischen Sozialdemokratie erfolgreich sein, die ihn selbst all die Jahre hindurch inspiriert hatte. Und so suchte er gemeinsam mit Alexander Potresow Georgij Plechanow in der Schweiz auf. Der Optimismus der zwei jungen Männer wurden sogleich gnadenlos zurückgestutzt. Das »Unternehmen der ›Iskra‹« geriet umgehend »in das chaotische Durcheinander der Emigrantenrivalitäten hinein«.4 Deren Ausmaß hatten die zwei Neulinge wohl unterschätzt: Verbale Anwürfe in diversen Druckschriften fanden ihre Entsprechung in hemmungslos ausgelebten persönlichen Aversionen unter den Exil-Revolutionären. Während Lenins Jahren in Sibirien hatten sich diese Gegensätze verschärft. Das Klima zwischen Plechanows Gruppe »Befreiung der Arbeit« und dem »Auslandsbund« war nun vollständig vergiftet. Die wechselseitigen Beleidigungen und Vorwürfe hinterließen tiefe Spuren. Und sie übertrugen sich auch auf das Verhalten gegenüber den Neo-Emigranten aus Russland. Lenin und Potresow fanden keine gemeinsame Sprache mit dem rechthaberischen und misstrauischen Plechanow. Die Unterredungen mit dem verehrten Doyen der russischen Sozialdemokratie verliefen derart unerfreulich, dass Lenin und Potresow, die eben erst mit gutem Grund das Zarenreich hinter sich gelassen hatten, ernsthaft daran dachten, wieder in die Heimat zurückzukehren. Plechanow fand tatsächlich wenig Gefallen an den Plänen seiner Gäste. Er fürchtete, beiseitegedrängt zu werden. Außerdem lehnte er die Einbindung Struwes in das Erscheinen der Iskra und Sarja empört ab. Er warf den Neuankömmlingen eine »versöhnlerische« Haltung gegenüber ökonomistischen Strömungen sowie konkret gegenüber dem »Auslandsbund« vor. Deren Vertretern unterstellte er Spionage, »Geschäftemacherei« sowie »Gaunerei«. Er »würde solche ›Verräter‹«, meinte er gar, am liebsten »ohne Zögern niederschießen«.5 Abseits solcher Kraftausdrücke, die einen tief sitzenden Hass widerspiegelten, zeigte sich vor allem, wie sehr Plechanow auf seine Führungsrolle pochte. Er forderte Respekt ein. Erst recht von einer jüngeren Generation von Revolutionären, die sich plötzlich als Anführer aufspielten. Plechanow beanspruchte die absolute Oberhoheit im Redaktionskollegium, das aus Lenin, Potresow, Martow, Axelrod sowie Vera Sassulitsch bestehen sollte, und ließ sich schließlich nur durch das Zugeständnis, bei strittigen Fragen zwei Stimmen zu erhalten, besänftigen. Der Kompromiss kam vor allem auf Zutun Pawel Axelrods und Vera Sassulitschs zustande. Letztere hatte auf das drohende Scheitern des Zeitungsprojektes und einer Verständigung zwischen Lenin und Plechanow derart erschüttert reagiert, dass Potresow ihr sogar Suizidgedanken zutraute. Das verzweifelte Ringen der Revolutionärin um einen Ausweg rührte sogar Lenin fast zu Tränen.6

Tatsächlich waren viele Emotionen im Spiel. Sowohl Lenin als auch Potresow gaben sich vom Verhalten ihres Idols tief getroffen. Lenin machte seiner Enttäuschung, aber auch seiner Wut Luft. Die »aufrichtige Hochachtung und Verehrung«, die er gegenüber Plechanow empfunden hatte, wich dem Gefühl, es mit einem Menschen zu tun zu haben, der »sich von Motiven persönlicher, kleinlicher Eigenliebe und Eitelkeit leiten lässt«.7 Die Entgleisungen, die sich Plechanow damals erlaubt hatte, nahmen weitere Konflikte vorweg.8 Die kommenden Jahre zeigten, dass der »Veteran« in Zürich immer wieder der Versuchung erlag, den aufstrebenden, eigensinnigen Genossen abzukanzeln und sich – aus Lenins Perspektive – als schikanöser »Oberlehrer« zu gerieren.

Neben sachorientierten Erwägungen war es angesichts des Erlebten offenbar die erwünschte geografische Distanz zu Plechanow, die dazu beitrug, die Redaktion der Iskra in München anzusiedeln. Den Ausschlag gab die Aussicht auf konkrete Unterstützung: In Bayern erwiesen sich die deutschen Genossen als hilfreich, wenn es um praktische Angelegenheiten wie etwa den Druck der Zeitung ging. Unterstützung kam vor allem auch von Alexander Parvus-Helphand, der seine Wohnung in Schwabing zur Verfügung stellte und regelmäßig Kontakt mit Lenin pflegte.9 Der aus Odessa gebürtige Parvus (der »Kleine«) – sein Beiname stand in bewusstem Gegensatz zu seiner voluminösen, auf manche regelrecht unappetitlich wirkenden Erscheinung – war vieles in einem: Sozialdemokrat, Revolutionär, Spekulant, Unternehmer und Finanzmann. Immer wieder lavierte sich der »Abenteurer«, als den ihn Lenin später bezeichnete, durch undurchsichtige Geschäfte. In der SPD hinterließ er Jahre später alles andere als einen positiven Eindruck.10 Es war der Schriftsteller Maxim Gorki, der dem umtriebigen Genossen die Unterschlagung jener Tantiemen vorwarf, die sich aus dem Vertrieb seines Dramatextes Nachtasyl in Deutschland lukrieren hatten lassen. Dem Parteivorstand der SPD riet der wütende Literat an, »dem sauberen Verleger Parvus ›die Ohren abzuschneiden‹«.11

In die bayrische Metropole übersiedelten schließlich nicht nur Vera Sassulitsch und Julij Martow, sondern auch Nadeschda Krupskaja, die bei ihrer Ankunft Mühe hatte, den unter dem Pseudonym »Franz Modraček« lebenden Ehemann überhaupt ausfindig zu machen.12 Modraček war freilich keine erfundene Figur, sondern der Name eines böhmischen Sozialdemokraten – ein Umstand, der Lenins Tarnung offenbar zugutekommen sollte. Da es damals in Prag keinen russischen Konsul gab, hatte Lenin bis nach Wien fahren müssen, um seiner Frau die notwendigen Papiere zu besorgen.13 Ab jetzt blieb sie fast ununterbrochen an der Seite Lenins.

Die Wohnverhältnisse der russischen Emigranten in München waren äußert bescheiden, das Geld allem Anschein nach knapp. In München lebte die Iskra-Redaktion in einer regelrechten Kommune. Lenin aber zog es vor, mit Nadeschda separat unterzukommen. Die Arbeit gestaltete sich intensiv. Ende 1900 erschien die erste Nummer der Iskra. Die Auflage war gering. Einige Hundert Exemplare wurden auf abenteuerlichen Wegen nach Russland geschmuggelt, wobei ein Großteil abgefangen wurde. Nur wenige Ausgaben erreichten tatsächlich ihr Zielpublikum. So oder so konnte lediglich eine Minderheit angesprochen werden. Auch dieses Druckwerk richtete sich nämlich in erster Linie an Gebildete und vor allem an Insider, die sich auf der Höhe sowohl internationaler als auch russischer Debatten über den Marxismus und die speziellen Verhältnisse im Zarenreich befanden.

Die Iskra positionierte sich als eine Art Klärungsstelle für die Konflikte innerhalb der russischen Sozialdemokratie, wobei allerdings den Abneigungen Georgij Plechanows gegenüber dem »Auslandsbund« und seinen ökonomistischen Haltungen Vorrang eingeräumt wurde.14 Der Rabotscheje Delo (»Arbeitersache«), der Zeitung des »Auslandsbundes«, die sich als wesentliches Organ der russischen Sozialdemokratie im Westen etabliert hatte, den Rang streitig zu machen, war freilich kein leichtes Unterfangen. Und der Vertrieb der Iskra im Zarenreich stieß, wie erwähnt, von vornherein auf eminente Schwierigkeiten. Nicht zuletzt aus diesen Defiziten resultierten praktische Überlegungen, die einmal mehr eine Kooperation mit Pjotr Struwe nahelegten. Doch der Umworbene, auf dessen weitreichende Verbindungen man nicht verzichten wollte, stellte seinerseits Bedingungen an die Iskra-Gruppe. Struwe wünschte sich ein eigenes Publikationsorgan, das als Beilage der Sarja erscheinen sollte. Obwohl er die »erstrangige politische Bedeutung und Berufung […] der russischen Arbeiterbewegung« anerkannte, schwebte ihm die Sammlung aller regimegegnerischen Gruppen vor, »in engstem Bunde mit der einzigen organisierten Kraft der russischen Opposition: der Sozialdemokratie«.15 Die angepeilte Zusammenarbeit hinterließ allerdings kaum konkrete Spuren. Zum einen, weil Struwe sich bald in den Fängen der Ochrana wiederfand, und zum anderen, weil der Verlag, der die Sarja druckte, kalte Füße bekam. Die Schuld hierfür suchte Lenin bei den deutschen Kollegen, die kein Interesse daran hatten, durch das Entgegenkommen gegenüber einer illegal operierenden russischen Emigrantengruppe womöglich die legale Basis des eigenen Parteiverlags aufs Spiel zu setzen. Mit der zur Verfügung gestellten Geheimdruckerei hatten sie sich ohnehin bereits ziemlich weit vorgewagt.16

Obwohl Lenin der gescheiterten Kooperation mit Struwe keine Träne nachweinte, ärgerte er sich maßlos über die Defensivhaltung der bisher so gewogenen Parteifreunde und wetterte gegen die »Vormundschaft« der deutschen »Drecksgenossen«.17 Lenins Schimpftiraden galten allerdings in noch höherem Maße Pjotr Struwe. In seinen Augen war dieser nichts weiter als ein »Judas«, unter dessen eleganter Hülle sich die »ordinäre Krämerseele eines Dutzendliberalen« verbarg.18 Hinter Struwes Kooperationsangeboten witterte er den Plan einer faktischen Machtübernahme und als Folge die komplette Aushöhlung sozialdemokratischer Positionen. Als Konsequenz prophezeite er ein jämmerliches »Nachtraben« hinter liberalen Losungen und die Unterordnung unter jene Standpunkte von Jekaterina Kuskowas Credo, das er vor nicht allzu langer Zeit in Grund und Boden verdammt hatte.19 Man würde, warnte Lenin Plechanow, die eigene Vorrangstellung an Struwe »um ein Linsengericht« abtreten, um am Ende mit Floskeln abgespeist und komplett ausgebootet zu werden.20 Jetzt war es Lenin, der strenge Abgrenzung einforderte, während zuvor Plechanow ihn für allzu kompromissbereit gehalten und Struwe seinerseits geglaubt hatte, in Lenin einen Ansprechpartner zu gewinnen, der die Orthodoxie hinter sich gelassen hatte.21

Konkurrenten

Dass Struwe von der Ochrana verhaftet wurde, störte Lenin angesichts solcher Vorbehalte demnach wenig. Das Bündnis mit dem »legalen Marxismus« und Struwe als einem seiner prominentesten Vertreter hielt er spätestens seit dessen »Bekehrung« zum »Bernsteinianertum« ohnehin für aufgelöst. Mit der »Theorie der Abstumpfung der sozialen Gegensätze« und einer Abkehr von »der sozialen Revolution und der Diktatur des Proletariats« wollte er nichts zu tun haben.22 »Nirgends in Europa«, meinte er später regelrecht angewidert, sei »das Bersteinianertum so rasch zu seinem logischen Ende, zur Bildung einer liberalen Fraktion« gelangt, wie in Russland.23

Abseits der hervorgehobenen eigenen Prinzipientreue folgten dem Bruch mit Struwe auch rein praktische Konsequenzen. Dessen ausbleibende finanzielle Unterstützung wirkte sich nämlich fatal auf die Iskra aus. Das Blatt kämpfte ums Überleben. Aber es blieb nicht allein bei Geldproblemen. Die großen Studentenunruhen, die 1901 das Zarenreich erschütterten, weckten Befürchtungen um eine womöglich sekundäre Rolle der revolutionären Arbeiterschaft im Widerstand gegen das heimatliche Regime. Solche Entwicklungen drohten die eigenen Überzeugungen von der Vorreiterrolle des Proletariats auszuhebeln. Außerdem rührte sich erneut der aus früheren Zeiten bekannte Terror. Ein relegierter Student schoss auf den Unterrichtsminister Nikolaj Bogoljepow und beschwor mit dieser Tat jene Heldenverehrung herauf, die den Attentätern der »Narodnaja Wolja« zuteilgeworden war. Darüber hinaus erschien mit der Gründung der Partei der Sozialisten-Revolutionäre (PSR) als Nachfolgeorganisation der »Narodnaja Wolja« ein Konkurrent auf der Bildfläche, der zur Verunsicherung unter den russischen Sozialdemokraten sowohl im Exil als auch im Zarenreich beitrug. Anfängliche Annäherungsversuche wichen erklärten Bemühungen um Abgrenzung – umso mehr wohl in Anbetracht durchaus vorhandener Schnittmengen bei manchen inhaltlichen Zielsetzungen, aber auch theoretischen Grundlagen. Die PSR ihrerseits strebte eine Verbreiterung ihrer Basis an und betrachtete das russische Industrieproletariat ebenso wie die »arbeitende Bauernschaft« als Einheit des »werktätigen Volkes«, für dessen Interessen sie eintreten wollte.24 Tatsächlich sprechen vorhandene Daten über die Mitgliederstruktur der PSR nicht für eine reine Bauernpartei. Vor dem Ersten Weltkrieg waren in ihr annähernd gleich viele Bauern und Arbeiter vertreten. Der Rest, etwa 12 Prozent, wurde den »Intelligenty« zugerechnet.25 Viktor Tschernow, der an der Spitze der überaus heterogenen Partei stand, verknüpfte überdies die marxistische Theorie mit eigenen Analysen vom Kapital und von den Produktionsmitteln als Indikatoren für die Differenzierung nach Klassen. Die PSR bekannte sich zudem nicht anders als ihre Vorgängerorganisation zum Terror als Mittel des Kampfes gegen die Autokratie, wenngleich – wie in allen anderen Fragen auch – man sich auf keine klare diesbezügliche Linie einigen konnte. Die gewaltsamen Aktionen gegen Vertreter der Obrigkeit bescherten den Sozialisten-Revolutionären jedenfalls Zulauf. Das zeigte sich u. a. nach weiteren Anschlägen. 1902 wurde Innenminister Dimitrij Sipjagin ermordet und bis zum Ausbruch der Revolution 1905 reihten sich noch andere hohe Repräsentanten des Regimes in die Liste politischer Attentatsopfer ein.

Während sich die Iskra beeilte, den neu entfachten Terror im Zarenreich vor allem als »Ausdruck der allgemeinen Verbitterung« über die erdrückenden Zustände in der Heimat zu bezeichnen und ihm gleichzeitig die Eignung als zielführendes Instrument absprach,26 sah Plechanow die Gefahr eines Bedeutungsverlusts der Sozialdemokratie als Motor der angestrebten Umwälzungen. Er fürchtete ein Szenario, in dem diese womöglich »von den Terroristen und ähnlichen Organisationen in den Hintergrund gedrängt« würde.27 Der Begeisterung für die aufwühlenden Ereignisse in Russland, die demgegenüber die Zeitung Rabotscheje Delo zum Ausdruck brachte, hielt Lenin die unheilvollen Folgen eines planlosen Aktivismus gegenüber, der nicht zur Desorganisation der Regierungskräfte, sondern zu jener der Opposition führen würde.28 Immer klarer und immer unnachgiebiger formulierte er daher die Idee von einer schlagkräftigen Kampftruppe aus Sozialdemokraten, d. h. einer Partei, die aus erfahrenen, durchsetzungsstarken Berufsrevolutionären bestehen sollte. Die Iskra kommunizierte diese Ansichten. Zugleich machte sie ihren Führungsanspruch geltend und bot sich als propagandistische und agitatorische Plattform »des im Bau befindlichen Gebäudes« der Partei an.29 Das Blatt erschien seinen Kritikern in den Reihen der exilrussischen Sozialdemokraten nun in zunehmendem Maß als Organ einer »Verschwörergesellschaft« oder »Sekte«, nicht aber als Organ einer »sozialdemokratischen Partei, die sich nur auf Grundlage demokratischer Organisationsformen entwickeln kann«.30 In der Rabotscheje Delo brachte man die Standpunkte der Iskra mit »Dogmatismus«, »Doktrinarismus«, »Verknöcherung« und »Abschnürung des Denkens« in Verbindung.31 Vor diesem Hintergrund war eine von Lenin initiierte Vereinigung der russischen Auslandsgruppen völlig illusorisch. Allerdings scheiterten auch andere an der Aufgabe, die segmentierte Sozialdemokratie des Zarenreichs zusammenzuführen.32 Vieles deutet indessen darauf hin, dass Lenin die Konflikte in den Emigrantenvereinigungen vorantrieb, um seinerseits eine von der Iskra-Gruppe dominierte Organisation zu gründen. Bei alledem ging er im Einklang mit Georgij Plechanow vor. Dieser sah keinen Grund, Kompromisse einzugehen. Als die Delegierten der russischen Auslandsgruppen im Oktober 1901 in Zürich zusammenkamen, diente die Zusammenkunft lediglich der Bestätigung der offensichtlichen Differenzen. Die Wogen gingen hoch. Schon damals war von Spaltung die Rede. Es lag auf der Hand, dass »›zwei Richtungen in der russischen Sozialdemokratie‹ nebeneinander und gegeneinander existieren«.33

Nach Lenins Dafürhalten war es an der Zeit, die Meinungsverschiedenheiten klar anzusprechen. 1902 legte er mit Was tun? eine Broschüre vor, die sich mit den, wie er meinte, grundlegenden Problemen der russischen Sozialdemokratie befassen sollte – mit »Fragen nach dem Charakter und dem Hauptinhalt unserer politischen Agitation, nach unseren organisatorischen Aufgaben« und »nach dem Plan für den gleichzeitig von verschiedenen Seiten in Angriff zu nehmenden Aufbau einer kampffähigen gesamtrussischen Organisation«.34 Tatsächlich offerierte Lenin, urteilen manche, in Was tun? zum Teil nur schemenhaft umrissene Handlungsanleitungen, während in Russland selbst die »Iskristen« oder, wie er sie ebenfalls nannte, »Iskra-Agenten«, mit den vorgeschlagenen Methoden mitunter Schiffbruch erlitten. Die Bevormundung durch die Intelligenty ließ die Arbeiter auf Distanz gehen. Entscheidend aber war wohl die Skepsis gegenüber einem Zentrum, das nicht in Russland saß, sondern vom Ausland aus den Ton angeben wollte. Lenin blieb dennoch unbeeindruckt von Querschüssen. Mehr und mehr reiften konkretere Ideen eines organisatorischen Gerüsts für die zu reaktivierende Minsker Partei, die u. a. die Schaffung eines Parteirates und eines Zentralkomitees (ZK) vorsahen.35 Außerdem fand Was tun? begeisterte Leser vor allem unter den jungen Sozialdemokraten, die seine Ausführungen als kraftvolle Aufforderung zum Handeln verstanden und sich – oft genug den Verfolgungen durch die Ochrana ausgesetzt – an der vermittelten optimistischen Perspektive auf die Zukunft mental aufrichteten.36 Das Bild von einem fest gefügten »Parteitrupp«, der allen Widerständen zum Trotz den Kampf gegen das Regime aufnehmen würde, faszinierte und inspirierte. Lenin meinte: »Wir schreiten als eng geschlossenes Häuflein, uns fest an den Händen haltend, auf steilem und mühevollem Wege dahin. Wir sind von allen Seiten von Feinden umgeben und müssen stets unter ihrem Feuer marschieren.«37 Solche Exklusivangebote, die vor allem junge Widerständler dankbar aufgriffen, verschafften ihm eine kleine, aber überzeugte Anhängerschaft.

Was tun?

In Was tun? griff Lenin primär das auf, was bereits in groben Zügen in der Iskra dargelegt oder zumindest als Problem für eine gedeihliche Entwicklung der russischen Sozialdemokratie angesprochen worden war – nur dieses Mal ausführlicher, in den Kernaussagen pointierter formuliert und vor allem ergänzt um unzählige Querverweise auf die Einwände seiner Kritiker. Einmal mehr präsentierte er seine Standpunkte in Form eines polemischen Dialogs mit den Gegnern und als Schmähung jener, die beispielsweise Unbehagen gegenüber einer, wie sie argwöhnten, konspirativen Elitepartei formuliert hatten. Wie er sich die Partei und die Zukunft der russischen Sozialdemokratie vorstellte, war von Lenin schon zuvor im Artikel »Womit beginnen!« skizziert und – aus seiner Perspektive – zum Teil gründlich missverstanden worden. Seit 1897 beschäftigte er sich mit einem Organisationsplan für die Partei.38 Jetzt wollte er wesentliche Punkte noch einmal ansprechen, aber auch die bestehenden fundamentalen Gegensätze innerhalb der sozialdemokratischen Bewegung ausbreiten, da »wir«, räumte er ein, »oft buchstäblich verschiedene Sprachen sprechen«.39

Auf diese Weise ließ er Revue passieren, was die Iskra-Positionen seiner Einschätzung nach so elementar von anderen, von ihm für gewöhnlich als opportunistisch abgekanzelten Haltungen unterschied. Am Anfang seiner Ausführungen stand eine erneute Abrechnung mit »Bernsteinianern«, »Ökonomisten« und »legalen Marxisten« bzw. »Struwisten«.40 Besonders heftig echauffierte er sich über die »Rabotschodelzen«, also die Herausgeber bzw. Redakteure, aber auch Anhänger der Zeitung Rabotscheje Delo, die ihm als Keimzelle des Opportunismus galt und die er demensprechend mit einer Reihe vernichtender Attribute versah. Die kritisierten »Rabotschodelzen« bzw. die als regelrecht minderbemittelt dargestellten Verfechter einer reformorientierten Arbeiterbewegung verfolgten seiner Ansicht nach völlig falsche Ziele. So verwarf er u. a. auch deren angebliche »Anbetung« der Spontaneität, also die Überschätzung eines gleichsam impulsiven Protests in Form von Streiks und somit der »reinen Arbeiterbewegung«.41 Ein »sozialdemokratisches« bzw. »politisches« Bewusstsein, das er hinsichtlich des längerfristigen Werts durchaus auch spontaner Aktionen für essenziell hielt, sei den Arbeitern in allen Ländern nur »von außen« beigebracht worden.42 Ohne entsprechende Schulung mündeten deren Bestrebungen lediglich in den Arbeitskampf ohne jegliche politische Komponente. Darin stimmte er nach eigener Einschätzung einmal mehr mit Karl Kautsky überein, dessen Schriften er vor dem Verfassen von Was tun? offenbar genau studiert hatte.43 Immerhin zitierte er wortgetreu aus Kautskys Kritik am neuen Parteiprogramm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAPÖ).44 Die Idee von der Partei als »Lehrmeister« und zentrale Vermittlungsinstanz, die den Arbeitern u. a die wissenschaftlichen Grundlagen des Marxismus nahebringen sollte, hatte im 1888/89 in Hainfeld angenommenen Programm der österreichischen Sozialdemokratie Niederschlag gefunden – und zwar in einer Formulierung, derzufolge es eben Aufgabe der Partei sei, das Proletariat politisch zu organisieren, es mit dem Bewusstsein seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen und es geistig und physisch kampffähig zu machen.45 In der neuen Programmversion, die Kautsky 1901 kommentierte, ortete dieser Raum für Missverständnisse und hielt fest: »Das sozialistische Bewußtsein ist […] etwas in den Klassenkampf des Proletariats von Außen Hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes.«46

Im Wesentlichen biss Lenin sich an Kautskys Vorstellung der »Verschmelzung« fest, also einem ursprünglichen Nebeneinander von Arbeiterschaft einerseits und den Vertretern des Sozialismus andererseits.47 Lenin sprach in diesem Zusammenhang von der erwiesenen Notwendigkeit, »in die spontane Arbeiterbewegung bestimmte sozialistische Ideale hineinzutragen, sie mit sozialistischen Überzeugungen, die auf dem Niveau der modernen Wissenschaft stehen müssen, zu verbinden« und die »spontane Bewegung mit der Tätigkeit der revolutionären Partei zu einem unauflöslichen Ganzen zu verschmelzen«.48 Diese Gedanken äußerte er bereits 1899 und schon damals berief er sich auf die SPD, aber auch auf andere Parteien als Vorbilder für die russische Sozialdemokratie – immer aber mit Verweis auf die spezifische Realität im Zarenreich.

Kautsky wiederum leitete die »Unterordnung der aktiven Praxis der Arbeiterbewegung unter die Hegemonie der Gesetze« eines marxistischen Geschichtsverständnisses und die Führungsrolle der jeweiligen sozialdemokratischen Parteien von Engels’ kanonisiertem Marxismus ab.49 Lenins Idee von der Partei als Eliteprojekt – wenn man es, bezogen auf Was tun?, überhaupt so bezeichnen kann – kam nicht aus dem ideologischen Abseits. Sie reflektierte grundlegende Positionen des Marxismus, die dem »Kautskyanismus« schließlich den Vorwurf einer praxisfremden Starrheit eintrugen und das spätere Wehklagen über das »Elend der Theorie« oder besser ihre Allmacht vorwegnahmen.50

An anderer Stelle in Was tun? präzisierte Lenin noch einmal, wie er sich das Hineintragen eines politischen Klassenbewusstseins in die Arbeiterschaft »von außen« vorstellte, und zwar als Agieren »außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern«.51 Lenins explizite Erwähnung von Marx und Engels als Protagonisten einer »bürgerlichen Intelligenz« und die Hervorhebung der Intelligenzija als Trägerin und Gestalterin einer wissenschaftlichen Theorie des Sozialismus mündeten in der Wahrnehmung seiner Kritiker nichtsdestoweniger in eine Rechtfertigung für die angestrebte Bevormundung der Arbeiterschaft oder in eine behauptete Negation jeglicher Voraussetzungen für ein eigenständiges proletarisches »Bewusstsein«.52 Lenin widersprach. Er strebe vielmehr die Herausbildung von sozialdemokratischen Funktionären an, die er sich als Verkörperung von wahrhaften »Volkstribunen« vorstellte. Diese sollten in der Lage sein, »auf alle Erscheinungen der Willkür und Unterdrückung zu reagieren, wo sie auch auftreten mögen, welche Schicht und Klasse sie auch betreffen«.53

Tatsächlich ging es in Lenins Schrift weder darum, die Spontaneität oder das Elementare von Arbeiterprotesten über Bord zu werfen, noch um einen grundlegenden Zweifel am Klassenbewusstsein des Proletariats. Lenin wurde nicht müde zu betonen, dass er dem ökonomischen den politischen Kampf voranstellen wollte – nicht mehr und nicht weniger. Während die Reaktionen auf Was tun? zum Teil überzogene Assoziationen mit seiner »Erziehungsdiktatur« ab 1917 nach sich zogen, gediehen Lenins diesbezügliche Vorstellungen ganz unabhängig von der Frage, ob nun die Arbeiter erst auf die Notwendigkeit des politischen Kampfes eingeschworen werden mussten oder nicht.54 Die Reife der russischen Arbeiter für den politischen Kampf stellte er jedenfalls ebenso außer Frage wie die Erfordernis, ihnen bzw. der gesamten Bevölkerung politische Rechte zuzugestehen – unabhängig vom »zivilisatorischen« Entwicklungsniveau. 1899 meinte er: Es hieße, wie die »vor der Regierung auf dem Bauch kriechenden Federfuchser« zu denken, wenn man sage, »erst müsse das Volk erzogen« werden »und dann erst können ihm politische Rechte gegeben werden«.55 Die Aufgabe der Partei sollte es sein, im Zuge des Erkämpfens von Freiheitsrechten Anleitungen zu geben. Das sei auch für den ökonomischen Kampf nicht anders. Immer gebe es Führer, gebildetere Arbeiter, die weniger verständige Kollegen anleiteten.56

Es gab freilich triftige Gründe für den expliziten Auftrag einer gezielten Heranführung des Proletariats an die Inhalte des politischen Kampfes »von oben«. Für die Arbeiter, so etwa führte Lidija Dan – Julij Martows Schwester und Fjodor Dans Ehefrau – aus, war die Macht der Autokratie abstrakt, die der Polizei aber real. Sie verstanden jedoch nicht, dass es der Beseitigung der Autokratie bedurfte, um auch die verhasste Ochrana loszuwerden. In vielerlei Hinsicht begegneten die Sozialdemokraten bei ihren »Unterweisungen« der Arbeiterschaft ähnlichen Problemen, wie sie den Narodniki bei ihren Aufklärungskampagnen unter den Bauern vor Augen geführt wurden.57 Dass das Bewusstsein, einer bestimmten Klasse anzugehören, nicht ausreiche für den politischen Kampf und darüber hinausgehende Ziele, meinte 1898 bereits Parvus-Helphand. Vom »sozialrevolutionären Charakter einer Klasse zur Verbreitung der sozialrevolutionären Erkenntnis in dieser Klasse« sei »noch ein weiter Zwischenraum«. Parvus sah die Hauptaufgabe der Partei darin, den Arbeitern zu vermitteln, dass sie »eine Macht« seien.58

Die Reduktion des Widerstands gegen kapitalistische Unternehmer auf einen gewerkschaftlichen, syndikalen bzw. trade-unionistischen Kampf betrachtete Lenin jedenfalls schlichtweg als Verrat an den sozialistischen Ideen und als unverzeihliche Absage an den revolutionären Marxismus.59 Das war seine zentrale Botschaft und damit befand er sich durchaus in Einklang mit Losungen, die anlässlich des Gründungskongresses der Zweiten Internationale formuliert wurden. Dort hatten die Delegierten die Emanzipation der Arbeiterschaft ganz konkret vom Erkämpfen des Wahlrechts abhängig gemacht.60 Auch im Erfurter Programm der SPD konnte man nachlesen, dass der ökonomische Kampf der Arbeiterschaft gleichzeitig einer um politische Rechte sein müsse. Wörtlich hieß es dort: »Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendigerweise ein politischer Kampf. Die Arbeiterklasse kann ihre ökonomischen Kämpfe nicht führen und ihre ökonomische Organisation nicht entwickeln ohne politische Rechte. Sie kann den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein.«61

Wo es aber kein Wahlrecht gab, konnte es auch noch keine wie immer geartete Emanzipation geben. Das hieß also nach Lenins Verständnis, dass in Russland zunächst unweigerlich politische Rechte angestrebt werden mussten und dass diese Notwendigkeit der Arbeiterschaft klar und deutlich zu vermitteln war. Diese Aufgabe erachtete er als prioritär, die unterschiedlichen Voraussetzungen hierfür seien offensichtlich: In »Ländern mit politischer Freiheit« – so Lenin – sei der »Unterschied zwischen der gewerkschaftlichen und der politischen Organisation vollkommen klar, wie auch der Unterschied zwischen den Trade-Unions und der Sozialdemokratie klar ist«. Im Zarenreich hingegen werde durch den »Druck der Selbstherrschaft jeder Unterschied zwischen der sozialdemokratischen Organisation und dem Arbeiterverband verwischt«, weil »alle Arbeiterverbände und alle Zirkel verboten« seien und das wichtigste Werkzeug des »wirtschaftlichen Kampfes«, der Streik, kriminalisiert werde.62

Lenin musste in der Folge erkennen, dass seine Ausführungen zur Rolle der Gewerkschaften immer wieder, wie er meinte, missverstanden wurden – auch von der eigenen Anhängerschaft. Das Engagement für die Bildung von Arbeiterorganisationen sowie das Wirken in ihnen seien keineswegs hintanzustellen, klärte er ratlose Genossen später auf. Nur müsse man dort »von Anfang an den richtigen Ton« finden und die Arbeiter zum revolutionären Kampf erziehen.63 Seine Kritik an der »Nur-Gewerkschaftlerei« sei keineswegs mit einer prinzipiellen Ablehnung einer proletarischen Interessenvertretung auf dieser Ebene gleichzusetzen.64 Dass er syndikalistische Strömungen immer für gefährdet hielt, sich antirevolutionär und restaurativ zu entwickeln, bekräftigte er aber auch noch fast zwei Jahrzehnte später, als er gegen die sogenannte Arbeiteropposition in der eigenen Partei Stellung bezog.65

Avantgarde

In der Überbewertung der Spontaneität oder Urwüchsigkeit proletarischen Aufbegehrens sah Lenin indessen Ökonomisten und Terroristen eines Sinns. Die einen würden die Spontaneität der »reinen« Arbeiterbewegung »anbeten«, die anderen die Spontaneität oder das »Elementare« der »leidenschaftlichsten Empörung«.66 In beiden Fällen aber gehe es gewissermaßen um Nachhaltigkeit. Einzelne Terroraktionen, um die Arbeiter »aufzurütteln«, seien daher nicht nur zwecklos, sondern regelrecht überflüssig: »Gibt es denn«, meinte er, »im russischen Leben noch zu wenig Schändlichkeiten, daß man besondere ›aufrüttelnde‹ Mitteln erfinden muß? Und andererseits, wer selbst durch die in Rußland herrschende Willkür nicht aufgerüttelt wird und nicht aufzurütteln ist«, so Lenins Resümee, »der wird offenbar auch dem Zweikampf zwischen der Regierung und einem Häuflein von Terroristen ruhig zusehen und ›die Daumen drehen‹.«67 Lenin wollte vor diesem Hintergrund das aus seiner Perspektive eigentliche Problem von Ökonomismus und Terrorismus entlarven: das »Sich-Drücken« vor der »dringendsten Pflicht der russischen Revolutionäre«, das er in der Organisation einer umfassenden politischen Agitation erkannte.68

Darüber hinaus zielten seine Argumente auf eine, wie er es sah, angemessene Strategie ab: Anhand verschiedener Beispiele führte er vor, wie sehr es angesichts der besonderen Bedingungen im Zarenreich mit seinem Unterdrückungsapparat und den »Trupps von Lockspitzeln, Spionen und Gendarmen« angezeigt sei, professionelle Revolutionäre einzusetzen, anstatt einer Schar von Idealisten mit ihrer unbeholfenen »Handwerkelei« das Feld zu überlassen.69 Man riskiere ansonsten weiterhin Massenverhaftungen, eine unkoordinierte Bewegung und die weitere Zersplitterung vorhandener Kräfte. Daraus resultierte auch die Erkenntnis, dass eine »festgefügte Organisation« von Berufsrevolutionären sehr viel weniger angreifbar sein würde als eine Massenorganisation von Arbeitern, deren Aktivitäten die Polizei problemlos kontrollieren würde.70 Auch die Erfolge der deutschen Sozialdemokratie gründeten nach Lenins Dafürhalten vor allem auf den Taten einer geeigneten Führerschaft, einer Handvoll Männer, die mittlerweile im Parlament den Ton angaben und auch sonst den Kurs bestimmten.71 »Keine einzige revolutionäre Bewegung«, bilanzierte Lenin, »kann ohne eine stabile und die Kontinuität wahrende Führerorganisation Bestand haben.«72 Die »Zentralisierung der konspirativen Funktionen der Organisation« würde keineswegs die Bedeutung der »breitesten Massen« infrage stellen, sondern vielmehr für eine Potenzierung ihrer Aktivitäten zugunsten der Revolution sorgen.73 Und der konspirative Charakter der Partei, wie er in der Iskra skizziert worden war, hatte – so Lenin – entgegen den Vorwürfen von Kritikern nichts mit einer Neuauflage des »Narodowolzentums« zu tun, also mit den abgeschotteten Zirkeln jener Terroristen, die wenige Jahe zuvor u. a. auch seinen Bruder so beeindruckt hatten. Eine »Zentralisierung« konspirativer Tätigkeiten bedeute »keineswegs die Zentralisierung aller Funktionen der Bewegung«, beschwichtigte er.74 Vom Tisch wischte Lenin außerdem das, wenn man so will, »Demokratiedefizit« einer solcherart operierenden Gruppe professioneller Revolutionäre. Das demokratische Prinzip bedinge »erstens vollständige Publizität und zweitens Wählbarkeit aller Funktionäre«. Diese Voraussetzungen seien etwa in der »deutschen sozialistischen Partei« und einem Land mit einer Verfassung und einer Volksvertretung vorhanden, aber keineswegs in Russland, in der »Finsternis der Selbstherrschaft«.75 Lenin sprach verächtlich vom »Demokratismus« seiner Kritiker und von unrealistischen, naiven, ja »primitiven« Vorstellungen einer allumfassenden Mitbestimmung.76 Jenen, die der Iskra vorhielten, die Zukunft des russischen Marxismus wieder in die »Studierstube« einer kleinen Gruppe Intellektueller zurückzuholen, um dort die eigentliche Revolution womöglich zu verpassen, unterstellte er eine völlige Missdeutung seiner Agenda und damit auch jener der Zeitung. Gerade die Iskra sei es, die mit einer »das ganze Volk erfassende[n] politische[n] Agitation« die Revolution nicht nur nicht verschlafen werde, sondern sie geradezu voraussehen könne.77

»Zerfahrenheit«

Der Titel der Broschüre Was tun? nahm – so die gängige Darstellung – Anleihe bei Tschernyschewskijs gleichnamigem Band und damit einem überaus einflussreichen Buch. Der Utopie des verehrten Autors stellte Lenin in seinem Text die eigenen, durchaus überschwänglichen Vorstellungen von der Zukunft der russischen Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung im Zarenreich gegenüber. Das Potenzial einer revolutionären Entwicklung gerade im Romanowimperium schätzte er als enorm ein. Er betonte zwar die außerordentlichen Herausforderungen, denen die russischen Werktätigen angesichts der systematischen Unterdrückung durch die Autokratie gegenüberstanden, erblickte darin aber auch die Chance, die Arbeiterschaft im Zarenreich zur »Avantgarde des internationalen revolutionären Proletariats« zu machen.78

Was tun? illustrierte das Zerwürfnis mit all den Kritikern, die sich seit Bestehen der Iskra gegen Lenins Entwürfe für die Weiterentwicklung der russischen Sozialdemokratie zu Wort gemeldet hatten. Und die Schrift zeigte ungeachtet der damals noch vorhandenen Übereinstimmungen zwischen späteren Bolschewiki und Menschewiki die Zonen jener Differenzen auf, die nur kurze Zeit später die Hauptfelder der nachfolgenden Entfremdung modellierten. So sehr Lenin auf eine schlagkräftige und im Einklang operierende Partei hinarbeitete, so konfliktbeladen war die Stimmung ganz allgemein. Lenin sah sich einer heterogenen russischen Sozialdemokratie gegenüber, die sich dagegen sträubte, zu einer fragwürdigen Einheit zusammengeschweißt zu werden. Mit all ihren verschiedenen und – wie sich u. a. in Was tun? nachlesen lässt – geradezu diametralen Ansichten vom Wesen einer Partei und von ihren Aufgaben oder aber von der Rolle der Arbeiterschaft im Allgemeinen widerstrebte sie jener uniformen Bewegung, wie Lenin sie ansteuerte. Und das bereits vor der hochstilisierten Zäsur von 1903 und in einem Ausmaß, das die Antagonismen zwischen späteren Bolschewiki und Menschewiki in einigen Punkten vorwegnahm, in anderen übertraf. Noch bevor sich beispielsweise Rosa Luxemburg zu den, wie sie meinte, »Allmachtsfantasien« Lenins zu Wort meldete, dessen »Ultrazentralismus« tadelte und die »Vormundschaft eines allwissenden und allgegenwärtigen Zentralkomitees« als Spiegelbild des russischen Absolutismus identifizierte, waren es die geschmähten Ökonomisten, die Lenin die Stirn boten und ihn mit ihren Standpunkten herausforderten.79 Aus Sicht des streitbaren Marxisten stellten sie sich gegen seine Visionen, weil sie die Sozialdemokratie ihrer tatsächlichen Mission beraubten, aus ihrer Perspektive, weil sie davon überzeugt waren, dass alle Strömungen der Sozialdemokratie »auf dem Boden der Klasseninteressen des Proletariats« und »seines Klassenkampfes für die politische und wirtschaftliche Befreiung« stehen müssten.80 Alexander Martynow, der als einer der erklärtesten Gegner Lenins auftrat, prophezeite im Falle einer Parteientwicklung nach den Plänen der damaligen Iskra die völlige Auslöschung all jener »Spuren«, die die Sozialdemokratie bisher in Russland hinterlassen hatte. Die SDAPR würde zu einer »Organisation zur Verbreitung der Ideen einer Zeitung« verkommen.81 Tatsächlich ging es in Lenins Konzepten weniger um die »Allmacht« des ZK, sondern um den Einfluss, den die Iskra als Propagandaorgan im Allgemeinen und ihre Redaktionsmitglieder im Besonderen ausüben würden.

Im Schlussteil von Was tun? gab Lenin die Antwort auf die Frage, die er seinen Ausführungen vorangestellt hatte. Sie lief im Wesentlichen auf die unmissverständliche Absage einer reformorientierten Sozialdemokratie hinaus, die seiner Einschätzung zufolge die bisherige »Zerfahrenheit« fortführen, ja verschlimmern würde. Bereits 1899 hatte er sich in einem Zeitungsartikel die Arbeiterschaft in »Reih und Glied« vorgestellt, erfüllt von der Einsicht, Teil eines großen Ganzen zu sein.82 Während Lenins Konzepte in Zusammenhang mit Was tun? ebenso wie mit dem Parteitag 1903 später als Inbegriff des Befürwortens der Herrschaft einer kleinen, exklusiven Parteiclique interpretiert wurden, wollte er ursprünglich genau diesem »Zirkelwesen« und damit der Zersplitterung der Bewegung den Garaus machen. Selbstverständlich nach seiner Fasson.

Lenins Vorstellungen von Einheit und Disziplin kamen nicht ohne Deutschlandverweise aus und nicht alle in der SPD fühlten sich dadurch »geehrt«.83 Dass selbst Kautsky, den Lenin als »Gralshüter« eines »unverfälschten« Marxismus empfand, sich weigerte, eine Entgegnung des russischen Genossen auf Rosa Luxemburgs Angriffe gegen das Konzept der sogenannten Elitepartei in der Neuen Zeit zu drucken, muss ihn tief getroffen haben.84 Das wahrscheinlich umso mehr, als Kautsky noch 1902 in einem Gastbeitrag für die Iskra einen Kommentar zum revolutionären Potenzial in Russland abgegeben hatte, den Lenin als Bestätigung für seine optimistische Einschätzung einer Umwälzung und als Befürwortung für seine Konstruktion einer straffen Partei auffasste.85 Der SPD-Theoretiker aber wollte zwei Jahre später die bereits eskalierten Streitigkeiten zwischen den russischen Genossen nicht endlos in der deutschen Presse breitwalzen. Nach seiner Absage hinsichtlich der Veröffentlichung von Lenins Replik auf Luxemburgs Anwürfe wandte er sich jedenfalls brieflich an den brüskierten Genossen. Darin setzte er ihm die Gründe für seine Entscheidung im Detail auseinander. Ob Lenin auf diese Erklärung antwortete, ist nicht bekannt. Dass sie ihn nicht befriedigte, hingegen schon.86 Dies umso mehr, als er bereits einen Text vorbereitet hatte, in dem er sich gegen Luxemburgs Darstellungen wehrte.87

Zuspitzungen

Die Fronten verhärteten sich unterdessen auch gegenüber den Sozialisten-Revolutionären (SRy). Ausgangspunkt für die sozialdemokratischen Bestrebungen, nach dem anfänglichen Liebäugeln mit einer Art Bündnis nun klare Trennlinien zu ziehen, waren die 1902 in den Gouvernements Poltawa und Charkow ausgebrochenen Agrarunruhen bzw. die diesbezüglichen Schlussfolgerungen der PSR, die offenbar wieder ganz an die Ideale des früheren Narodnitschestwo anknüpften.88 Die altbekannte Berufung auf die Obschtschina als Keimzelle des »Dorfkommunismus« wurde daraufhin von Lenin ebenso torpediert wie die Forderung der SRy nach der »Sozialisierung des Bodens«. In dieser Losung sah er lediglich eine »phrasenhaft bemäntelte Nationalisierungsforderung bürgerlichen Charakters«, die sich »in der Illusion gefalle, den fortschreitenden Kapitalismus aus der russischen Agrargesellschaft hinwegdekretieren zu können«.89 Das Verharren in einem System der »Kleinwirtschaft« münde aber in Hunger und weiterer Verelendung.90

Lenin verwies die Bauernschaft auf ihren Platz: Sie könne »die Mission des Proletariats«, der Autokratie den »Todesstreich zu versetzen«, lediglich erleichtern, nicht aber deren »Hegemonie teilhaftig« werden.91 Andererseits aber skizzierte Lenin bereits ein Bündnisangebot an die sogenannte »Dorfarmut«. Dieses zielte in weiterer Konsequenz darauf ab, den Widerstand der armen gegenüber den reichen Bauern zu stimulieren.92 Gleichzeitig wollte er verdeutlichen, dass in einem ersten Schritt die Beseitigung der vorhandenen »Überreste der Leibeigenschaft« ein gemeinsames Anliegen der gesamten Bauernschaft sein müsse. Für die Phase danach, also für die soziale Revolution, könne der Klassenkampf aber nicht ausbleiben.93 Dass demgegenüber die SRy den »kleinbürgerlichen Charakter« der russischen Bauernschaft leugneten, verstelle ihnen, war Lenin überzeugt, die Sicht auf die engen Grenzen ihres Aufbegehrens, das sich ohne eine Stimulierung des Klassenkampfes mit der Aufhebung »feudaler Überreste auf dem Dorfe« begnügen werde.94

Die Anreize, die Lenin den armen Bauern offerierte, die seinen Darstellungen zufolge zwei Drittel der Höfe in ganz Russland bewirtschafteten, bezogen sich auf die Rückgabe von nach der Bauernbefreiung 1861 abgetrennten »Bodenstücken« (»Otreski«) und die Refundierung von Ablöse- und Fronzinszahlungen.95 Diese Lasten sollten nicht nur aufgehoben werden, sondern mehr noch: Lenin forderte die Rückerstattung »aller dem Volke abgenommenen Ablösegelder an das Volk« seit 1861 – ein Ansinnen, das viele seiner Parteikollegen für geradezu absurd, weil nicht realisierbar hielten.96 Ein großer Widerhall auf solche Ankündigungen blieb ohnehin eine Wunschvorstellung. Selbst die Sozialisten-Revolutionäre mussten nämlich erkennen, dass die Ansprechpartner für eine revolutionäre Politik am ehesten die Mittelbauern waren und nicht diejenigen, die Lenin der sogenannten »Dorfarmut« zurechnete.

Lenin bekam es mit vehementem Widerspruch aus den eigenen Reihen zu tun. Seine Ansichten über die Berücksichtigung bäuerlicher Interessen im Parteiprogramm erschienen manchen Sozialdemokraten als geradezu ketzerisch. Und so beeilte er sich, die Bedenken, die sich sogar innerhalb des Iskra-Kollegiums angesichts seiner ungewöhnlich anmutenden »Agrarthesen« geregt hatten, zu zerstreuen. Er berief sich nun auf die Notwendigkeit entsprechender Flexibilität. In einer bestimmten Phase der Revolution werde man die Forderung nach einer Nationalisierung des Bodens erheben. Für die »Zeit der politischen Sklaverei« seien die formulierten Forderungen, die sich auf das Überlassen lediglich bestimmter Anbauflächen an die Bauern beschränkten, aber ausreichend.97 Solche Erklärungen sollten nicht zuletzt jenen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen, die sich verblüfft gezeigt hatten über die Stärkung des bäuerlichen Privateigentums, die Lenin den Bauern in seinem Entwurf realiter versprach.98 Es gab also Erklärungsbedarf. Doch Lenins Erläuterungen zur Frage der Nationalisierung des Bodens besänftigen seine Gegner nicht – im Gegenteil. Was Lenin vor Augen stand, könne, ließen ihn die eigenen Mitstreiter wissen, nur als »Prolog zur Sozialisierung aller Produktionsmittel« erwogen werden.99 Mit der Sozialisierung als Perspektive für die Lösung der Agrarproblematik propagierten wiederum die Sozialisten-Revolutionäre allerdings eine »Vergesellschaftung« des Bodens, welche hingegen die Bauern in der Regel lediglich mit der Enteignung des adeligen Grundbesitzes gleichsetzten. Die Tragweite dessen, was die SRy als Gegenmodell zu einer weiteren kapitalistischen Entwicklung im Agrarsektor anboten, erfasste ihre Anhängerschaft im Regelfall nicht oder nur fragmentarisch. Die gemeinschaftliche Bearbeitung des Bodens entsprach einem Ideal, das die Realität bäuerlicher Bedürfnisse nur sehr bedingt berührte.

Das größte Problem stellte demgegenüber primär die Landarmut dar. Um 1900 besaß ein erheblicher Anteil der Bauern zu kleine Parzellen. Der enorme Anstieg der Geburtenrate, der in nicht einmal vier Jahrzehnten die Zahl der Landbevölkerung von 50 auf 79 Millionen anwachsen ließ, verschärfte die ohnehin prekäre Lage. Die Dorfgemeinde bot vor diesem Hintergrund eine höchst fragwürdige Hilfestellung an: »Die egalitären Gepflogenheiten der Bauern boten ihnen wenig Anreiz, etwas anderes zu produzieren als Kinder, denn die Gemeinde verteilte das Land nach Anzahl der zu fütternden Mäuler auf die Haushalte.«100

Plechanow rechnete indessen mit Lenins Vorschlägen für die Agrarproblematik ab. Von einer Nationalisierung des Bodens wollte er generell nichts wissen – egal, in welchem Stadium der Revolutionsentwicklung sie Lenin verortete.101 Man könne nicht etwas als Ziel vorgeben, das in die Ära des Sozialismus gehöre oder einfach nicht dem Entwicklungsniveau in Russland entspreche.102 Und schließlich gab es auch Sozialdemokraten, die – Taktik und Flexibilität hin oder her – keinen Sinn darin sahen, die Bodenfrage überhaupt zu behandeln, geschweige denn aktiv auf die Bauern zuzugehen. Wer nicht dem Proletariat angehöre, sei »belanglos« und bestenfalls »das fünfte Rad am Wagen«.103 Auch in dieser Hinsicht kamen Lenin Karl Kautskys Schlussfolgerungen entgegen. Dieser hatte sich 1899 in einem umfangreichen – gleichlautenden – Buch mit der Agrarfrage auseinandergesetzt und eingeräumt, dass sich ungeachtet der tiefen Kluft zwischen Bauern und Proletariat sowie des Widersinns, sich mit einer Art »Bauernschutz« zu befassen, die Beschäftigung mit der Thematik aufdränge. Immerhin befinde sich auch die landwirtschaftliche Produktion im Umbruch und die Agrarkrisen der Vergangenheit hatten für die Herausbildung eines »Landproletariats« gesorgt. Man werde zwar die Bauern nie für sozialdemokratische Ziele begeistern, sie aber vielleicht zumindest als Gegner ausschalten, d. h. »neutral« stimmen können.104 Das bedeutete folgerichtig nicht, das Selbstverständnis der SPD als »Klassenpartei der Industriearbeiter« in irgendeiner Weise infrage zu stellen und auf Stimmenfang unter der Bauernschaft zu gehen. Es sei, meinte Kautsky, »nicht unsere Aufgabe, Mitläufer heranzuziehen«.105

Lenin hatte Kautskys Buch Die Agrarfrage nicht nur enthusiastisch rezensiert, sondern er entnahm ihm Ansichten, die auch für seine Anschauung von der Thematik richtungsweisend wurden; darunter etwa die Forderung nach »Abschaffung aller Überreste des Feudalismus in der Landwirtschaft« bei gleichzeitigem Verzicht auf die »Hemmung« einer kapitalistischen »radikalen Umwälzung« des Agrarwesens – so sehr ihm die Unterschiede der Landwirtschaft im Westen und in Russland bewusst waren und so sehr er das auch gegenüber mäkelnden Genossen klarstellte.106 Von Bedeutung in diesem Zusammenhang war überdies auch Kautskys Plädoyer für genossenschaftlich organisierte landwirtschaftliche Großbetriebe, das er der vom bloßen Fortschrittsglauben geleiteten Begeisterung für die industrielle Entwicklung entgegensetzte.107

Zentralismus

Während sich in der Zwischenzeit Lenins Verständigung mit engen Weggefährten immer schwieriger gestaltete, misslang sie erst recht mit »Andersgläubigen«. Letztlich führte alles, wofür Lenin eintrat, nicht zu einer Verbreiterung der Basis im Kampf gegen die Autokratie, sondern zum genauen Gegenteil. Auf dem Altar der »Rechtgläubigkeit«, des Purismus marxistischer Lehren – wie er sie interpretierte –, opferte er die zartesten Ansätze einer Kooperation mit anderen regimegegnerischen Gruppen. Die Türen wurden in der Folge auch gegenüber den Liberalen bzw. den späteren Konstitutionellen Demokraten bzw. Kadety zugeschlagen, wobei nicht zuletzt auch die persönlich motivierte Abneigung gegenüber dem »Überläufer« Struwe zum Tragen kam.108 Das »Kokettieren« der Liberalen »mit der Autokratie«, das nach außen hin in ungezügelten Polemiken gegeißelt wurde, spielte intern, also in den Reflexionen der Iskra-Gruppe, aber anscheinend eine geringere Rolle als die befürchtete Anziehungskraft, die sich aus liberalen Positionen für die revolutionäre Intelligenzija ergeben konnte. Nicht alle Linken zierten sich indessen, Kontakte zu anderen politischen Kräften zu knüpfen. Für die SRy stellten sich die Hürden einer Annäherung an die Liberalen insofern als kleiner dar, als diese allein angesichts demografischer Fakten aus dem sicheren Gefühl der Überlegenheit erfolgen konnte. Im »Ringen zwischen Autokratie und Revolution würde« am Ende dann doch »für eine bürgerliche Klassengesellschaft kein Platz sein« und der Übergang zum »Elysium« einer »bauernsozialistischen Gesellschaftsordnung« könne – im Unterschied zum Westen – auch ohne den Umweg über die bürgerliche Herrschaft erfolgen.109

Dissonanzen prägten überdies die Kontakte mit den Bundisten, also den Vertretern des Jüdischen Arbeiterbundes, die sich beispielsweise bereits am Plan zur Durchführung eines 2. Parteikongresses stießen. Ihren Überlegungen zufolge war das, was 1898 in Minsk erschaffen wurde, längst begraben. Die Partei war tot. Es bedurfte demnach eines konstituierenden Parteitages. Von einer Neugründung erwartete man schließlich auch die Regelung der Stellung des Bundes. Eine Interessenkollision mit den Zentralisierungsfantasien der Iskra – oder besser gesagt Lenins – war unausweichlich. Aus Sicht der Bundisten ging es um die gleichberechtigte Partizipation »national gebundener Organisationen«: »Die Sozialdemokratie Rußlands sollte keine mehrsprachig agitierende Einheitspartei werden, sondern die Arbeiterbewegung des Vielvölkerstaates in föderativen Formen zusammenfassen, als Modell gleichsam für die Ordnung der Nationalitätenbeziehungen in einem freien Rußland.«110 In diesem Zusammenhang wurde auf die Föderation der sozialdemokratischen Arbeiterparteien aller Nationen Österreichs verwiesen, die sogenannte »Kleine Internationale«, die, auf der Autonomie der Organisationen beruhend, eine Gesamtvertretung der einzelnen »Sub-Parteien« an der Spitze hatte.111 Gleichzeitig preschte der Bund aber auch mit einem Alleinvertretungsanspruch des jüdischen Proletariats hervor. Die Anstrengungen der jüdischen Genossen in Hinblick auf die Vorbereitungen für den einzuberufenden Parteitag machten den Bund überdies in Lenins Augen zu einem unliebsamen Konkurrenten. Er sprach in diesem Zusammenhang von einem »Kriegszustand«. Man solle den Bundisten zwar nicht »direkt die Zähen einschlagen«, aber auch keine unnötigen Zugeständnisse machen.112

Ein Vertretungsrecht für nationale Gruppen war in Lenins Plänen von vornherein nicht vorgesehen, ein föderatives Organisationskonzept widersprach seinen und den Vorstellungen der Iskra. Immerhin galt es, die Einheit der Partei anzustreben – ein Ziel, das damals auch Martow den Bundisten vor Augen hielt, indem er den »Vereinheitlichungsprozess« mit einer »imperialistischen« Taktik verglich und die »Hegemonie der Partei über ihre Teile« rechtfertigte.113 Hinsichtlich des später so gescholtenen Zentralismus folgte Lenin nach eigenem Dafürhalten außerdem Marx und dessen Positionen.114 Rosa Luxemburg aber brachte andere Argumente in diesem Zusammenhang vor, die allerdings nur bedingt überzeugten. Immerhin musste auch sie der Sozialdemokratie im Allgemeinen einen starken zentralistischen »Zug« attestieren. Lediglich der österreichischen Partei ob der »abnormen« Verhältnisse im Habsburgerreich gestand sie eine »Ausnahme zugunsten des förderalistischen Prinzips« zu.115 Wie aber sollte die »Zusammenführung aller Gruppen und Grüppchen, Zirkeln und Sekten im Russischen Reich und im Exil«116 gelingen, wenn das, was Lenin anzubieten hatte, anscheinend in der Allmacht der »Iskristen« gipfelte? Genau diesen Eindruck nämlich vermittelten ihre bzw. Lenins Pläne in der Beurteilung der Kritiker.

Die wütenden Rundumschläge, die den politischen Konkurrenten galten und in Was tun? noch einmal eine verbale Zuspitzung erfuhren, hinterließen ihre Spuren – auch innerhalb der Iskra, die ihre Redaktion mittlerweile aufgrund der drohenden polizeilichen Verfolgung aus München abgezogen und nach London verlegt hatte.

An der Ausformulierung des Parteiprogramms, mit dem sich Lenin bereits während seiner Haft in St. Petersburg befasst hatte und das bis zum geplanten Parteitag vorliegen sollte, entzündeten sich in internen Diskussionen also erwartbare, aber zum Teil auch weniger vorhersehbare Konflikte. Die Meinungsverschiedenheiten mit Plechanow hatte Lenin unterschätzt. Es ging um Spitzfindigkeiten ebenso wie um persönliche Eitelkeiten, aber auch um die strittige Akzentuierung ganz prinzipieller Standpunkte. Das Kleinbürgertum beispielsweise hatte Plechanow in seinen Entwürfen nach Lenins Ansicht viel zu positiv gezeichnet, anstatt dessen »konservativen«, ja »reaktionären« Charakter entsprechend hervorzuheben. Und Plechanow echauffierte sich umgekehrt über Einschätzungen Lenins, die den Entwicklungsgrad des russischen Kapitalismus betrafen. Diesen hielt er für weit weniger ausgeprägt, als der Kritisierte immer wieder behauptet hatte. Plechanow plädierte ungeachtet Lenins Einwürfe weiterhin für eine angemessene Interpretation Marx’scher Aussagen über die reaktionäre Haltung nicht-proletarischer Schichten. Dessen Analysen seien für Deutschland im Revolutionsjahr 1848 zutreffend gewesen, nicht aber für das Hier und Heute und noch weniger für Russland.117

Untergrund-SPD?

Lenin galt auch innerhalb der Iskra-Redaktion als »Dogmatiker«, nach Vera Sassulitschs Ansicht gar als einer »von Kopf bis Fuß«.118 Trotzdem hinderten ihn seine Überzeugungen nicht daran, pragmatisch vorzugehen. Vor allem, wenn es um Fragen der Finanzierung revolutionärer Aktivitäten bzw. um das Lukrieren von Mitteln für die Herausgabe von Zeitungen ging. Geld hierfür floss u. a. von russischen Industriellen, die dermaßen überzeugt waren vom Untergang des Regimes, dass sie es für nützlich hielten, sich mit oppositionellen Kräften und möglichen Entscheidungsträgern von morgen rechtzeitig zu arrangieren. Als hilfreich in dieser Hinsicht hatten sich für Lenin nicht zuletzt die verzweigten Kontakte des Schriftstellers Maxim Gorki erwiesen, dessen Haltung gegenüber den Bolschewiki allerdings von schwankender Sympathie geprägt war.

Lenin setzte indessen auch in theoretischen Fragen auf Elastizität. Freilich immer nach seiner ganz speziellen Art: Dort, wo es ihm angebracht erschien, plädierte er für Interpretationen des Marx’schen Lehrgebäudes, die er als geradezu zwangsläufiges Ergebnis tatsächlicher und, wie er meinte, tiefgründiger Kenntnis desselben präsentierte. Das betraf auch die »Diktatur des Proletariats« als Voraussetzung für die soziale Revolution. Sie sollte der bürgerlichen folgen und eine Übergangsphase hin zur klassenlosen Gesellschaft darstellen. Marx selbst hatte sich nur wenige Male und nur sehr vage zu jener »politischen Übergangsperiode« geäußert, die für die Bolschewiki so große Bedeutung erlangen sollte.119 Das wiederum erleichterte das »Jonglieren« mit Zitaten.120 Viele nützten den Interpretationsspielraum für eine moderate Auslegung und wähnten sich dabei außerdem konform mit Marx selbst: Er habe die Diktatur der Mehrheit gemeint, und zwar nicht als Regierungsform, sondern als gesellschaftliche Realität.121

Eduard Bernstein wiederum erachtete die »Diktatur des Proletariats« fast zwei Jahrzehnte, bevor Lenin sie verwirklichen wollte, als gefährliche Utopie: »Die Diktatur des Proletariats heißt, wo die Arbeiterklasse nicht schon sehr starke eigene Organisationen wirtschaftlichen Charakters besitzt und durch Schulung in Selbstverwaltungskörpern einen hohen Grad von geistiger Selbständigkeit erreicht hat, die Diktatur von Klubrednern und Literaten. Ich möchte denjenigen, die in Unterdrückung und Chikanirung der Arbeiterorganisationen und Ausschluß der Arbeiter aus der Gesetzgebung und Verwaltung den Gipfel der Regierungskunst erblicken, nicht wünschen, einmal den Unterschied in der Praxis zu erfahren. Ebenso wenig würde ich es für die Arbeiterbewegung selbst wünschen.«122

Bis heute ist strittig, ob Lenin mit seinen damaligen Äußerungen zu einer »Diktatur des Proletariats« bereits die Grundrisse jener Herrschaft gezeichnet hat, die er und seine Bolschewiki ab 1917 in Russland etablierten.123 Uneinigkeit herrscht auch über die Charakterisierung von Was tun? als »häretisches«, d. h. vom Marxismus bereits zum Leninismus übergehendes Dokument. Kategorische Antworten darauf mögen wirkungsvoll sein.124 Aber sind sie auch zielführend? Muss Was tun? nicht vor allem als Bekenntnis eines orthodoxen Marxisten angesehen werden bzw. eines Marxisten, der sich für orthodox hielt und gleichzeitig an einem Marxismus für russische Verhältnisse »bastelte«? An einem Marxismus im Übrigen, den auch seine Galionsfiguren nicht als starre »Bedienungsanleitung« verstanden.125 Oder ging Lenins »Orthodoxie« schon damals weit über das hinaus, was zum Beispiel Kautsky darunter verstand?

Die Neuinterpretation und Neuübersetzung des berühmten Lenin-Textes durch den amerikanisch-kanadischen Historiker Lars Lih ist zweifellos zu Recht gewürdigt worden. Dessen Schlussfolgerungen, die nicht zuletzt darauf abzielen, Lenin als überzeugten »Erfurtianer«, also Anhänger des Erfurter Programms der SPD bzw. einer »Erfurter SPD«, darzustellen, verweisen auf das »Fortschreiben« teilweise verzerrender Auslegungen von Lenins Schrift in der Historiografie bzw. auf problematische Gewichtungen von Aussagen. Die »skandalösen Passagen«, wie Lih sie nennt, also jene über das Klassenbewusstsein, das nur von außen an die Arbeiterschaft herangetragen werden könne, oder über den »Kampf mit der Spontaneität«, sind tatsächlich alles andere als skandalös – im Sinne von außergewöhnlich. Dafür gibt es mehrere Gründe. Etliche von Lenins Aussagen – nicht nur in Was tun?, sondern auch in vielen weiteren Schriften – reduzieren das russische Proletariat keineswegs auf eine ganz und gar auf Führung angewiesene Gruppe von Befehlsempfängern. Im Gegenteil, Lenin sah die Entwicklung der Arbeiterschaft alles in allem optimistisch und betonte bisherige Errungenschaften. Seine Polemik gegen eine »Nur-Spontaneität« war außerdem eine nachvollziehbare Absage an einen Aktionismus, der ohne Systematik blieb. Selbst wenn man aber zum Schluss kommt, dass Lenin Kautskys Aussagen in diesem Zusammenhang entstellt hat, bleibt dennoch festzuhalten, dass auch Marx und Engels sich in ihren diesbezüglichen Wortmeldungen verschiedene »Beziehungen« zwischen Partei und Arbeiterschaft bzw. verschiedene »Aufgaben« Ersterer vorstellen hatten können.126

In Summe mahnen Lihs Erkenntnisse aus der Neuübersetzung von Was tun? gewiss zu einer differenzierten Bewertung dieser Schrift, vermögen aber nicht auszublenden, dass bei all der demonstrativen Nähe Lenins zu den »deutschen Brüdern« bereits damals ein Weg für die russische Partei skizziert wurde, der vom zeitgleichen Kurs der SPD eklatant abwich. Daran vermochten auch die evidenten Überlappungen in den Parteiprogrammen von SPD und SDAPR wenig zu ändern. Lenin setzte mit seinem Aufbauwerk bei einer völlig anderen Entwicklungsstufe an, nämlich bei den historischen Vorläufern der SPD bzw. der Sozialdemokratie im Gesamten, also bei den Anfängen der Bewegung und ihren geheimbündlerischen Grundlagen. Ungeachtet der offensichtlichen inhaltlichen Überschneidungen beim Parteiprogramm und Lenins angeblichem Bestreben, soweit wie möglich dem SPD-Vorbild zu folgen und so wenig wie nötig von ihm abzuweichen, lag der augenscheinliche Unterschied zur deutschen Partei, wie sie zu Lenins Lebzeiten bestand, ganz einfach in der Ungleichzeitigkeit ihrer jeweiligen Aufgaben.127 Von einer Massenpartei war man in Russland mit oder ohne dem Konzept einer Kader-Partei als alternative Konstruktion und ungeachtet der gewählten Agitationsmethoden noch Universen entfernt.

Niemand, meinte auch Lidija Dan, habe bei aller Nähe zur SPD damals daran geglaubt, dieses Modell ganz einfach nach Russland tragen zu können. Weder inhaltlich noch hinsichtlich des Aufbaus.128 Bezeichnenderweise winkte auch Karl Kautsky ab. Die »Nutzanwendung deutscher Erfahrungen aus der Zeit des Sozialisten-Gesetzes« auf die russische Partei sah er skeptisch. Insgesamt erschöpften sich seine Ratschläge für die Genossen aus dem Zarenreich aber in Appellen an Einigkeit und Konsensbereitschaft.129 Lenin selbst fand schon allein Kautskys Heranziehung eines Vergleichs der russischen Situation mit jener Deutschlands in den Jahren der Repression vollkommen überflüssig, weil »irreführend«.130 Er hatte eigene Vorstellungen. Mit seinem Parteikonzept tendierte er offenbar zu einer Art Verbindung zwischen der Anfangszeit der deutschen, aber auch aller anderen sozialdemokratischen Parteien auf der einen und der erneuerten »orthodoxen« Ausrichtung der SPD ab 1891 auf der anderen Seite. Er stückelte zusammen – inhaltlich und organisatorisch. Damit glaubte er, den Herausforderungen der russischen Bedingungen am ehesten entsprechen zu können. Das Proletariat im Zarenreich kämpfe, meinte er, gegen ein »Ungeheuer« – also das autokratische Regime –, »mit dem verglichen das Sozialistengesetz in einem konstitutionellen Lande« – hier meinte er die Verbotsära in Deutschland –, »als wahrer Zwerg erscheint«.131

Wenn Lenin Berührungsängste gegenüber seinen Vorstellungen von einer konspirativ arbeitenden Partei als Ausdruck des »Opportunismus« definierte,132 dann begriff er sich selbst als Anhänger Kautskys. Gleichzeitig lag auf der Hand, dass die deutschen Genossen bei aller Verurteilung Bernsteins, der im Übrigen das Erfurter Programm gemeinsam mit Kautsky verfasst hatte, kaum dazu übergehen würden, sich unbedarft auf eine radikale Politik mit dem Potenzial eines Rückfalls in die Verbotsära zu verlegen. Dafür gab es kaum Anhaltspunkte. Lenin aber sah, was er sehen wollte: eine SPD, die sich mit dem Erfurter Programm marxistischer Prinzipien besann.133 Sie war für Lenin inmitten des Revisionismusstreits diejenige Partei, die dem »Opportunismus« am meisten entgegensetzte – mehr zumindest als etwa die Genossen in Frankreich und Italien.134 Das allein machte die SPD zum zentralen Orientierungspunkt. Die deutsche Partei galt darüber hinaus als die »Lokomotive« der Internationale.135 Im Erfurter Programm spiegelte sich das Credo eines gemeinsamen, länderübergreifenden Kampfes für die »Befreiung des gesamten Menschengeschlechts« besonders deutlich wider.136

»Kein Faulbett«

Die Iskra stellte sich Lenin als Instrument zum Zwecke der Sammlung und Schulung einer »Armee von erprobten Kämpfern« vor. »Aus dem Gerüst dieses gemeinsamen organisatorischen Baus«, schwärmte er in Was tun?, »würden aus den Reihen unserer Revolutionäre bald sozialdemokratische Scheljabows, aus den Reihen unserer Arbeiter russische Bebels emporsteigen und hervortreten, die sich an die Spitze der mobilisierten Armee stellen und das ganze Volk zur Abrechnung mit der Schmach und dem Fluche Rußlands führen würden. Das ist es, wovon wir träumen müssen!«137 Lenin wünschte sich also mutige Aktivisten und liebäugelte – man denke an den Zarenattentäter Scheljabow – ganz offenbar mit dem Terrorismus der »Narodnaja Wolja«.

Schon der Schriftsteller Dimitrij Pissarew, der auch seinen Bruder Sascha so beeindruckt hatte, argumentierte Lenin, habe das Träumen auch angesichts schier unüberwindbarer Distanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit für legitim, ja nützlich gehalten. Nur so könnten große Ziele erreicht werden: »Gibt es nur irgendeinen Berührungspunkt zwischen Traum und Leben, dann ist alles in bester Ordnung.«138

Ihre Stellung als dezidierte Oppositionelle erlegte den russischen Sozialdemokraten nicht jene Rücksichtnahme gegenüber dem bestehenden Herrschaftssystem auf, die in Deutschland notwendig war. Friedrich Engels wiederum hatte unter den deutschen Genossen offenbar denselben »Mut zum Träumen« vermisst, wie Lenin unter seinen Mitstreitern. Engels wies vor diesem Hintergrund auf die Überwindung des Obrigkeitsstaates als Grundvoraussetzung für die Verwirklichung sozialistischer Ziele hin und forderte solche Postulate für das Erfurter Programm ein.139 Während die SPD aus Sorge um ihre legale Existenz »umstürzlerische« Forderungen nicht offen erheben konnte und Wilhelm Liebknecht außerdem »das Revolutionäre« nicht »in den Mitteln, sondern im Ziel« erkannte und obendrein Gewalt als »reaktionären Faktor« identifizierte, beinhaltete das 1903 von den russischen Sozialdemokraten verabschiedete Parteiprogramm ganz offen den Sturz des Zarismus als anzustrebendes Ergebnis.140

Russland war »anders« und die russische Sozialdemokratie war es auch. Dass es weder eine »Schablone« für den »Zukunftsstaat« noch eine für die »proletarische Bewegung der Gegenwart« geben könne, hatte neben Karl Marx und Friedrich Engels auch Karl Kautsky bereits 1895 festgehalten. Er wandte sich des Weiteren gegen Vorstellungen der »Einförmigkeit« und betonte: »Die theoretische Grundlage der Sozialdemokratie ist […] kein Faulbett, in dem die nachkommenden Vertreter derselben bequem auf den Leistungen ihrer Vorfahren ausruhen können. Der Fortgang der Entwicklung erzeugt stets neue Probleme und die theoretische Grundlage bietet nicht ohne Weiteres deren Lösung, sondern nur den Ausgangspunkt, um zu derselben zu gelangen.«141

Lenin stimmte zu. Er betrachtete außerdem die deutsche Arbeiterbewegung als Profiteurin ihrer »Vorläufer« in England und Frankreich und hielt den innerhalb der internationalen Sozialdemokratie errungenen »Ehrenposten« der SPD nur dann für längerfristig gesichert, wenn deren Führer ihre Anstrengungen in Bezug auf »Kampf und Agitation« forcieren, ja »verdoppeln« würden.142 Schon Parvus hatte der SPD eine noch konsequentere Abwehr des »Opportunismus« verordnet. Ihn identifizierte er verächtlich als »Nationalliberalismus, der sich den besonderen Verhältnissen einer parlamentarischen Arbeiterpartei anpasst«. Demgegenüber vernachlässige die SPD ihre »sozialrevolutionären« Aufgaben. »Der Opportunismus«, warnte er, bedeute »ein Nachlassen der politischen Energien auf allen Gebieten, eine allgemeine Deroute, eine Konfusion und Ratlosigkeit«.143

Lenin hatte Was tun? nach eigener Darstellung als Schrift wider Konfusion und Ratlosigkeit verfasst. Wenn er sie wie den gleichlautenden Roman von Tschernyschewskij betitelte, dann hatte das womöglich weniger mit der literarischen Vorlage zu tun als mit einem vorangegangenen publizistischen Schlagabtausch mit seinen Kritikern. Aufmerksame Leser vermögen in Was tun? mehr Hinweise auf diesen Konflikt mit den Ökonomisten, auf die deutschen Sozialdemokraten Karl Kautsky und August Bebel, aber eben auch auf die »Scheljabows« und damit die Terroristen der »Narodnaja Wolja« zu entdecken als auf Tschernyschewskijs Buch.144 Trotzdem spiegelt sich in Lenins Text zweifellos bereits der Anspruch wider, die gesamte Gesellschaft in den revolutionären Kampf einzubeziehen – so wie sich das der Roman-Held in Was tun? von Tschernyschewskij, Rachmetow, vorgenommen hatte.145

Auch wenn sogar kritische Rezensenten von Lihs Was tun?-Analyse zu dem Schluss kommen, dass Lenin 1902 keine »Partei neuen Typs« konstruiert hatte und dass diese eher eine Erfindung von Historiker:innen gewesen ist, zwingt die Lektüre weiterer Lenin-Texte sehr wohl dazu, sich zu fragen, ob Lenins Vorstellungen von der russischen Partei wirklich »nur« dem Geist des orthodoxen, anti-ökonomistischen Marxismus entsprachen.146 Dabei zu berücksichtigen ist ebenfalls, dass in Anbetracht des Interpretationsraums, den der Marxismus bot, die orthodoxe Version, die Lenin vertrat, nicht notwendigerweise dieselbe war, die andere als »rechtgläubig« definierten.

1904, in seiner Broschüre Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, legte Lenin ergänzende Betrachtungen über das Wesen der Partei dar.147 Das Ergebnis seiner nunmehrigen Überlegungen war sicher nicht das »unschuldige« Kopieren des SPD-Vorbilds, das er im Übrigen bei verschiedenen Gelegenheiten einigermaßen unmissverständlich und entschieden für auf Russland in keiner Weise übertragbar abtat. Als Resultat des damals bereits seit Monaten tobenden Kampfes unter den Fraktionen hatte sich die Notwendigkeit, ganz anders sein zu müssen, noch klarer in den Vordergrund gedrängt. Lenin formulierte seine Standpunkte jetzt noch schärfer als in Was tun? Ungeachtet der unmissverständlich zum Ausdruck gebrachten Überzeugung von der Partei als höchster Instanz der Arbeiterbewegung und organisatorischer wie ideeller Zentrale betrachtete sich der spätere Revolutionsführer zweifellos aber nach wie vor auf Linie mit der gesamten westlichen anti-revisionistischen Sozialdemokratie – wie er sie eben sehen wollte. Daran, dass er sich dabei an den in seinen Augen »wahrhaften« Marxisten und damit vorrangig an Kautsky als Vordenker orientierte, ließ er auch hier keinen Zweifel. Das Dilemma der damaligen Sozialdemokratie, zwischen Revolution und Reform zu schwanken oder beides zu wollen, quälte Lenin im Unterschied zu vielen seiner Genossen in Russland sowie im Ausland und anders als insbesondere Karl Kautsky nicht.

»… im Einklang …«

Lenins Insistieren auf die Erwähnung der »Diktatur« im Parteiprogramm von 1903 war ursprünglich die Betonung der »sozialen Revolution« vorangegangen. Dieses Ziel befand sich dann ebenso im Parteiprogramm wie die »Diktatur des Proletariats«.148 Ganz einfach deswegen, weil das eine ohne das andere nicht realisierbar schien. Während Kautsky später behauptete, dass nicht die soziale Revolution das eigentliche Ziel der Sozialdemokratie sei, sondern – wie im Erfurter Programm festgehalten – der Kampf gegen jede Art von Ausbeutung, erachtete Lenin solche Deutungen einer »marxistischen Mission« als völlig unzulässige Verstümmelung.149 Im russischen Programm wurde das »Endziel« bzw. die soziale Revolution ganz konkret angesprochen. Und die russische Partei als »Truppenteil der Weltarmee des Proletariats« trat nun an, um sich der Erfüllung der damit verbundenen Aufgaben zu widmen. Dem Selbstverständnis der Internationale folgend wurde die soziale Revolution als »weltumfassendes Ziel« der Sozialdemokratie gesehen. Die Partei konnte sich schon deshalb nicht damit begnügen, sich allerlei Strategien für ihre Rolle in einer bürgerlichen Revolution auszudenken.150 Das schien von Anfang an klar zu sein. Von der Notwendigkeit einer Weltrevolution war Lenin unter diesen Vorzeichen überzeugt. Sie firmierte als nicht zu hinterfragende Selbstverständlichkeit – lange bevor er sich den konkreten Möglichkeiten der Realisierung dieses Szenarios zuwandte.151 Zuletzt hatten die bürgerlichen Revolutionen von 1848 auf die Kraft des Aufbegehrens über Staatengrenzen hinaus verwiesen. Diesem Beispiel sollte auch die proletarische Revolution folgen – als internationales Phänomen. Gerade die spezielle Situation Russlands ließ das ausländische Proletariat als Verbündeten erscheinen, der fast schon zuverlässiger erschien als das eigene. Umso klarer formuliert wurde im russischen Parteiprogramm die Internationalität der Sozialdemokratie, ihr gemeinsames Ziel, auf das, wie es sinngemäß hieß, den Voraussetzungen in den jeweiligen Ländern entsprechend auf unterschiedliche Art und Weise hingearbeitet werden müsse.

Diese, man könnte fast sagen, »Beschwörung« der Gemeinsamkeit stach als zentrales Merkmal der »Verfassung«, die sich die SDAPR gab, hervor. All das lässt sich beinahe als direkte Replik auf jenen Auftrag lesen, den Karl Kautsky der russischen »Bewegung« schon 1902 in einem Artikel für die Iskra mit auf den Weg gab. Sie werde als »Quelle revolutionärer Energie« den »Geist kraftlosen Philistertums und passiver Politikasterei« im Westen austreiben helfen und den »Kampfesdurst und die leidenschaftliche Ergebenheit gegenüber unseren Idealen […] von neuem entzünden«.152

Kautsky versprach vollmundig die tätige Solidarität der Internationale, indem er den russischen »Kampf« zur gemeinsamen Sache der gesamten Sozialdemokratie hochstilisierte und eine unauflösliche Schicksalsgemeinschaft skizzierte – »auf dass unser Sieg auch ihr Sieg sei, unsere Niederlagen auch die ihren. In einem solchen Bunde, mit solcher Unterstützung werden wir in der Tat unbesiegbar sein!«153 Mit derartigen Aussichten ausgestattet bzw. abgesichert knüpfte sich an Lenins Begeisterung für die Idee der Weltrevolution die hehre Aufgabe, aus dem russischen Proletariat die Avantgarde des internationalen revolutionären Proletariats zu formen und gleichzeitig die Revisionisten abzudrängen bzw. auszuschalten. Lenin ließ keinen Zweifel daran, dass er die Botschaft des deutschen Genossen ernst nahm. In Was tun? lieferte er hierfür den ersten Beleg.154

Es bedurfte aber nicht nur der Aussagen Kautskys, um die soziale Revolution als Werk der europäischen Sozialdemokratie bzw. als Aufgabe der Gegenwart oder nahen Zukunft zu begreifen. Diesbezüglich hatte Trotzki Texte etwa von Alexander Parvus-Helphand hervorgehoben. Lenin kannte diese Schriften gewiss ebenso.155 Parvus gab sich darin in jedem Fall überzeugt von der »gemeinsamen Aufgabe« der »sozialen Revolution«, die der Internationale bevorstehe – als quasi natürliche Konsequenz der veränderten wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Solcherart äußerte er sich beispielsweise 1896 anlässlich des Londoner Kongresses der Internationale in der Sächsischen Arbeiter-Zeitung.156

Die explizite Betonung der sozialen Revolution im russischen Parteiprogramm hielten Parvus und Kautsky damals, also um die Jahrhundertwende, für genauso nachvollziehbar wie die Erwähnung der »Diktatur des Proletariats«. Im Rahmen des Internationalen Sozialistenkongresses, der 1900 in Paris stattfand, hatte auch der französische Sozialdemokrat Jules Guesde explizit von der Notwendigkeit einer »Diktatur des Proletariats« gesprochen.157 Selbst in der reformorientieren österreichischen Sozialdemokratie, die sich 1901 ein zahmeres Programm als das vorangegangene verordnete, regten sich offenbar vereinzelte Stimmen, die – wenngleich völlig aussichtslos – die Erwähnung der »Diktatur des Proletariats« im neuen Programm gefordert hatten. Genossen, die im nunmehrigen »Fahrplan« für die SDAPÖ nach Formulierungen über das Anstreben der »politischen Macht« durch die Sozialdemokratie suchten, klärte Victor Adler allerdings darüber auf, dass es selbstverständlich für jede Partei sei, auf diese abzuzielen. Das müsse man daher gar nicht erst explizit erwähnen.158

Kautsky rief vor dem Hintergrund des Revisionismusstreits leidenschaftlich dazu auf, das große Ziel der Sozialdemokratie nicht aus den Augen zu verlieren und es lebendig zu erhalten.159 Nicht ohne Grund legte er 1902 mit der Schrift Die soziale Revolution bzw. hauptsächlich mit dem zweiten Teil, der Am Tage nach der sozialen Revolution betitelt war, den Entwurf einer sozialistischen Gesellschaft vor. Während der Text Lenin prägte und inspirierte, verwarf etwa der verhasste Sergej Prokopowitsch alles »Gerede über den Zukunftsstaat« als utopische »Kinderei«.160

Kautsky dachte anders. Auch die »Diktatur des Proletariats« hatte er daher als »Möglichkeitsform der künftigen Machtausübung« verteidigt und dabei, ebenso wie Lenin, an die Herrschaft einer sozialdemokratischen Elite gedacht, die sich allerdings auf eine Mehrheit der Bevölkerung stützen würde.161 Kautskys Diktaturbegriff wird ergo eine weitgehende Übereinstimmung mit »Demokratie« attestiert.162 Vor allem in seiner Kritik an der bolschewistischen Herrschaft nach 1917 führte er seine diesbezüglichen Überzeugungen unmissverständlich aus und betonte das Hervorgehen des Sozialismus aus der Demokratie.163 Der »Volksherrschaft« stand er aber, bekannte er zumindest 1898 in einem Brief an Eduard Bernstein, durchaus kritisch gegenüber und eine »Verherrlichung« der direkten Demokratie war seine Sache nicht. Aber er sah Demokratie als Voraussetzung für die »Erziehung und Hebung des Proletariats« und diese gleichzeitig schon deshalb in Gefahr, weil er mit der wachsenden Stärke der Sozialdemokratie bereits die Repression der Bourgeoisie und auf diese Weise unweigerlich revolutionäre Entwicklungen herannahen sah. In Zusammenhang mit den Angriffen der herrschenden Elite auf die Demokratie hatte er dabei konkret einen versuchten Oktroi der parlamentarischen Geschäftsordnung vor Augen, der 1897 in Österreich unternommen worden war.164

Nicht anders als Kautsky betrachtete auch Julij Martow Demokratie und Diktatur quasi als kommunizierende Gefäße.165 Martows Schwester, Lidija Dan, gestand später ein, dass viele russische Sozialdemokraten demgegenüber gar keine klare Vorstellung von Demokratie besaßen: Sie bedeutete Freiheit – in unterschiedlichem Ausmaß in unterschiedlichen Ländern. Viel mehr Gedanken machte man sich darüber nicht.166 Lenin wiederum gab sich 1903 überzeugt, dass man nur von einem »vulgär-bürgerlichen Standpunkt« aus die Begriffe »Diktatur« und »Demokratie« als sich gegenseitig ausschließend betrachten könne.167 1906 machte er deutlich, dass Diktatur eine »unbeschränkte Macht« sei, die »sich nicht auf das Gesetz, sondern auf Gewalt stützt«, und nach dem Oktoberumsturz 1917 insistierte er darauf, dieses Diktaturverständnis aus der Theorie in die Praxis zu überführen.168 Kautskys nunmehrige Interpretation von Marx’ »Diktatur des Proletariats« als Ergebnis einer »friedlichen Eroberung der Mehrheit« unter den Bedingungen einer bürgerlichen Demokratie bezeichnete er sinngemäß als Humbug.169

Der marxistische Demokratiebegriff oder besser die Vorstellung einer wahrhaften Demokratie verengte sich auf die Arbeiterschaft als jene Klasse, die am Ende die Mehrheit stellen würde. Rosa Luxemburgs Aussagen von der »Diktatur« als Mittel zur »Verwendung der Demokratie«170 belegen, dass Lenin mit seinen Überlegungen nicht allein dastand. In jedem Fall boten Demokratie- und Diktaturbegriff ein weites Feld für Interpretationen und Wertungen. Schon deshalb, weil Marx Demokratie mit Kleinbürgertum zusammenspannte und damit einen erforderlichen »Übergang« in eine andere, höhere Stufe andeutete.171 Kautsky mühte sich dennoch später in seinen Verurteilungen des Bolschewismus damit ab, klare Belege für Marx’ Bekenntnis zur Demokratie zu finden, die im Wesentlichen auf die Prämisse der Mehrheit hinausliefen. Die »Diktatur des Proletariats« hielt Lenin aber so oder so für demokratischer als jede bürgerliche Demokratie. In seiner 1917 entstandenen Schrift Staat und Revolution verband er mit dem »Absterben« des Staates auch das »Absterben« der Demokratie, weil er sie einerseits als »Veranstaltung« des Staates und andererseits als Vorstufe eines völlig herrschaftsfreien »Elysiums« begriff.172

Ab 1917 verlieh Lenin der »Diktatur« bekanntlich den Anstrich einer quasi-legitimen Volksherrschaft auf breiter Basis. Über den Umstand, dass der Anteil des Proletariats in Russland stetig angestiegen war, aber selbst 1917 nur ca. fünf Prozent der Bevölkerung ausmachte, hatte er selbstverständlich nicht hinwegsehen können. Von Anbeginn seiner revolutionären »Karriere« nicht. Die armen Bauern wurden schon ab der Jahrhundertwende zu potenziellen Verbündeten und dann, 1917, zu Trägern der »Diktatur« erklärt. Sie sorgten für die ansonsten illusorische Mehrheit. Das Problem bestand nur darin, dass Lenin sich nicht auf die »kleinbürgerlichen« Bauern verlassen konnte. Eine vertrauenswürdige, stabile Mehrheit musste also »heranerzogen« werden bzw. aus dem Klassenkampf hervorgehen.173 Da allerdings, wie Kritiker einwandten, die Diktatur in der Marx’schen Lesart, wenn nicht die numerische Hegemonie des Proletariats erforderte, dann wenigstens dessen »ökonomische Überlegenheit in dem gesamten gesellschaftlichen Zusammenhange«,174 ließ sich Lenins Konstrukt der Diktatur nach Ansicht seiner Kritiker auch abseits seiner »kreativen« Mehrheitsbeschaffung unschwer als nicht haltbar entlarven.175

Mehrheit

Demgegenüber konnten andere, wie etwa Rosa Luxemburg, Lenins »Lösung« der Machtfrage und seinem höchst zweifelhaften Rekrutieren von ebenso dubiosen »Mehrheiten« nach dem »Aufstand« im Herbst 1917 durchaus Positives abgewinnen. Luxemburg wandte sich dabei auch gleich gegen eine »parlamentarische Maulwurfsweisheit«, die sich unter den deutschen Genossen breitgemacht habe. Auf diese Weise werde das Erreichen der Majorität immer erst auf Basis von Wahlen als Voraussetzung für eine aktive Politik herbeizitiert. Ihre Genossen von der SPD bezeichnete sie in diesem Zusammenhang als »eingefleischte Zöglinge des parlamentarischen Kretinismus«. Lenin indessen habe die »berühmte Frage nach der ›Mehrheit des Volkes‹ gelöst« und wahrhaft revolutionär gehandelt: »[N]icht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg.«176

Um die Jahrhundertwende hatte Lenin allerdings sogar den eventuellen Verzicht auf eine »Diktatur« eingeräumt, wenn man, gab er allerdings zu bedenken, nur wüsste, ob das Kleinbürgertum das Proletariat in ausreichendem Maße unterstützen werde. Dann, meinte er, könne man auch »ohne Diktatur sehr gut« auskommen. Im nächsten Augenblick relativierte er diesen Gedanken jedoch gleich wieder, indem er sich auf das Kommunistische Manifest berief und betonte, dass schließlich »nur das Proletariat« eine »wirklich revolutionäre Klasse« sei.177

Nicht vergessen werden darf bei alledem, dass es Plechanow gewesen war, der in einem Erstentwurf des Parteiprogramms wie selbstverständlich die »Diktatur des Proletariats« als Ziel einbrachte und diese, heißt es, obendrein klar repressiv interpretierte.178 Während Lenin zunächst stutzte und hinter den Diktaturbegriff im Programmentwurf drei Fragezeichen setzte, machte Plechanow sich lustig über die Wirkung, die diese Perspektive auf die Bourgeoisie haben musste, und sprach von einem »Schreckgespenst«, das die Bourgeoisie das Fürchten lehren werde. Das Bürgertum sei von der Angst gepeinigt, seine eigene Diktatur durch jene des Proletariats ersetzt zu sehen.179

Lenin griff die Losung von der »Diktatur des Proletariats« schließlich dankbar auf und bestand darauf – nachdem Plechanow sie dann doch aus dem Programmentwurf eliminiert hatte –, sie in den Text aufzunehmen. Er selbst ließ zu keinem Zeitpunkt Zweifel an seiner Geringschätzung eines durch demokratische Wahlen zustande gekommenen Parlaments aufkommen, obwohl Verfassung und Volksvertretung sowie das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht – auch für Frauen – im russischen Parteiprogramm sehr wohl gefordert wurden. Im Falle ungünstiger Mehrheitsbildungen sollten die Deputierten aber nach Lenins Ansicht gar nicht erst zusammentreten. So viel war schon lange vor der Auflösung der sogenannten Konstituante, des russischen Parlaments, im Januar 1918 mehr oder weniger klar. Damals wichen vorhandene Hoffnungen auf eine demokratische Entwicklung Russlands den Bajonetten der Rotgardisten. Lenins diesbezügliche Argumente waren denkbar nüchtern: Wozu ein revolutionärer Kampf, wenn danach, in einer Volksvertretung, ohnehin nur die Wünsche der Bourgeoisie befriedigt würden? Dass in der Konstituante 1918 in erster Linie Bauernvertreter – und damit Kleinbürger – saßen, bestätigte ihn in der Richtigkeit seiner Ablehnung. Plechanow wiederum erachtete es als legitim, das Bürgertum von vornherein vom Wahlrecht auszuschließen.180 Und so stand dann auch im Parteiprogramm, das auf dem 2. Parteikongress 1903 angenommen wurde, dass die »Diktatur des Proletariats« dazu da sein sollte, »jeglichen Widerstand der Ausbeuter zu unterdrücken«.181 Dieser Punkt des Programms führte unter den russischen Sozialdemokraten zu keinen gröberen Unstimmigkeiten. In dem im Jahr 1905 angenommenen Parteiprogramm der Sozialisten-Revolutionäre war ebenfalls von einer »revolutionären Diktatur« die Rede, die, hieß es, »zeitweilig« ausgeübt werden müsse.182 Das war eine wesentliche Einschränkung, die nach dem Oktoberumsturz 1917 von den Bolschewiki fallengelassen und in eine mehr oder weniger längerfristige Perspektive überführt wurde.183

Ratlose Genossen orteten später dann doch eklatante Ungereimtheiten in Zusammenhang mit der Frage nach Demokratie oder Diktatur. Lenin lieferte ihnen eine einfache Erklärung: Zuerst müsse man Verfassung und Parlament als Ziele anpeilen, aber als nächsten Schritt bereits die »Diktatur des Proletariats« auf die Tagesordnung setzen. Das stand tatsächlich so auch im Parteiprogramm und spiegelte das sogenannte Minimal- bzw. Maximalziel wider. Diese Unterteilung zwischen Fern- und Nahzielen war typisch für die Parteiprogramme der gesamten europäischen Sozialdemokratie. Dennoch gab es auch hier Nuancen. Das russische Programm hob sich mit dem expliziten Verweis auf die »Diktatur des Proletariats« von anderen »Parteiverfassungen« deutlich ab.

Lenin legte stets großen Wert darauf, eigentlich nur das auszuführen, was anderweitig bereits abgesegnet worden war bzw. auf einer konsensualen Basis ruhte. Für mehr oder weniger unanfechtbar hielt er schließlich die Aussagen von Marx und Engels. Seine Definition der Diktatur, behauptete er, deckte sich vollständig mit deren dazu vorhandenen Aussagen – unabhängig davon, wie andere Sozialdemokraten das sehen mochten. Plechanow zum Beispiel, der immerhin in der Frage der »Diktatur des Proletariats« ähnliche Ansichten wie Lenin vertat, sollte später einwenden, dass Lenin die Marx´sche Lehre gar nicht begriff. Er sei daher im Grunde gar kein Marxist, sondern viel eher ein Anarchist gewesen – obendrein ohne logischen Verstand. Nur so konnte er sich die als grobe Entstellung empfundenen Interpretationen des Marxismus durch Lenin erklären. Der Leninismus erschien ihm in der Folge als freihändiges Operieren mit Fakten oder eher Pseudo-Fakten, die in irgendwelche Formeln gegossen wurden.184 Kein Wunder, dass er spätere Behauptungen, wonach Lenin sein Schüler oder, mehr noch, »Sohn« gewesen sei, strikt zurückwies. Wenn man denn von einem »Sohn« sprechen könne, entgegnete Plechanow entrüstet, dann von einem »illegitimen«.185 Martow ging ebenfalls streng ins Gericht mit seinem Weggefährten. Hinter allem, was Lenin an Konzepten produzierte, sah er einen – sinngemäß – zweckgebundenen Missbrauch des Marxismus für einen rastlosen »Revolutionismus«. Die Gefahr eines »reinen Ökonomismus« unter der russischen Arbeiterschaft habe Lenin schon deswegen bewusst überzeichnet.186

»Revolutionismus«

Eduard Bernstein hatte in seinen Ausführungen über die »Voraussetzungen des Sozialismus«, die um die Jahrhundertwende veröffentlicht wurden und für so große Unruhe innerhalb der Sozialdemokratie sorgten, Marx’ und Engels’ ursprünglichen Radikalismus als problematisches »Überbleibsel« aus der Frühzeit der Bewegung bezeichnet. In diesem Zusammenhang verwies er u. a. auf ihre Affinitäten zu Blanquismus, also zu Putschismus und Verschwörertum, als Triebfeder revolutionärer Umwälzungen. Ganz unabhängig von der Frage, ob sich der französische Revolutionär Louis-Auguste Blanqui bzw. sein Wirken mit den erwähnten Zuschreibungen wirklich präzise erfassen lässt oder lassen, legte Bernstein den Finger in die Wunde: Seine allumfassende Dekonstruktion des Marxismus mündete auch in dieser Hinsicht in eine Analyse, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig ließ und das über Bord warf, woran Lenin so insistierend festhielt: »Der Marxismus hat den Blanquismus erst nach einer Seite hin – hinsichtlich der Methode – überwunden. Was aber die andere, die Ueberschätzung der schöpferischen Kraft der revolutionären Gewalt für die sozialistische Umgestaltung der modernen Gesellschaft anbetrifft, ist er nie völlig von der blanquistischen Auffassung losgekommen. Was er an ihr korrigiert hat, so z. B. die Idee straffer Zentralisation der Revolutionsgewalt, geht immer noch mehr auf die Form als auf das Wesen.«187 Lenin, ließe sich hier ergänzen, hatte weder die eine noch die andere Seite des Blanquismus »überwunden«. Allerdings, das sei nicht vorenthalten, traf Bernstein seine Aussage über ein lediglich partielles Ablegen des »blanquistischen Erbes« mit Blick auf die »fortgeschrittenen Länder« und deren Entwicklung. Um Russland ging es dabei nicht.188

Die Problematik des Nebeneinanders revolutionärer Sprache und einer Politik, die glaubwürdig in ihrer Zielrichtung bleiben wollte, aber Kompromisse akzeptieren musste, war gerade Karl Kautsky im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Eduard Bernstein ganz und gar bewusst. Die Herausforderung sah er in einer Balance, während sich Lenins »Projekt« einer sozialdemokratischen Partei auf einem ganz anderen Niveau befand als die SPD. Schon deshalb empfand er die »blanquistische Vergangenheit« von Marx und Engels, die Bernstein für ein unzeitgemäßes Relikt und Ausdruck eines überholten »Revolutionismus« hielt, als eine den russischen Umständen angepasste Orientierung. Dass orthodoxe Marxisten immer unter Verdacht standen, »im Grunde doch nur verkappte Blanquisten« zu sein, die »erwarten, durch einen Handstreich an einem Tag die soziale Diktatur an sich reißen zu können«, beklagte auch Karl Kautsky.189 Lenin fiel es vor diesem Hintergrund leicht, diesbezügliche Anwürfe mehr oder weniger achselzuckend zur Kenntnis zu nehmen. Auch er wusste freilich, dass selbst Marx und Engels sich als Folge veränderter Bedingungen für die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie von früheren Vorstellungen einer Revolution verabschiedet oder wenigstens entfernt hatten und sich ein »evolutionistisches Revolutionsverständnis« entwickelte, das auf die »Reife proletarischer Massen« und nicht auf eine »Überrumpelung« durch Minoritäten setzte.190 Aber Russland war und blieb die Ausnahme. Hier, davon waren Marx und Engels überzeugt, würde viel eher eine spontane Aktion entweder einer kleinen Gruppe von Revolutionären oder aber eine bäuerliche Protestbewegung etwas gegen die zarische Despotie bewirken als die vor allem zu ihren Lebzeiten zahlenmäßig noch völlig zu vernachlässigende russische Arbeiterschaft.191 Was immer indessen Lenin aus den Schriften seiner Idole oder den Interpretationen ihrer Epigonen herauslas, formte er ohnehin zu Argumenten, die stets das bestätigten, wofür er sie heranzog. Die selbst auferlegte Mission, einen russlandtauglichen Marxismus formen und sofort von der Theorie in die Praxis überführen zu müssen, basierte auf besonderen Prämissen. Das Verständnis der internationalen Kollegenschaft für die Schwierigkeit dieser Aufgabe war groß.

Bei aller Kreativität auf der Suche nach für Russland passenden Lösungen war die Frage der Gewalt keine Komponente, die Lenin bei seinen Konzepten erst in die Waagschale werfen musste. Den gewaltsamen Charakter der »Diktatur des Proletariats«, die die »Meister« des Marxismus in der Pariser Kommune von 1871 verwirklicht gesehen hatten, präzisierte Lenin später bei vielen Gelegenheiten. Weil dort zu wenig Gewalt angewandt worden war, sah er – ebenso wie viele seiner Mitstreiter – den Terror von 1917 und in der Folgezeit als präventive und pure Notwendigkeit, um nicht ebenso Schiffbruch zu erleiden wie die Kommunarden 1871. Dass außerdem ganz grundsätzlich wichtige Fragen »im Leben der Völker nur durch Gewalt entschieden« werden, lag nach seiner Einschätzung auf der Hand. Gewalt betrachtete Lenin nicht als »Vollbringerin des Bösen«, sondern als Ausdruck gestalterischer Energie, als Mittel der Umwandlung.192

Wenn beispielsweise »konstitutionelle Träumereien« und »parlamentarische Schulübungen zum bloßen Deckmantel des bürgerlichen Verrats an der Revolution« degenerieren würden, dann müsse eben die »wirklich revolutionäre Klasse« die »Losung der Diktatur ausgeben«.193 Der Selbstherrschaft sei nicht mit Sanftmut und Reformen beizukommen. Die Bolschewiki, sprach Lenin ganz unverhohlen bereits 1905 aus, und damit viele Jahre vor der »Oktoberrevolution«, seien die »Jakobiner« der Sozialdemokratie und das Proletariat sowie die Bauern müssten mit der Monarchie und der Aristokratie auf »plebejische« Art abrechnen, indem sie diese »Feinde der Freiheit schonungslos vernichten«.194 Die »Diktatur des Proletariats« sei, war er überzeugt, ohne jakobinische Gewalt ein völlig sinnloses Etwas, eine leere Phrase.195