Als der unter seinem Pseudonym »Lenin« bekannt gewordene Wladimir Iljitsch Uljanow am 21. Januar 1924 aus dem Leben schied, überbot sich nicht nur in der Sowjetunion die Presse in ihren Versuchen, dem Anlass gemäße Darstellungen seiner Vita abzuliefern. Während man dort in einer bombastischen Verherrlichung des Verstorbenen schwelgte und den Tod des Revolutionsführers betrauerte, zogen einige Blätter im Westen bei ihrem Rückblick auf Leben und Werk Lenins Vergleiche mit anderen historischen Persönlichkeiten. Dabei fielen u. a. Namen wie Oliver Cromwell und Maximilien de Robespierre. Analogien zu historischen Umbrüchen, zur Glorious Revolution sowie zur Französischen Revolution, schienen sich mit Blick auf das Lebenswerk des umstrittenen russischen Regierungschefs anzubieten. Im Zentrum aller Berichte stand erwartungsgemäß Lenins Sternstunde: die »Oktoberrevolution« im Jahr 1917.
Jene, die mit dem Umsturz vor allem den Aufbruch in eine neue Zeit verbanden, die Überwindung von Unterdrückung und Knechtung sahen oder sich von der Strahlkraft einer angekündigten hellen Zukunft beindrucken ließen, priesen den Toten als genialen Revolutionär und visionären Führer oder zumindest als wagemutigen Pionier, der sich an nichts weniger als die Verwirklichung des Sozialismus gewagt hatte. Andere sahen ihn wiederum als realitätsfernen Fanatiker oder doktrinären Eiferer, brandmarkten ihn als Gewaltmenschen und skrupellosen Zyniker. Ungeachtet solcher Urteile konstatieren ihm vergangene wie gegenwärtige Kommentator:innen eine überragende Relevanz. Sein Wirken zu Beginn des 20. Jahrhunderts und seine Ideen prägten die Weltgeschichte über Jahrzehnte hindurch. Der bolschewistische Oktoberumsturz im russischen Petrograd bzw. St. Petersburg mag das fragwürdige Projekt einer überschaubaren Gruppe von Revolutionären gewesen sein, die Lenins Drängen auf die Machtergreifung obendrein nicht widerspruchslos und eher zaghaft nachkamen. Trotzdem stellt das, was auf den 25. Oktober 1917 folgte, eine so tiefgreifende Zäsur dar, dass sie den Beginn eines »kurzen« 20. Jahrhunderts markierte, dessen Ende dann mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gleichgesetzt wurde.
Besteht Konsens über Lenin als einflussreiche historische Persönlichkeit, gibt es offensichtlich ein Überangebot an Zuschreibungen und viele außerordentlich unterschiedliche, ja völlig konträr gezeichnete Lenins. Je nach weltanschaulichen Standpunkten und einer sich verändernden politischen Konjunktur wurden die Urteile immer wieder nachjustiert oder erfuhren bestimmte Schwerpunkte. Im postsowjetischen Russland verschob sich die zuvor bedingungslose Bewunderung und kultische Verehrung des Revolutionsführers nach und nach hin zu einer mehr oder weniger diffusen Ablehnung. 1993 wurde bezeichnenderweise das große Lenin-Museum in Moskau geschlossen.1 Diskussionen über die »Lebensberechtigung« sogar des Mausoleums am Roten Platz setzten sich nach der Amtszeit von Boris Jelzin fort. Das Regime unter Wladimir Putin begann, Lenin vor allem als Vaterlandsverräter und Verschwörer zu sehen, der seine Heimat ausländischen Machtgelüsten preisgab, um sie später in neuer Gestalt wieder zu errichten. Dennoch legte eine 2017 anlässlich des 100. Jahrestags der Revolution in Auftrag gegebene Umfrage offen, dass im Vergleich zu 2006 wieder mehr – nämlich 56 statt zuvor 40 Prozent – Russ:innen positive Assoziationen mit Lenin verbanden.2 Die Beharrungskraft eines über so lange Zeit als Erlösergestalt verklärten »Führers« ist womöglich größer, als die Architekten der russischen Geschichtspolitik vermutet hatten. Demensprechend entnehmen abstruse Lenin-Interpretationen dem Werk des geschmähten Revolutionärs bei aller Kritik immerhin seine angebliche Einsicht, einen vom Westen losgelösten Weg beschreiten zu müssen, als richtungsweisenden Auftrag für Russlands Zukunft.3 Andere wiederum verpflanzen Lenin als »Pantokrator der Sonnenstäubchen« – so der kuriose Titel einer nichtsdestoweniger erfolgreichen Lenin-Biografie – in die russische Gegenwart, unterziehen seine Lebensgeschichte einer eigenwilligen Aktualisierung und formen ihn zur allumfassenden Identifikationsfigur für – jeden.4
Das westliche Lenin-Bild blieb oder bleibt indessen relativ stabil. Enthüllungen ab den 1990er Jahren, die den Bolschewikenführer als rücksichtslosen Fürsprecher von Terror und Unterdrückung entlarvten, führten außerhalb Russlands dazu, noch vorhandene Sympathien weitgehend zu tilgen und durchaus verbreiteten Fehleinschätzungen entgegenzuwirken. Der »gute«, von Motiven der Weltverbesserung durchdrungene Lenin, der dem »bösen« Machtmenschen Stalin als »reine« Lichtgestalt gegenübergestellt wurde, erwies sich keineswegs als der makellose Heilige, als der er verehrt wurde. Freilich trafen solche »Entdeckungen« auch auf resistente Lenin-Anhänger:innen, die den Sermon von einem gerechtfertigten revolutionären Terror gegen eine ausbeuterische Bourgeoisie und verräterische Sozialchauvinisten genügend verinnerlicht hatten, um den Denkmalsturz zu ignorieren. Lenin selbst hatte entsprechende Anhaltspunkte für eine Exkulpation geliefert: Er relativierte seinen Terror als weit »harmloser« als jenen einer über Jahrhunderte herrschenden Elite, die sich kraft Geburtsrechts und Gewaltmonopols über das Volk erhob, es entmündigte, ausbeutete und in Kriege hetzte. Dieser Kontrast sicherte ihm die Wertschätzung selbst von Kritiker:innen, die sich von seinen Methoden abgestoßen fühlten, nicht aber von seinen Zielen.
Unter diesen und anderen Vorzeichen gab es auch in den letzten Jahren vereinzelt Versuche, Lenin gewissermaßen wiederzubeleben bzw. wurden seine Ideen anscheinend für würdig befunden, wiederbelebt zu werden.5 Das vorliegende Buch will das nicht. Es lässt sich demensprechend auch gar nicht erst auf eine ausufernde Diskussion über ein gescheitertes sozialistisches Experiment ein, dem im Prinzip begrüßenswerte Ideale zugrunde lagen und das bei günstigeren Verhältnissen womöglich hätte funktionieren können. Behandelt wird nicht, was hätte sein können, sondern was war oder aus unterschiedlichen Gründen sich zu etwas entwickelte, das sich von Lenins – durchaus fragwürdigen – ursprünglichen Plänen einerseits weit entfernte und ihnen andererseits entsprach. Wer mit »Massenerschießungen«, »Gasbomben«, »Revolutionstribunalen« und staatlichem Terror »ohne jegliche Rechtsgarantien für die Delinquenten die neue Gesellschaft herbeimorden« wolle, der komme nicht bei der »höheren Lebensform« des Sozialismus an.6 Das schrieb ihm eine seiner wichtigsten Leitfiguren und gleichzeitig einer seiner größten Kritiker ins Stammbuch: Karl Kautsky.
Lenin hat das Interesse einer Vielzahl von Biograf:innen auf sich gezogen. Anhand von mehrbändigen Chroniken mit Zehntausenden Einträgen lassen sich beinahe zu jedem Tag seines Lebens Informationen finden.7 Die höchst produktive Lenin-Biografik mit dem Enthüllungsbuch von Dimitrij Wolkogonow, dem so vielschichtigen und kenntnisreichen Lenin-Porträt von Robert Service oder der klaren und anregenden Analyse Lenin’scher Ideologie und Politik von Wolfgang Ruge als Beispiele aus der Phase nach dem Ende der Sowjetunion begann aber in den letzten Jahren langsam etwas auszudünnen.8 Blickt man auf eine weiter zurückliegende Vergangenheit, dann ist es sicher die umfassende Lenin-Biografie von Louis Fischer, die auch heute noch zu beeindrucken vermag.9 So scheint es, als sei alles schon erzählt worden, was es über Lenin zu wissen gibt. Nachdem die Öffnung sowjetischer Archive den Großteil dessen zugänglich gemacht hatte, was lange Zeit nur ganz wenigen Auserwählten bekannt gewesen war, ergaben sich im Wesentlichen keine großen Überraschungen mehr. Auch wenn von den etwa 3700 unveröffentlichten Lenin-Manuskripten, die noch Anfang der 1990er Jahre darauf warteten, ans Licht der Öffentlichkeit zu gelangen, sicher nicht alle publiziert wurden, fällt es schwer, an immer noch verborgene Sensationen zu glauben, die alles umwerfen könnten, was man bisher von Lenin gedacht hatte.10 Am ehesten seit jeher als streng geheim klassifizierte Dokumente über die erste Phase des Weltkommunismus könnten vielleicht noch interessante Details enthalten. Sie blieben aber auch in der Zeit von Glasnost und Perestrojka unter Verschluss und werden es wohl auch bleiben.
Hinzu kamen aber in den letzten 30 Jahren detaillierte Forschungen und umfangreiche Publikationen über die Russische Revolution, die sich auch als erweiterte Lenin-Biografien lesen lassen. Tatsächlich ist die Literatur über den Oktoberumsturz, seine Vorgeschichte und seine Folgen nahezu unüberschaubar geworden.11 Dabei ging es den Autor:innen immer wieder darum, gängige Narrative aufzubrechen, hinter die Kulissen zu blicken und Quellen einer abermaligen Durchsicht zu unterziehen. Diese Neubewertung vorhandener oder auch dominanter Erzählungen nahmen sich vereinzelt auch ein paar Lenin-Forscher:innen zum Vorbild, um ihrerseits einen frischen Blick auf den umstrittenen Revolutionsführer zu werfen. Ergebnis war eine überschaubare Anzahl englischsprachiger Publikationen, deren Reichweite vermutlich kaum über kleine akademische Zirkel hinausging. An den wertvollen Anregungen, die sie enthalten, sollte aber nicht vorbeigegangen werden – selbst wenn man so manche Schlussfolgerung der Autor:innen nicht oder nicht immer zur Gänze teilen kann.12 Lang davor hat bereits Dietrich Geyer mit seiner imponierenden Studie über »Lenin in der russischen Sozialdemokratie 1890–1903« tiefgründige Einsichten über dessen Anfänge als Revolutionär und Parteimann geliefert. Will man dem Werden Lenins nachspüren, ist Geyers 1962 veröffentlichte Schrift nach wie vor eine unverzichtbare Grundlage.13
In Anbetracht der Bedeutung Lenins für die Geschichte des 20. Jahrhunderts und der 100 Jahre, die seit seinem Ableben vergangen sind, erscheint es in jedem Fall angemessen, eine Neubetrachtung zu wagen. Vorhandenen, zuweilen immer noch ideologisch verzerrten oder aber fragmentarischen Lenin-Bildern sollen möglicherweise überraschende Perspektiven hinzugefügt werden, bekannte Aspekte sind gegebenenfalls anders zu gewichten. Die vorliegende Biografie sucht nach einem historischen Lenin.14 Sie ist außerdem als eine Art Update zu verstehen, weil eine Vielzahl von neueren Arbeiten miteinbezogen wurde, um die hier vorgestellten Interpretationen zu stützen bzw. zu diskutieren. Berücksichtigung fanden aber natürlich auch ältere Publikationen, weil sie – wie am Beispiel von Dietrich Geyers Buch betont wurde – immer noch wichtige Anhaltspunkte für die Suche nach einem Lenin enthalten, der sich mit einer einfachen Schwarz-Weiß-Zeichnung kaum erfassen lässt.15 Bei alledem will die vorliegende Lebens- oder eher Lebenswerkbeschreibung in erster Linie seine Entwicklung als Revolutionär und Parteiführer in den Blick nehmen. Im Mittelpunkt steht folgerichtig die Frage, wie Lenin dachte, warum er das so tat und wie sich seine Konzepte und Anschauungen – immer wieder auch in Kontrast zu oder im Dialog mit vorherrschenden Interpretationen – in damalige Diskurse einfügen lassen. Der private Lenin oder vielmehr Wladimir Iljitsch Uljanow und sein Umfeld, über den überdies mehr oder weniger aktuelle Werke greifbar sind, treten demgegenüber eher in den Hintergrund.16
Die Neubetrachtung von Lenins politischem Leben führt den Leser bzw. die Leserin auf das Terrain vieler theoretischer Fragen, die Lenin beschäftigten. Sie reflektieren eine Zeit großer Umbrüche und leidenschaftlicher Diskussionen über die Zukunft. Lenin lebte vor diesem Hintergrund viele Leben, wirkte im konspirativen Milieu und im Exil, verbrachte Jahre im Gefängnis und in Verbannung und war mehrmals auf der Flucht. Selbst aus der zeitlichen Distanz von über 100 Jahren macht es immer noch staunen, dass der Führer einer kleinen Partei, die bis 1917 über weite Strecken im Untergrund oder halb legal wirkte, nur wenige Monate nach der Heimkehr aus seinem Exil an die Spitze des früheren Zarenreichs gelangen konnte.
Die Berücksichtigung von Forschungsdiskussionen oder das Aufzeigen vieler Querverbindungen zur internationalen Sozialdemokratie sowie zur damaligen Weltpolitik machen immer wieder einen Perspektivenwechsel erforderlich, der nicht zuletzt einem breiteren Lesepublikum entgegekommen will. Die Ausführungen greifen bei alledem weit aus und behandeln einzelne Themen mehrmals, um entlang von verschiedenen Fragen Zusammenhänge klar oder klarer zu machen und um einen »vollständigeren« Lenin entdecken zu helfen. Totale und Nahaufnahmen wechseln, die Chronologie wird aufgebrochen, um Längsschnitte einzufügen oder um einzelnen Aspekten genauer nachzugehen.
Zahlreiche Gespräche mit Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen Interesse an der Figur Lenin haben, trugen im Vorfeld und während der Arbeit am Buch zu der Entscheidung bei, bestimmte Themen besonders detailliert zu behandeln. Dazu zählen beispielsweise die Parteispaltung 1903, die »Diktatur des Proletariats« als Konzept oder aber die Frage der Alternativen zur Rätemacht. Lenin, das zeigte sich im Zuge der erwähnten Gespräche, erschien vielen wie ein »Revolutionär aus der Flasche«, weil sie ihn ausschließlich mit dem Jahr 1917 verknüpften. So betrat er die Weltbühne wie eine Art Dschinn, der unvermittelt aus einem Gefäß entwich und schnurstracks die »Oktoberrevolution« herbeizauberte. Zu zeigen, dass Lenin alles andere als ein »Flaschengeist« war, bedingte daher auch, die Botschaften des »Roten Oktober« weiter zurückzuverfolgen und bis zu einem gewissen Grad auch ihre Vita zu schreiben.
Zentral bei dem Versuch, den historischen Lenin sichtbar zu machen, ist zweifellos das Einordnen seiner Überlegungen und Konzepte in den Kontext der damaligen Sozialdemokratie mit ihren Interpretationen des Marxismus und ihren stark voneinander abweichenden Meinungen über den »richtigen Weg« hin zur Überwindung der »Klassenherrschaft«. Karl Kautsky, der bereits erwähnte deutsche Parteitheoretiker mit altösterreichischen Wurzeln, präsentiert sich hier für Lenin als zentrale Figur, die ihm immer wieder Anlass gab, zwischen Distanz von und Nähe zur internationalen Sozialdemokratie zu schwanken, bevor er sich mit Abscheu nicht nur von ihr, sondern auch von ihm abwandte. Der Hass war in der Folge auf beiden Seiten groß. Kautsky führte ab 1918 wohl nicht zuletzt deswegen einen so regen publizistischen Feldzug gegen den Bolschewikenführer, weil dieser sich unentwegt auf ihn berief und ihn so zum ideellen Kollaborateur eines »Diktators« machte, dessen Verfolgungswahn selbst vor ehemaligen Weggefährten nicht haltmachte. Die Praxis der bolschewistische Machtausübung vor Augen, sah sich Kautsky primär bemüßigt, all die – wie er meinte – Irrtümer Lenins und der Bolschewiki über Marxismus und Demokratie auszuräumen. Demokratie sei, schrieb er, möglich ohne Sozialismus, aber nicht umgekehrt.17
Der manchen vielleicht eher unbekannte Lenin, der sich und seine Theorien ursprünglich als Teil der internationalen Sozialdemokratie verstand, aber dabei zu ganz anderen Schlüssen kam als später Karl Kautsky, blickt auf einen Werdegang zurück, in dem das Schicksal seines Bruders von größter Bedeutung war. Dessen Hinrichtung als Zaren-Attentäter im Jahr 1887 stellte die Welt der Familie Uljanow auf den Kopf und katapultierte den damals siebzehnjährigen Lenin in die Laufbahn des notorischen Widerständlers. Diesen schickten die Behörden des autokratischen Romanowimperiums in die Verbannung nach Sibirien, wo er zu einem politischen Kopf reifte, der den Elan eines marxistischen Eiferers entwickelte und sich gleichzeitig von den terroristischen Methoden früherer Revolutionäre nicht vollends trennte. Die Neuorientierung der bereits 1898 gegründeten Russischen Sozialdemokratischen Partei unter seiner Federführung begriff Lenin als Ausgangspunkt für die Umgestaltung des gesamten Zarenreichs. Als Längsschnitt aufbereitet ist in der Folge die Spaltung von 1903, als sich die russische Sozialdemokratie in Bolschewiki und Menschewiki teilte oder eher zu teilen begann. Sie wirft eine Menge von Fragen auf, die nicht zuletzt auf das Problem der Wesensmerkmale des Bolschewismus bzw. Leninismus und seiner »Abartigkeit« abzielen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dann der Revolution von 1905, die essenziell war nicht nur für Lenins Verständnis davon, wie ein Umsturz »gemacht« werden konnte, sondern auch, wie und warum er scheiterte.
Der junge Lenin bzw. die Frühzeit seiner Entwicklung bildet zweifellos einen der Schwerpunkte des Buches. Das gilt nicht minder für jene Periode, die oft ins Hintertreffen gerät, da für gewöhnlich erst nachfolgende Zäsuren für bedeutsamer gehalten werden. Das heißt, dass auch die Jahre 1905 bis 1914, bevor der Erste Weltkrieg Lenin zu einem noch konsequenteren revolutionären Kurs animierte, besonders detailliert beschrieben werden. Die Ereignisse im Jahr 1917 bzw. die Rolle, die er damals spielte, sind ohne Kenntnis dieser Vorgeschichte nicht zu verstehen.
Aufgegriffen werden des Weiteren auch Verschwörungstheorien, die Lenin vor allem im Zusammenhang mit einer Kollaboration mit Deutschland, das sich ab 1914 im Krieg mit Russland befand, sahen und sehen. Dabei soll anhand einzelner Fragen abgewogen werden, inwieweit das Bild vom Verräter zutreffend oder aber überzogen ist. Neue An- oder Einsichten bieten auch die Überlegungen zu Lenins politischem Kurs ab dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Hier gilt es, u. a. zu fragen, wie tief diese Zäsur in Hinblick auf seine eigenen Konzepte ging bzw. inwieweit auch hier ganz einfach seine Anpassungsfähigkeit an neue Situationen zum Tragen kam.
Es hätte den Rahmen des Buches gesprengt, Lenins nachrevolutionäre Politik mit all ihren vielschichtigen Hintergründen und Auswirkungen so abzuhandeln, dass die Darstellung der Breite und Vielfalt diesbezüglicher Forschungen auch nur ansatzweise gerecht geworden wäre. Tatsächlich sind gerade für diese Phase unzählige verdienstvolle und überaus lesenswerte Publikationen vorhanden. Dennoch: Die Frage der bolschewistischen Alleinherrschaft sowie der Friede von Brest-Litowsk, mit dem die Bolschewiki im März 1918 aus dem Weltkrieg ausschieden, konnten selbstverständlich ebenso wenig ausgespart werden wie der Bürgerkrieg und Lenins Rezepte für den Aufbau des Sozialismus. Zusätzlich zu den vielen veröffentlichten Untersuchungen, die diese Themen behandeln und in das vorliegende Buch eingeflossen sind, wurden auch russisch- sowie deutschsprachige Quelleneditionen und nicht zuletzt Lenins eigene Texte herangezogen. Sie legen Kalkül und Taktik des kommunistischen Parteichefs, der er ab 1918 war, in wesentlichen Punkten offen. Der Auseinandersetzung mit der gesamten Materie gemeinsam ist der Versuch, anhand verschiedener Fragen dort zuzuspitzen und nachzuhaken, wo in den »großen Erzählungen« der Ablauf der Ereignisse vielleicht zu »glatt« erscheint. Am Ende stehen eine knappe Rekonstruktion von Lenins »Nachleben« und eine Auseinandersetzung mit seiner eigenen Bilanz, die er, gezeichnet von schwerer Krankheit, gegen Ende seines Lebens zog.
Ohne russische Geschichte lässt sich eine Lenin-Biografie selbstredend nicht schreiben. Sie bzw. die Entwicklung des Zarenreichs in groben Strichen nachzuzeichnen, ist unerlässlich, um verstehen zu können, wie aus Wladimir Iljitsch Uljanow aus Simbirsk eine welthistorische Schlüsselfigur wurde. Dabei gilt es, ein paar Besonderheiten zu beachten: Zum einen betrifft das die russische Zeitrechnung mit ihrem julianischen Kalender, die vom im Westen gebräuchlichen gregorianischen ein paar Tage abwich. Zeitangaben im Buch richten sich nach dem julianischen Kalender, den die Bolschewiki 1918 an die westliche Zeitrechnung anglichen. Das Zarenreich, das korrekterweise als »Russländisches Imperium« anzuführen wäre, wird im Buch synonym als »Russland« bezeichnet, das Adjektiv »russländisch« zu »russisch« gemacht. Dieses Zugeständnis an die im Deutschen zu Lenins Zeit gebräuchliche Verwendung von »Russland« und »russisch« versus »Russländisches Imperium« und »russländisch« entspricht auch den vorherrschenden Leser:innengewohnheiten. Trotzdem muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass der Terminus »Russländisches Imperium« den Charakter des zarischen Vielvölkerreichs angemessener abbildet. Ethnische Russen machten überdies weit unter der Hälfte der Gesamtbevölkerung des Romanowimperiums aus. Die »Oktoberrevolution« wird – sofern nicht ohnehin als Oktoberumsturz bezeichnet – unter Anführungszeichen gesetzt. Die damit beabsichtige Relativierung, die in der Geschichtswissenschaft mittlerweile üblich ist, gründet sich auf der Tatsache, dass die Machtergreifung an sich nicht als Revolution zu sehen ist, sondern für den Sturz der Provisorischen Regierung als militärische Operation geplant wurde. Bis zum 25./26. Oktober sprachen die Bolschewiki außerdem selbst von einem »Aufstand«, der aber schon während der Kämpfe in Russlands Hauptstadt bzw. nach seinem Gelingen umgehend als »Revolution« überhöht wurde, als die sie sich im Sinne der weiteren politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen dann auch darstellte.
Die russische Hauptstadt St. Petersburg wurde mit Kriegsbeginn 1914 in Petrograd umbenannt. Die nachfolgenden Ausführungen halten sich an diese Namensänderung. Die Nennung russischer Eigennamen folgt im Wesentlichen der Duden-Transkription. Einige »eingedeutschte« Familiennamen werden in der solcherart üblich gewordenen Schreibweise angeführt.
Verena Moritz und Hannes Leidinger, Wien im Mai 2023
1 David Hearst, One step forward, two steps back. Just when the Lenin museum was, in: The Guardian, 30.11.1993, 24.
2 https://www.rferl.org/a/russia-lenin-positive-role-levada-poll/28441045.html(2.3.2023). Vgl. Ian Kershaw, Der Mensch und die Macht. Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert, München 2022, 72. Vgl. auch Dietrich Beyrau, Oktoberrevolution. »Flammenschrift auf Europas östlicher Wand«, in: Jahrbuch für Kommunismusforschung (2017), 31–52, 32f.
3 Vgl. S. G. Kara-Murza, Lenin. Algoritm revoljucii I obraz buduščego, Moskva 2018. Der Autor ist nicht zu verwechseln mit dem russischen Regimekritiker Wladimir Kara-Murza.
4 Vgl. Lev Danilkin, Lenin. Pantokrator solnečnych pylinok, Moskva 2017.
5 Siehe u. a.: Slavoj Žižek, Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Frankfurt am Main 2017.
6 Mike Schmeitzner, Antinomie und Verflechtung. Kautsky, Lenin, Trotzki und der Deutungskampf um die »Diktatur des Proletariats«, in: Mike Schmeitzner (Hg.), Die Diktatur des Proletariats. Begriff – Staat – Revision, Baden-Baden 2022, 43–64, 56f.
7 Siehe dazu die sogenannte »Biochronika« unter https://leninism.su/biograficheskiexroniki-lenina.html (17.2.2023). Die Betreiber:innen der Site geben sich allerdings an einigen Stellen als Verteidiger:innen des Andenkens Stalins zu erkennen, was auch die Zusammenstellung der Vielzahl angebotener, qualitativ höchst unterschiedlicher Materialien zur Biografie Lenins fragwürdig erscheinen lässt.
8 Wolfgang Ruge, Lenin. Vorgänger Stalins. Eine politische Biografie, Berlin 2010; Robert Service, Lenin. Eine Biographie, München 2000; Dimitri Wolkogonow, Lenin. Utopie und Terror, Düsseldorf/Wien/New York/Moskau 1994.
9 Louis Fischer, Das Leben Lenins, Köln/Berlin 1964.
10 Vgl. Ruge, Lenin, 399.
11 Hervorzuheben ist insbesondere: Gerd Koenen, Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, München 2017.
12 Vgl. etwa die mit Gewinn zu lesende Biografie von Christopher Read, der aber mit einem Resümee wie »Lenin Lived! Lenin Lives! Lenin Will Live Forever!« den Verdacht einer Art Rehabilitationsversuch nährt: Christopher Read, Lenin. A Revolutionary Life, London/New York 2005. Siehe auch: Lars Lih, Lenin Rediscovered. What is to Be done? In Context, Jefferson 2005; Anna Krylova, Beyond the Spontaneity-Consciousness Paradigm: »Class Instinct« as A Promising Category of Historical Analysis, in: Slavic Review 62/1 (2003), 1–23; Leopold Haimson, Lenin’s Revolutionary Career Revisited. Some Observations on Recent Discussions, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 5/1 (2004), 55–80, oder Richard Mullin, The Russian Social-Democratic Labour Party, 1899–1904, Leiden/Boston 2015.
13 Dietrich Geyer, Lenin in der russischen Sozialdemokratie. Die Arbeiterbewegung im Zarenreich als Organisationsproblem der revolutionären Intelligenz 1890–1903, Köln/Graz 1962.
14 Vgl. Read, Lenin, 283f.
15 Neben Geyer zu würdigen gilt es u. a. die im Folgenden oft zitierten Arbeiten von Manfred Hildermeier.
16 Vgl. Victor Sebestyen, Ein Leben, Berlin 2017, aber auch Helen Rappaport, Conspirator. Lenin in Exile, New York 2010.
17 Karl Kautsky, Die Diktatur des Proletariats, Wien 1918, 5.