8

Am nächsten Morgen spazierten Ellie und Patrick mit Sam im Schlepptau in die Stadt hinunter, um sich zur Feier des Tages einen Latte Macchiato zu gönnen. Alle paar Meter wurden sie von begeisterten Passanten angehalten. Ganz Storm Harbour freute sich über die Rettung, wollte haargenau wissen, wie alles abgelaufen war, und gratulierte jedem, der sich an dem Suchtrupp beteiligt hatte.

Patrick war das Risiko eingegangen, die Auflage des Chronicle zu erhöhen, und die Druckmaschinen waren die ganze Nacht hindurch gelaufen, damit die Zeitungen am Vormittag fertig waren. Nicht nur die Bewohner von Storm Harbour, sondern auch viele Touristen, die in die Stadt strömten, wollten ein Exemplar zur Erinnerung haben. Die Fotos auf der Titelseite – von Ben, der aus dem Wald stapfte, während sich der kleine Peter wie ein Koala an ihn klammerte, von der tränenüberströmten Mutter, die Ben dankbar die Hand drückte, von den Freiwilligen der Sikh-Community und ihren köstlichen Mahlzeiten – erzählten eine Geschichte, die zu Herzen ging. Auf Seite drei erschien parallel dazu ein Artikel über die glückliche Rettung der Cooper-Duff-Kinder aus Horsham mit alten Fotos, die Jon im Rechercheportal Trove gefunden hatte.

Als Patrick und Ellie sich vor das Riverside Café gesetzt und ihren Kaffee bestellt hatten, zeigte sie ihm den Zettel, den sie an ihrer Windschutzscheibe gefunden hatte.

»Woher hast du denn das?«, fragte er.

»Als ich gestern aus dem Pub kam, habe ich den Zettel unter meinem Scheibenwischer gefunden. Vielleicht stammt er von Sallys Kontaktperson, ihrer Quelle im Stadtrat.«

»Arbeitet ihr beide noch zusammen?«, erkundigte sich Patrick.

»Wir versuchen es. Obwohl ich das Gefühl habe, dass Sally nicht mit allem herausrückt, und ich hatte ihr bisher nicht viel zu bieten«, antwortete Ellie. »Ich werde mit dem Absender Kontakt aufnehmen. Mal sehen, was er zu sagen hat.«

»Ja, das könnte interessant sein. Anschließend müssen wir allerdings überprüfen, ob die Informationen seriös sind, also belastbar, und fragen, woher sie stammen und so weiter«, erklärte Patrick. »Sie könnten nützlich für uns sein, aber wir müssen sie vorher genau unter die Lupe nehmen.«

»Ist notiert«, sagte Ellie leichthin, obwohl Patricks umständliche Hinweise sie nervös machten.

Als könnte er ihre Gedanken lesen, fügte er hinzu: »Wir sind zwar gegen Verleumdungsklagen versichert, aber trotzdem ist Vorsicht geboten. Eine Klage gegen unsere Zeitung würde die Versicherungsbeiträge durch die Decke schießen lassen. Deshalb veröffentlichen wir eine Geschichte erst, wenn alles hieb- und stichfest ist.«

»Klar«, sagte Ellie und nippte an ihrem Kaffee, den der Kellner gerade gebracht hatte.

»Heute früh habe ich einen Anruf von meinem alten Kumpel David Ward bekommen, dem die Horsham Times gehört«, sagte Patrick und lehnte sich zurück. »Es war schön, mal wieder von ihm zu hören. Davids Kinder, ein Sohn und eine Tochter, haben jetzt das Ruder übernommen und alles auf Vordermann gebracht. Solche Beispiele von unabhängigen Zeitungen, die sich wacker schlagen, machen Mut.«

Ellie lächelte ihren Großvater an. »Ja, das ist toll. Und schau, wie gut die Berichterstattung im Chronicle über Peters Rettung ankommt.«

»Danke, Liebes.« Patrick lachte, auch wenn ihm das Kompliment etwas peinlich war. »Jedenfalls hat David mir ein bisschen was über Peters Familie erzählt. Anscheinend haben es die Jensens ganz schön schwer, sie rackern sich ab, und es reicht trotzdem kaum zum Leben. Der Campingtrip war ihr großer Jahresurlaub, und jetzt … David ist auf die Idee gekommen, Spenden zu sammeln, damit der kleine Peter eine gute Ausbildung kriegt.«

Ellie nickte begeistert. »Super Idee.«

»Das kann man wohl sagen. Er denkt an einen Spendenaktionstag mit einem Wohltätigkeitslauf. Ben, der Held von Storm Harbour, soll die Preise verleihen.«

»Fantastisch«, sagte Ellie. »Weiß er schon davon?«

»David will ihn heute noch anrufen und fragen.«

»Ben ist so bescheiden, er wird seine Rolle herunterspielen, aber vielleicht kann Sally ihn dazu bewegen mitzumachen«, meinte Ellie. »Wie wäre es, wenn du ein Porträt von ihm im Chronicle bringst?«

»Gute Idee, aber warum übernimmst das nicht du?«, konterte Patrick grinsend. »Du bist immerhin eine Weile mit ihm zur Schule gegangen.« Nachdenklich fügte er hinzu: »Wenn du Ben interviewst, kannst du ja vielleicht herausfinden, warum er so anders ist als der Rest der Familie O’Neill.«

»Hmm, da hast du recht.« Ellie trank aus. »Entspann dich doch heute mal und bleib noch ein bisschen in der Sonne sitzen, Opa. Ich nehme Sam mit.« Sie warf ihm eine Kusshand zu und ging an die Theke, um zu bezahlen.

Unterwegs bekam sie einen Anruf von Sally, die von der Idee mit dem Artikel über Ben sofort begeistert war.

»Wenn er sich sperrt, rede ich mal mit ihm«, bot Sally an. »Er ist so bescheiden und denkt, er hat nichts Besonderes geleistet.«

Ellie erzählte ihr auch von der Einladung an Ben, an dem Spendenaktionstag in Horsham teilzunehmen. »Mr Ward ruft ihn heute noch an.«

»Fantastisch. Ich werde ihn ermuntern hinzugehen.«

»Gibt es eigentlich etwas Neues von deiner Quelle im Stadtrat?«, fragte Ellie.

Sally schwieg, sodass Ellie schon dachte, die Leitung wäre tot. Schließlich antwortete Sally: »Ich darf nichts sagen, Ellie, also frag bitte nicht.«

»Alles okay bei dir, Sally?«

»Ja, mir geht es gut, aber mein Boss hat dazwischengefunkt. Ich kann nur so viel verraten – wenn ich weiterhin über die Bebauungsgerüchte berichte, kostet es mich wohl den Job.«

»Das ist ja schrecklich …«

»Hör mal, ich muss los«, fiel Sally ihr ins Wort. »Ich werde versuchen, Ben das Interview und den Spendenaktionstag schmackhaft zu machen. Tschüss.«

Ellie starrte verdutzt auf ihr Handy. Was war das denn gewesen? Offenbar hatte man Sally einen Maulkorb verpasst. Eine klare Missachtung der Pressefreiheit. Und was meinte Sally damit, dass ihr Boss »dazwischengefunkt« hatte? Darüber würde sie später mit Patrick reden.

Ellie beschloss, erst einmal das Interview mit Ben unter Dach und Fach zu bringen, solange der Freudentaumel wegen der Rettung noch anhielt. Sie ging zum Campingplatz und suchte nach ihm, aber er war nicht auf seiner Parzelle. Als sie dann Roly nach ihm fragen wollte, sah sie die beiden vor Rolys Hütte sitzen.

»Wir haben Muffins, spendiert von der Bäckerei«, rief Roly ihr zu. »Ein Zeichen der Anerkennung für unseren Helden.« Er strahlte und tätschelte Sam, der zu ihm gelaufen war.

»Sag so was nicht«, meinte Ben. »So viel Aufmerksamkeit bin ich nicht gewohnt. Es fühlt sich komisch an.«

»Du wirst für immer und ewig der ›Retter des verschwundenen Jungen‹ bleiben. Also gewöhn dich dran, mein Freund«, sagte Roly.

»Er hat recht, Ben«, warf Ellie ein. »Die Leute wollen mehr über dich erfahren.«

Ben starrte sie überrascht an. »Echt? Warum denn?«

»Weil du derjenige warst, der Peter gefunden hat, und nicht die ganzen Suchtrupps. Ich würde dich gern für den Chronicle interviewen. Erst sollte es nur ein Artikel über die Rettung des Jungen werden, aber dann haben Opa und ich beschlossen, den Lesern zu zeigen, wer dieser Benjamin O’Neill ist … mit dir über deine Kunst zu sprechen … darüber, wie du hier aufgewachsen bist, über deine außergewöhnliche Großmutter … was auch immer du den Leuten mitteilen willst.«

»Das ist eine verdammt gute Idee, Benjamin«, sagte Roly. »Ellie kennt dich, und du kannst dich darauf verlassen, dass sie mit dem nötigen Fingerspitzengefühl herangeht.«

Ben sah Ellie an und grinste. »Schon komisch, wir waren nur kurz zusammen auf der Schule, und danach ist jeder seiner eigenen Wege gegangen. Ich hätte nie gedacht, dass wir uns mal wiedersehen würden.«

»Und nun sitzen wir hier zusammen«, sagte Ellie. »Bitte denk darüber nach.«

»Erst einmal genehmige ich mir noch einen Muffin«, antwortete Ben und brach ein Stück für Sam ab.

»Das trainieren wir dir auf dem langen Heimweg wieder ab, Sam«, sagte Ellie, als der Hund das Muffinstück vertilgt hatte und mit hoffnungsvollem Blick auf mehr wartete. »Danke, Ben, bis bald.«

Im Davongehen dachte sie: Hoffentlich macht er mit.

Ellie nahm die Abkürzung über eine Nebenstraße, die von älteren, offensichtlich kürzlich renovierten Häusern mit frisch gestrichenen Zäunen und neu angelegten Gärten gesäumt war. Sie überlegte gerade, wie sie den Artikel über Ben anpacken sollte, als Sam plötzlich zu bellen und zu knurren anfing. In einem Vorgarten warf sich ein Hund mit gefletschten Zähnen gegen das Tor. Ellie machte einen Satz rückwärts und zog Sam weg von dem wütenden Tier.

»Beachte ihn gar nicht, Sam. Gehen wir auf die andere Straßenseite.«

Vom gegenüberliegenden Bürgersteig aus warf Ellie einen Blick zu dem kläffenden Hund mit dem gesträubten Nackenfell und dem entblößten Gebiss und schauderte. Das war doch derselbe, der Sam schon einmal angegriffen hatte … Susans Hund.

Sie betrachtete das hübsche Cottage mit den vorgezogenen Gardinen und dem gepflegten Garten. Susan hätte wenigstens ein Warnschild am Tor anbringen können, dachte sie.

»Komm, Sam.« Sie zupfte sanft an seiner Leine. »Hier sind wir nicht erwünscht.«

 

Am frühen Abend rief Ben an und erklärte sich bereit, am folgenden Nachmittag ein bisschen mit Ellie zu plaudern. Ellie wusste nicht, ob es an Sallys Überzeugungskünsten lag oder ob er es aus eigenem Antrieb tat, aber sie freute sich sehr darüber. Sofort machte sie sich daran, Fragen zusammenzustellen.

Am nächsten Tag trafen sie sich am Campingplatz und setzten sich an einen Holztisch am Ufer. Alles war friedlich, der Wind hatte sich gelegt und der Fluss lag vor dem Gezeitenwechsel spiegelglatt und träge da.

»Welche Kindheitserinnerungen hast du an Storm Harbour?«, fragte Ellie, nachdem sie bei ihrem Handy auf »Aufnahme« gedrückt hatte.

»Gute. Ich habe mit meiner Großmutter auf Craigmore im Garten gewerkelt, bin im Fluss geschwommen, habe geangelt. Ich hatte mein eigenes Kanu, das war mir lieber als Dads großes Boot. Einmal habe ich ein Lämmchen mit der Flasche aufgezogen. Und beim Vorlesen hab ich mich immer ganz dicht an meine Mutter gekuschelt. Hin und wieder bin ich mit Großmama in die Stadt gefahren, um Süßigkeiten zu kaufen, meistens wenn wir Tante Heather besucht haben. Sie ist nicht meine richtige Tante, sondern eine Freundin von Großmama und Künstlerin. Ich habe es geliebt, ihr beim Malen zuzuschauen. Ich durfte mit den Farben und Pinseln herumklecksen, und sie hat mir Krüge und Blumenarrangements hingestellt, um sie zu malen. Ohne es zu merken, habe ich viel von ihr gelernt.

Für mich war Großmama etwas ganz Besonderes. Der Botanische Garten lag ihr wahnsinnig am Herzen. Mein Vater hat zusammen mit meinem Großvater Boyd den Familienbetrieb bewirtschaftet. Ich habe mich jedes Jahr gefreut, wenn unsere Eltern wieder auf Kreuzfahrt waren und meine Großeltern auf uns aufpassten.«

»Warum bist du eigentlich hier zur Schule gegangen?« Wie Ellie wusste, hatten Bens Geschwister die besten Schulen von Melbourne besucht.

»Ich hab’s im Internat versucht, aber da ich solches Heimweh hatte, durfte ich auf die Highschool in Storm Harbour wechseln. Dad wollte, dass ich anschließend Agrarwirtschaft studiere, um in den Betrieb auf Craigmore einzusteigen. Ich hätte gern auf unserer Farm in Queensland gearbeitet, aber das hat mein Bruder Dad ausgeredet. Und Ronan war nun mal der älteste Sohn, er sollte den Betrieb übernehmen«, sagte Ben, doch dann fügte er hinzu: »Das Letzte sollte besser nicht in der Zeitung stehen. Jedenfalls sah ich unter diesen Umständen keinen Sinn darin, Agrarwirtschaft zu studieren.«

Ellie hätte Ben gern genauer nach seinem Verhältnis zu Ronan befragt, doch sie ahnte, dass sie bei diesem Thema nicht mehr aus ihm herauskriegen würde. Und der Artikel sollte ja den Helden von Storm Harbour feiern und nicht das Innenleben der Familie O’Neill beleuchten.

»Was waren deine Interessen? Wofür hast du gebrannt?«, fragte Ellie und überlegte kurz, was sie selbst darauf antworten würde.

»Ich wollte unbedingt Künstler werden. Das hat Mum und Dad überrascht, besonders meinen Vater, und wir haben uns ein bisschen gezofft deswegen. Aber letztendlich ließ er mir meinen Willen und finanzierte mein Studium an der Kunstakademie in Melbourne.«

»Und deine Schwester?«

»Sie hatte nie was für Landwirtschaft übrig und studierte nach der Schule Rechnungswesen. Danach hat sie bei einem Freund unseres Vaters in Melbourne angefangen.«

Ellie nickte. »Was hast du nach der Kunstakademie gemacht?«

»Ich bin gereist, hab hin und wieder einen Job angenommen und gemalt, wann immer ich konnte. Nach ein paar Jahren bin ich doch wieder in Queensland gelandet. Ronan und Cynthia sind sofort nach der Hochzeit zu ihren Flitterwochen in Europa aufgebrochen, also hat mich mein Vater gebeten, die Farm zu leiten, solange sie weg waren. Vielleicht wollte er auf diese Art und Weise wiedergutmachen, dass er mich zuvor nicht rangelassen hat.« Ben lächelte. »Ich habe festgestellt, dass ich mit Rindern nicht so viel anfangen kann wie mit Schafen, aber ich liebe die weite Landschaft.«

»Und was war mit deiner Kunst? Hast du dich da noch betätigt, als du dort warst?«

»Einer der alten Zaunflicker hat abends immer geschnitzt. Als er merkte, dass ich mich dafür interessiere, hat er mir gezeigt, wie man mit einer Kettensäge umgeht und welches Holz sich dafür eignet. Es gab auch einen indigenen Viehhüter, der mir viel über Bäume und ihre Besonderheiten beigebracht hat. Er lehrte mich, sie zu ›lesen‹, wie er es nannte. Wusstest du, dass manche Bäume heilig sind?«, fragte er Ellie, ehe er fortfuhr: »Von ihm lernte ich, wie seine Vorfahren Kanus aus Baumrinde fertigten und Werkzeuge und sogar Gefäße zum Transport von Lebensmitteln schnitzten. Das hat mich total fasziniert, und so bin ich zur Holzbildhauerei gekommen.«

»Du hast vorher das Malen erwähnt?«, hakte Ellie nach.

Ben zuckte die Achseln. »Ich mache gern Kohlezeichnungen und habe immer einen Skizzenblock und Kohle und Stifte dabei, damit ich draußen zeichnen kann. Manchmal stelle ich auch irgendwo eine Staffelei auf und male mit Öl- oder Aquarellfarben. Aber die Sachen aus Holz kommen bei den Leuten am besten an, und ich kann davon leben, auch wenn es keine zuverlässige Einnahmequelle ist.« Er grinste. »Doch es reicht, um über die Runden zu kommen, und ich kann unter freiem Himmel arbeiten.«

»Du fühlst dich also im Busch zu Hause. Hat dir das bei der Suche nach Peter geholfen?«, fragte Ellie.

»Ja. Im Busch kenne ich mich aus. Als ich den Abhang runtergerutscht bin, habe ich mich wie ein Idiot gefühlt, aber dann hat sich der Sturz als Glücksfall erwiesen, denn ich hörte Peter wimmern.«

»Ich hatte ein seltsames Erlebnis, als ich während der Suchaktion gestürzt bin«, sagte Ellie. »Mir war, als würden mich die Bäume beschützen. Auf einmal hatte ich keine Angst mehr und fühlte mich geborgen.«

Ben lächelte. »Ja. Bäume kommunizieren, sie atmen, wir brauchen sie. Weißt du, ich kann von ihrem Holz ablesen, ob sie Stress oder ein gutes Leben hatten. Aber keine Angst, ich fälle keine Bäume. Ich verwende nur welche, die schon umgestürzt sind.«

»Und momentan schnitzt du am liebsten mit der Motorsäge?«, fragte Ellie.

»Es hängt immer davon ab, ob ich das passende Holz finde. Daneben interessiere ich mich auch für kreative Gebäude aus natürlichen Materialien. Vielleicht belege ich mal einen Kurs für nachhaltige Architektur oder mache eine Ausbildung in dieser Richtung. Kommt ganz darauf an, wohin es mich verschlägt. Manchmal denke ich heute noch, Dad hätte mir die Leitung der Rinderfarm übertragen sollen, aber wie gesagt, Ronan hielt mich für ungeeignet …« Ben verstummte.

Ellie beschloss, einen Vorstoß zu wagen. »Darf ich dir eine persönliche Frage stellen? Wie kommst du eigentlich mit deinem Bruder aus? Ich habe im Wald gesehen, wie ihr euch gestritten habt.«

Ben sah sie an und wandte dann den Blick ab. »Also, ganz im Vertrauen, ich bin ein bisschen sauer auf Ronan.«

Ellie unterbrach die Aufnahme und bedeutete Ben mit einem Nicken, weiterzusprechen.

»Er hat gesagt, dass ich meine Großmutter nicht im Krankenhaus besuchen darf. So ein Schwachsinn!«

»Habt ihr darüber im Nationalpark gesprochen?«

»Ja, unter anderem. Ich wollte Dad Bescheid geben, dass Großmama im Krankenhaus liegt, aber Ronan war dagegen. Dad sollte seine Kreuzfahrt nicht abbrechen.«

»Was rückblickend auch vernünftig war, sie hatte ja nichts Ernstes. Außerdem wäre es schwierig gewesen, vom Schiff aus heimzureisen«, gab Ellie zu bedenken.

»Kann schon sein, aber wenn es nach Ronan geht, darf ich nie bei irgendwas mitreden. Er war schon immer eifersüchtig darauf, wie gut ich mich mit Großmama verstehe, und hat alles getan, um unser Verhältnis zu stören. Jetzt mit Susan im Haus ist es schlimmer denn je. Sie lässt mich einfach nicht zu Großmama, keine Ahnung, warum. Ich habe mit Dad darüber gesprochen, aber er hat gemeint, er will nicht, dass es deshalb zum Streit kommt.«

Ellie nickte und wollte gerade etwas über Susan sagen, doch als sie sah, wie Ben Sam tätschelte, überlegte sie es sich anders. Er hätte sich nur noch mehr aufgeregt, wenn er erfahren hätte, dass Susans bösartiger Hund auf Sam losgegangen war.

»Wo wir schon mal bei den persönlichen Fragen sind, wie läuft es mit dir und Sally?«

Ben grinste. »Alles bestens. Ich weiß noch nicht, was daraus wird. Das hängt ein bisschen davon ab, was Sally will. Sie träumt davon, in der Stadt als Journalistin groß rauszukommen, also wer weiß, wo wir landen? Außerdem habe ich ja einen großen Auftrag für eine Holzarbeit in Queensland.«

Ellie beugte sich näher zu ihm. »Ein Freund meines Großvaters, der die Horsham Times herausgibt, will für die Jensens einen Spendenaktionstag veranstalten, um Peter eine Ausbildung zu finanzieren. Hat er dich schon angerufen?«

»Ja, gestern. Ein Mr Ward, oder? Tolle Idee«, sagte Ben. »Ich soll der Ehrengast sein.« Er lachte. »Ich habe mich von Sally bequatschen lassen.«

»Sie werden dir einen königlichen Empfang bereiten.«

»Bloß nicht!« Er grinste. »Brauchst du sonst noch was?«

»Ach ja, für meinen Artikel! Den habe ich ganz vergessen, weil wir so nett geplaudert haben«, kicherte Ellie und drückte bei ihrem Handy erneut auf Aufnahme. »Okay, letzte Frage: Wo möchtest du dich eines Tages niederlassen?«

Ben richtete den Blick auf den Fluss. »Komisch, ich habe mich nie für einen sesshaften Typ gehalten. Eigentlich bin ich nur hergekommen, um den Krebs für die Kooperative zu schnitzen, aber dann bin ich mit Sally zusammengekommen, also bleibe ich nach Großmamas Geburtstag vielleicht noch eine Weile hier. Es sind zwei ganz besondere Frauen.« Ben lächelte. »Tja, wir werden sehen.«

 

Als Ellie in die Redaktion des Chronicle zurückkehrte, hörte sie laute Stimmen aus Patricks Büro.

»Besuch?«, fragte sie.

»Susan McLean mit einem Freund«, antwortete Maggie leise.

»Einem Freund?«

»Ein Stadtrat«, flüsterte Maggie. »Nicht gerade mein Fall.«

»Was meinst du damit? Oh – sag bloß nicht, die versuchen, Patrick dazu zu bringen, dass er bei dieser Werbekampagne für Storm Harbour mitmacht? Das wird ihm gar nicht gefallen.«

»Worum geht es dabei?«

Ellie schüttelte den Kopf. »Susan hat mich neulich im Café schon bearbeitet. Ich glaube, sie wollen den Chronicle sozusagen ›ermuntern‹, auf kritische Berichterstattung über den Stadtrat zu verzichten. Opa soll nur noch ›positive‹ Beiträge drucken, damit Unternehmer hier ein gutes Pflaster für Investitionen wittern. Natürlich berichtet Opa über Positives, aber nur, wenn es da tatsächlich etwas zu berichten gibt. Im Grunde geht es wohl darum, mit aufgebauschten Artikeln gezielt Werbung für die hiesigen Geschäfte zu machen, besonders die teuren.«

Dann hörten die beiden, dass Patrick allmählich unwirsch wurde.

»Ich muss da mal eingreifen«, sagte Ellie zu Maggie, klopfte kurz an und ging hinein. »Hallo … Oh, hallo, Susan! Ich störe doch hoffentlich nicht, Opa?«

Neben Susan saß ein blasser Mann, der Ellie forschend ansah.

»Das ist Stadtrat Lowe«, stellte Susan ihn vor.

Als Ellie seinen schlaffen Händedruck erwiderte, war ihr der Mann mit seinem herablassenden Blick, den kleinen tückischen Augen und der arroganten, verkniffenen Miene sofort zuwider.

»Ich bin Ellie Conlan, Patricks Enkelin.«

»Das ist mir bekannt«, erwiderte er.

»Sie sind hier, weil wir Lobeshymnen auf den Stadtrat schreiben sollen«, sagte Patrick unverblümt.

»Also, Patrick, so stimmt das nicht. Uns geht es doch eigentlich um dasselbe«, entgegnete Susan mit einem verkrampften Lächeln. »Wir wollen für unsere Stadt werben und publik machen, dass dies hier ein Ort zum Wohlfühlen ist, der hervorragende Chancen bietet.«

»Unser glanzvoller Onlineauftritt zielt auf Familien und Geschäftsleute ab, die hier Urlaub machen, ihren Ruhestand verbringen oder investieren sollen. Wir möchten den Menschen vermitteln, dass Storm Harbour der ideale Ort ist, um eine Familie oder ein Unternehmen zu gründen«, sprudelte Lowe heraus.

Patrick wirkte unbeeindruckt. »Bevor ich Leute ermuntern würde hierherzuziehen, Herr Stadtrat, würde ich erst mal die Infrastruktur auf Vordermann bringen. Die Küstenstraße ist die Hölle, das Internet völlig instabil. Vielleicht sollte der Stadtrat sich von einigen seiner Prestigeprojekte verabschieden und das Geld lieber in Dinge investieren, die unsere Kommune will und braucht«, erklärte er ungehalten.

»Was wäre denn in Ihren Augen am vordringlichsten für die Stadt?«, fragte Ellie den Stadtrat, um die Wogen zu glätten.

Lowe straffte die Schultern und setzte zu einem einstudierten Vortrag an. »Jede Kommune muss wachsen und gedeihen, sie muss konkurrenzfähig bleiben, und um zu expandieren, müssen wir uns im besten Licht darstellen …« Doch als Patrick die Augen verdrehte, brach er ab und sagte dann kurz und bündig: »Wir wollen Menschen anlocken, ja. Aber die richtigen Leute.«

Patrick schnaubte. »Und wer soll das bitte sein? Um was geht es denn wirklich? Warum soll die Zeitung so einen Zirkus um die Menschen und die Geschäfte hier veranstalten, von denen viele im Übrigen auch jetzt schon florieren? Und wie viel müssen Ihnen die Leute bezahlen, damit sie bei dieser Kampagne berücksichtigt werden?«

»Mr Addison, Patrick, der Stadtrat hat größten Respekt vor dem Chronicle, aber Sie neigen dazu, vorwiegend auf negative Dinge hinzuweisen, und das ist nicht immer hilfreich …«, begann Lowe.

»Unsinn! Werfen Sie doch mal einen Blick auf die Titelseite: Ein kleiner Junge, der sich im Wald verlaufen hat, wird gerettet. Geht es noch positiver?«, blaffte Patrick.

Ellie sah ihm an, dass sein Geduldsfaden bald reißen würde. »Was erwarten Sie sich denn vom Chronicle?«, fragte sie Lowe, während Patrick sie mit einem finsteren Blick bedachte.

»Dass Sie sich für den Stadtrat ins Zeug legen«, entgegnete Lowe gereizt. »Schlimm genug, dass unsere Bürgermeisterin Probleme damit hat, ihre eigenen Leute zu unterstützen …«

»Es ist natürlich allein Ihre Entscheidung, welche Artikel Sie veröffentlichen«, warf Susan hastig ein. »Andererseits ist der Chronicle ein Lokalblatt für die Kommune. Der Stadtrat würde einfach gern auf Ihre Unterstützung für seine Ideen und Projekte zählen können.«

»Entschuldigung, Susan, aber jetzt bin ich ein bisschen verwirrt«, sagte Ellie. »Ich dachte, Sie arbeiten für die O’Neills. Warum betreiben Sie auf einmal Lobbyarbeit für den Stadtrat?«

Susan runzelte die Stirn. »Das tue ich überhaupt nicht. Die O’Neills sind ehrenwerte Bürger dieser Stadt!«

Ellie fand, dass das eine seltsame Antwort auf ihre Frage war, hakte jedoch nicht weiter nach.

»Und was wird es die Geschäftsleute nun kosten, Ihre Kampagne zu unterstützen?«, wollte Patrick wissen. »Zahlt jeder dasselbe? Müssen die kleinen Händler genauso viel beitragen wie die großen Unternehmer? Und was bekommen sie als Gegenleistung?«

»Es ist eine Werbung für alle!«, rief Lowe. »Für die Stadt. Und der Stadtrat wird noch einmal genauso viel drauflegen. Das schließt auch Ihre Zeitung ein. Wir hoffen also, dass Sie sich ebenfalls verpflichten, positive Nachrichten zu verbreiten. Hören Sie auf, den Stadtrat zu kritisieren, das könnte nämlich nach hinten losgehen.«

Patrick funkelte Lowe an. »War das gerade eine Drohung?«, fragte er mit erhobener Stimme. »Sie üben Druck aus, verschleiern Tatsachen, tricksen. Die Leute hier wären sehr viel entgegenkommender, wenn Sie mit offenen Karten spielen würden.«

Lowe schoss das Blut ins Gesicht. »Das reicht. Sie sind starrköpfig und keine Hilfe für diese Stadt …«

»Schluss jetzt«, donnerte Patrick. »Ich gebe diese Zeitung heraus. Der Stadtrat verwaltet die Stadt. Am besten bleibt jeder bei seiner Aufgabe, egal was er von der Kompetenz des anderen hält. Ich mische mich nicht in die Angelegenheiten des Stadtrats ein, also machen Sie mir auch keine Vorschriften, was ich zu veröffentlichen habe.«

Susan erhob sich. »Danke jedenfalls, dass Sie uns empfangen haben, auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind.« An Lowe gewandt, sagte sie: »Kommen Sie. Wir stehlen hier nur allen die Zeit.«

Damit drehte sie sich um und marschierte zur Tür, gefolgt von dem grimmig dreinblickenden Stadtrat.

Susan hatte bereits die Eingangstür des Chronicle aufgerissen, als Ellie die beiden einholte.

»Da Sie schon mal hier sind, Stadtrat Lowe, können Sie mir vielleicht etwas zu dem geplanten Bauprojekt auf dem Campingplatzgelände sagen?«

»Wir sind gekommen, um eine mögliche Werbekampagne zu erörtern, und nicht, um Ihre unsinnigen Fragen zu beantworten«, erwiderte ihr Susan, bebend vor Wut. »Und was geht Sie das überhaupt an? Sie wohnen ja nicht mal in Storm Harbour.«

»Ich arbeite für den Chronicle, und was hier in der Stadt geschieht, geht den Chronicle ganz gewiss etwas an«, versetzte Ellie kühl, ehe sie sich wieder an Lowe wandte. »Wenn Sie einen Kommentar dazu abgeben wollen, Herr Stadtrat, werden wir ihn bei unserer Berichterstattung berücksichtigen.«

Mit steinerner Miene erwiderte Lowe: »Wie Susan gesagt hat, sind wir hierhergekommen, um die Möglichkeit einer für beide Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit zu erörtern. Das Gespräch ist hiermit beendet.« Damit führte er die sichtlich aufgebrachte Susan hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

»Was war das denn gerade?«, fragte Maggie irritiert.

»Viel heiße Luft und nichts Gutes«, antwortete Patrick, der gerade aus seinem Kabuff kam. »Lowes Drohungen könnten bedeuten, dass wir die Kommune als Anzeigenkunden verlieren. Was sich äußerst ungünstig auf unsere finanzielle Situation auswirken würde.«

Damit griff er nach seinem Fedora. »Ich schau mal bei Roly vorbei. Schulde ihm noch eine Partie Schach.«

 

Ellie saß in ihrem Büro am Schreibtisch und hörte sich die Aufnahme ihres Interviews mit Ben noch einmal an. Es reicht für eine Rohfassung, entschied sie. Fragen, die sich bei der Ausarbeitung ergaben, konnte sie mit einem Anruf klären. Du bist immer noch dabei, dieses Handwerk zu lernen, rief sie sich in Erinnerung. Was ihr, wie sie zugeben musste, ziemlichen Spaß machte.

Zwei Stunden später hatte sie die Rohfassung fertig und sich mehrere Fragen an Ben notiert. Außerdem musste sie ihn noch bitten, dass Jon für den Artikel ein paar Fotos von seinen Skulpturen machen durfte.

Bens schwieriges Verhältnis zu Ronan wäre Stoff für einen weiteren Artikel gewesen, aber offensichtlich wollte er nicht darüber reden. Das wenige, was er ihr erzählt hatte, war vertraulich gewesen. Sie fragte sich, wie es wohl für Ben gewesen war, im Schatten seines offenbar ziemlich herrschsüchtigen älteren Bruders aufzuwachsen.

Zufrieden mit ihrem Werk schickte Ellie den Artikel an Patrick, damit er ihn redigierte. Dann verabschiedete sie sich von Maggie und ging zum Auto, um nach Hause zu fahren. Als sie die Wagentür öffnete, klingelte ihr Handy. Es war Mike.

»Hallo, wie geht’s dir?«, fragte sie erfreut.

»Ganz okay. Ich habe interessante Neuigkeiten für dich.«

»Was denn? Du klingst ja richtig aufgeregt.«

»Es gibt noch Gerechtigkeit. Sophia wurde gefeuert!«

»Echt jetzt?« Ellie setzte sich ins Auto und zog die Tür zu. »Ich würde lügen, wenn ich sage, dass mich das nicht freut. Erzähl mir mehr darüber.«

»Gestern Abend in der Bar war es das Gesprächsthema. Offenbar hat sie das Projekt vollständig in den Sand gesetzt. Auch wenn sie nach außen hin so getan hat, als ob alles hervorragend liefe. Außerdem hat sie anscheinend ihr ganzes Team vergrault, also dein ehemaliges Team.«

»Das kommt zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Eigentlich sollte das Projekt ja kurz vor dem Abschluss stehen«, sagte Ellie. »Aber das überrascht mich nicht. Sie war dermaßen von sich eingenommen. Dachte, sie wüsste alles. Meinen Job bin ich allerdings trotzdem los.«

»Ich finde, dir steht ein bisschen Schadenfreude zu.«

Ellie lachte. »Mag sein. Mir tun nur ihre Mitarbeiter leid.«

»Verstehe«, sagte Mike. »Du, ich muss jetzt los. Wollte es nur schnell erzählen. Ich halte dich weiter auf dem Laufenden.«

»Danke, Mike.« Nach dem Gespräch kam es Ellie so vor, als wäre Melbourne mit seinem Großstadtgetümmel Millionen Meilen entfernt. Als sie ihr Handy in ihre Tasche stecken wollte, sah sie den Zettel, den sie unter dem Scheibenwischer ihres Wagens gefunden hatte. Sie zog ihn heraus und wählte die darauf notierte Nummer.

»Hallo?«, meldete sich eine Männerstimme.

»Hallo, hier spricht Ellie Conlan. Sie haben eine Nachricht an meiner Windschutzscheibe hinterlassen.«

»Ah, ja. Können wir uns treffen?« Der Mann hatte eine angenehme Stimme.

»Erzählen Sie mir zuerst, worum es genau geht?«

»Nicht am Telefon. Ich bin zwar kein Verschwörungstheoretiker, aber meinem Telefon traue ich trotzdem nicht so ganz. Kennen Sie den steinigen Pfad, der zu der Insel mit dem Leuchtturm führt? An der Kaimauer gibt es einen Picknicktisch mit Bank. Können Sie morgen früh dort hinkommen? Sagen wir, um sechs?«

»Ich denke schon.« Ellie kannte den kleinen Park von ihren Spaziergängen mit Sam.

»Ich will nicht paranoid klingen, aber es ist besser, wenn wir nicht zusammen gesehen werden. Aber Ihre Zeitung sollte erfahren, was im Stadtrat abläuft. Bis morgen.« Er legte auf.

Der Mann wirkte ganz vernünftig, und Ellie war sich sicher, dass ihr nichts zustoßen würde. Dennoch hielt sie es für ratsam, jemanden zu bitten, aus der Ferne ein Auge auf sie zu haben. Da der Campingplatz unweit des Treffpunkts lag, beschloss sie, sich an Steve oder Cassie zu wenden.

Gerade als Ellie den Wagen anlassen wollte, fuhr Jons Van in die Parklücke neben ihr. Ellie stieg aus, um mit ihm zu sprechen.

»Hallo, wie läuft es mit deiner Recherche? Bist du auf etwas Interessantes gestoßen?«, fragte sie, während er sich in seinen Rollstuhl hievte.

»Möglicherweise«, antwortete er. »Kommst du oder gehst du?«

»Ich wollte gerade los, aber ich komm noch mal mit rein, um mir deine Neuigkeiten anzuhören.«

Im Büro fuhr Jon zu seinem Schreibtisch, und Ellie nahm ihm gegenüber Platz.

»Ich habe mich nur ein bisschen umgeschaut und mit Leuten geredet, auch unten am Campingplatz«, begann er.

»Hat jemand etwas gehört?«

»Nein, niemand. Aber ein Typ, den ich nicht kannte, lief am Fluss herum und machte sich Notizen. Das kam mir komisch vor, zumal er einen teuren Anzug trug. Zwar ohne Krawatte, aber trotzdem.«

»Also wahrscheinlich niemand von hier«, befand Ellie. »Hast du mit ihm gesprochen?«

»Ja. Er war nicht besonders freundlich. Oder mitteilsam. Definitiv ein Auswärtiger. Bevor er sein Notizbuch zugeklappt hat, konnte ich noch sehen, dass er Diagramme und Pläne gezeichnet hat. Dann hat er mich nach einer Unterkunft gefragt, weil er vielleicht ein paar Wochen hier verbringen will. Hat mir seine Karte gegeben. Er kommt aus Melbourne. Offenbar ein Landvermesser.«

»Hat er erwähnt, was er hier tut oder wer ihn beauftragt hat?«

»Je mehr ich nachgebohrt habe, desto zugeknöpfter wurde er. Ach, übrigens, bevor ich diesen Typ getroffen habe, war ich auf einen Happen im Pub. Da bin ich mit ein paar Handwerkern ins Gespräch gekommen, die meinten, bald würde es jede Menge Arbeit geben. Als ich Näheres wissen wollte, haben sie dichtgemacht. Jedenfalls habe ich am Campingplatz ein bisschen fotografiert, weil das Licht so gut war, und gesehen, wie dieser Kerl etwas Längliches in seinen Kofferraum gelegt hat, bevor er weggefahren ist. Womöglich ein Stativ, für eine Kamera – oder für ein Vermessungsgerät.«

Ellie nickte. »Das klingt alles ziemlich verdächtig«, sagte sie.

»Es macht einfach keiner den Mund auf. Ich habe beim Stadtrat nachgefragt, ob eine Baugenehmigung für das Gelände am Fluss beantragt wurde, aber solche Informationen dürfen sie angeblich nicht rausgeben. Es hieß, ich solle einfach regelmäßig auf der Rathaus-Website nachschauen.«

»Klar, aber damit werden wir uns nicht begnügen«, grinste Ellie. Dann verabschiedete sie sich von Jon, stieg wieder ins Auto und rief Cassie an, um ihr von dem geplanten Treffen mit dem Unbekannten zu erzählen.

»Um sechs am Leuchtturm. Der Typ hat Informationen für den Chronicle. Vielleicht ein Whistleblower aus dem Stadtrat. Ich dachte, dass du oder Steve ein Auge auf mich haben könntet, falls er mich packt und ins Auto zerrt und verschleppt …«

»Also wirklich, Ellie! Das ist nicht lustig!«, rief Cassie. »Gut, ich werde Steve darum bitten, Geheimagent zu spielen«, kicherte sie dann.

»Den Trenchcoat und die schwarze Sonnenbrille soll er lieber zu Hause lassen! Vielleicht könnte er ja seine Angel mitnehmen.«

»Sehr gut. Und vielleicht fängt er ja was fürs Frühstück. Klingt wirklich nach einem Agentenkrimi.«

»Eher nach ganz alltäglichen Stadtratsdeals.«

Beide lachten bitter.

 

Gleich nachdem Ellie aufgelegt hatte, rief Meredith an.

»Hallo, Ellie, gut, dass ich dich erwische. Hast du ein paar Minuten Zeit?«

Ihre Stimme klang angespannt, was Ellie beunruhigte. »Klar. Was gibt’s denn?«

»Allmählich spitzt sich die Lage zu. Stadtrat Lowe markiert den großen Macher, tritt aggressiv und arrogant auf …«

»Ich bin ihm heute zum ersten Mal begegnet und kann diese Beschreibung nur bestätigen.«

»Ich glaube, er deichselt da etwas für seine Freunde, macht es aber so geschickt, dass ich ihm noch nicht auf die Schliche gekommen bin.« Meredith hielt inne, dann fragte sie: »Wo hast du ihn denn heute getroffen?«

»Mein Großvater hatte einen Redaktionsbesuch von Stadtrat Lowe und Susan McLean«, entgegnete Ellie und erzählte ihr von dem unerfreulichen Gespräch.

»Bilden die sich tatsächlich ein, sie könnten bestimmen, was in der Zeitung steht? ›Nur positive Nachrichten‹! Aus dem Stadtrat gibt es derzeit einfach nichts Positives zu berichten. Es ist frustrierend, dass sich die vernünftigen Leute dort so leicht von jemandem wie Lowe einschüchtern lassen«, meinte Meredith. Nachdem sie einen Moment geschwiegen hatte, fuhr sie fort: »Allerdings rufe ich dich aus einem anderen Grund an: Ich bin wieder zur Zielscheibe von Angriffen geworden. Jetzt werde ich auf den Social-Media-Kanälen des Rathauses getrollt, und in meinem Briefkasten waren ekelhafte Briefe. Das nervt gewaltig. Hast du eigentlich noch mehr Kommentare gelöscht als den, den du mir gezeigt hast?«

»Nur einen oder zwei«, antwortete Ellie. »Sie waren im Wortlaut fast identisch mit dem ersten. Aber jetzt ist nichts mehr gekommen. Vielleicht hat der Absender gemerkt, dass ich die Kommentare sofort runternehme, und ist dazu übergegangen, dich stattdessen direkt zu attackieren. Sind es Einschüchterungsversuche? Will dich jemand zum Schweigen bringen?«

»Ja, es sind definitiv Einschüchterungsversuche, auch wenn ich das Motiv nicht so recht verstehe. Dieser Troll legt es anscheinend darauf an, mich zu verunsichern, mir das Gefühl zu geben, verletzbar zu sein. Aber als Bürgermeisterin muss ich mit Kritik leben, da kann man nichts machen«, meinte Meredith.

»Es klingt, als ginge es über Kritik weit hinaus«, sagte Ellie.

»Ja, und es wird immer schlimmer.«

»Hör mal, Meredith, ich treffe mich morgen mit jemandem.« Sie zögerte und überlegte, wie viel sie Meredith verraten konnte. Immerhin war der Mann sehr auf Geheimhaltung bedacht, er wollte ja nicht einmal zusammen mit Ellie gesehen werden. »Ähm, es könnte sich um die Person handeln, die Sally mit Informationen für ihren Radiobeitrag versorgt hat. Wusstest du, dass Sally von ihrem Chef unter Druck gesetzt worden ist? Ich schätze, er wollte nicht, dass sie negativ über den Stadtrat berichtet. Sie hat durchblicken lassen, dass sie die Story über das Bauvorhaben nicht weiterverfolgen darf.«

»Das wusste ich nicht, aber es überrascht mich nicht. Unser Lokalradio wird privat finanziert, und du weißt ja, was das bedeutet – Seriosität und Objektivität der Berichterstattung hängen voll und ganz von der Einstellung der Eigentümer ab. Da kann die Pressefreiheit ganz leicht den Bach runtergehen. In diesem Fall ist es besonders heikel, weil der Sender als ›kommunaler Dienstleister‹ öffentliche Zuschüsse erhält.«

»Im Gegensatz zum Chronicle«, sagte Ellie. »Wir finanzieren uns durch Werbung, und Opa hat mir mal erzählt, dass er manchmal auch finanzstarke Werbekunden ablehnt. Zum Beispiel wenn er findet, dass die betreffende Firma ihre Angestellten schlecht behandelt oder der Umwelt schadet.«

Meredith lachte. »Wir brauchen mehr Menschen, die so engagiert und unbestechlich sind wie dein Großvater.« Es trat eine kleine Pause ein. »Erzählst du mir, was du von dieser Person erfährst?«

Ellie schluckte. »Meredith, du weißt, dass ein Journalist seine Quellen schützen muss«, sagte sie dann.

»Natürlich, aber ich will einfach etwas tun. Das Ganze geht mir allmählich an die Nieren.«

»Das tut mir so leid, Meredith.«

»Ihr müsst unbedingt am Ball bleiben. Die Stadt braucht Patrick und seine Zeitung. Und dich.« Meredith hielt inne. »Wie geht es eigentlich dir, Ellie?«

Offensichtlich spielte sie auf ihren Nervenzusammenbruch und die Panikattacke an, als Ronan während ihres Lunchs mit Dave aufgetaucht war.

»Gut, danke. Ich habe mich gefangen. Es tut mir gut, hier zu sein.«

»Du gehst doch nicht wieder weg, oder?«

»Nein, bisher ist nichts geplant.«

»Ellie, du gehörst jetzt hierher, du bist eine von uns geworden.«

»Das empfinde ich auch so. Mich werdet ihr also so schnell nicht mehr los.«

»Bravo, Ellie, das höre ich gern«, sagte Meredith herzlich. »Jedenfalls hoffe ich, dass die Informationen, die du bekommst, nützlich für dich und die Zeitung sind. Halt mich wenn möglich auf dem Laufenden.«

»Danke, Meredith. Lass dich nicht unterkriegen.«

 

Am nächsten Morgen fuhr Ellie durch die ruhige Nebenstraße, in der Susan mit ihrem aggressiven Hund wohnte, in Richtung Stadt. Als sie an Susans Haus vorbeikam, sah sie unter einer der prächtigen Norfolk-Tannen, die die Straße säumten, ein Auto stehen. Eine Frau saß reglos auf dem Fahrersitz, umklammerte das Lenkrad und starrte zu Susans Haustür. Das kam Ellie seltsam vor, zumal so früh am Tag. Um sich zu vergewissern, dass mit der Frau alles in Ordnung war, warf sie einen Blick in den Rückspiegel und fuhr dann weiter.

Als Ellie das Auto parkte, hatte sich der Wind zum Glück wieder gelegt. Sie ging über den Dammweg zur Insel bis zum Leuchtturm auf der Südseite, der inzwischen unbemannt war. Der Platz mit dem Picknicktisch im Schatten einiger Bäume war ein beliebtes Ausflugsziel. Steve war bereits da und packte seine Angelausrüstung aus.

Ellie setzte sich und legte ihr Handy auf den Tisch, dazu Notizbuch und Stift. Da der Mann bestimmt nicht wollte, dass das Gespräch mitgeschnitten wurde, würde sie vielleicht Notizen machen müssen. Sie blickte zu Steve, der sich zufällig im selben Moment umsah, und sie lächelten einander kurz zu. Ellie war so dankbar, dass er hier war. Das Ganze fühlte sich doch ziemlich seltsam an.

Während Ellie nachschaute, ob auf ihrem Handy Nachrichten eingegangen waren, nahm ein Mann ihr gegenüber Platz. Erschrocken blickte sie auf.

»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.« Der Mann streckte ihr die Hand entgegen. Er mochte Ende vierzig, Anfang fünfzig sein.

»Ich bin Russ. Danke, dass Sie sich mit mir treffen.«

»Danke, dass Sie der Allgemeinheit helfen wollen … falls Sie deshalb hier sind«, entgegnete Ellie lächelnd.

»Ja. Ich arbeite im Rathaus. Ich bin nur ein Verwaltungsangestellter, habe aber oft mit sensiblen Informationen zu tun.«

»Eins vorweg – haben Sie etwas dagegen, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?«

»Mit dieser Frage habe ich gerechnet«, sagte Russ. »Lieber nicht. Was ich Ihnen zu sagen habe, ist äußerst heikel, verstehen Sie?«

»Selbstverständlich«, sagte Ellie und griff zu ihrem Stift. »Gut, fangen wir an. Warum machen Sie das?«

»Aus demselben Grund, aus dem Sie hier sind. Im Stadtrat passieren Dinge, an denen einiges faul ist.«

»Warum? Was ist denn passiert?«

Er zögerte. »Die Frage ist eher, was nicht passiert, und die Folgen könnten für einen Großteil der Bürger äußerst schwerwiegend sein.«

»Hat es etwas mit dem Campingplatz zu tun?«

»Ja.«

»Es gibt also die Absicht, dort zu bauen?«, fragte Ellie. »Und was? Es laufen Gerüchte, dass es Townhouses werden sollen.«

»Möglich. Falls der Pachtvertrag nicht verlängert wird, stehen gewisse Leute bestimmt sofort mit Plänen und Vorschlägen auf der Matte.«

Ellie war verwirrt. »Das verstehe ich nicht – können Sie mich aufklären? Für mich gibt es da einen Widerspruch. Die derzeitigen Betreiber des Campingplatzes haben einen Pachtvertrag mit der Stadt, die das Land von den O’Neills gepachtet hat, richtig?«, fragte Ellie langsam.

Als Russ nickte, fuhr sie fort: »Soweit ich weiß, hat das Land immer Boyd O’Neill gehört und ist nach seinem Tod vermutlich auf seine Frau übergegangen. Er hat ihr einen Teil davon zur Nutzung überlassen, und sie hat dort den Botanischen Garten angelegt und ihn der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. Sie hat mir erzählt, dass sie ursprünglich das ganze Grundstück als Park gestalten wollte, aber nicht mehr dazu gekommen ist.«

Ellie hielt inne und sah zu Russ, der erneut nickte.

»In den Fünfziger- und Sechzigerjahren wurde die Gegend als Urlaubsziel entdeckt, und die Leute fingen an, dort zu campen. Boyd hatte nichts dagegen. Aber eines Tages schaltete sich die Stadtverwaltung ein und verlangte, dass er sich um das Gelände kümmerte, sanitäre Anlagen einbaute und so weiter. Kathryn zufolge wollte Boyd sich damit nicht belasten, daher verpachtete er den Platz an die Stadt.«

»Korrekt. Sie sind gut informiert. Aber das Grundstück, auf dem der Campingplatz liegt, ist nur auf fünfzig Jahre verpachtet. Der Botanische Garten auf neunundneunzig.«

»Aha«, sagte Ellie. »Das hat Mrs O’Neill nicht erwähnt. Vielleicht weiß sie es gar nicht. Obwohl ich den Eindruck hatte, dass sie über diese Dinge voll im Bilde ist.«

»Kann schon sein. Mein Arbeitsbereich sind Pachtverträge, Urkunden und Baugenehmigungen. Zum Beispiel benachrichtige ich die Eigentümer, wenn Pachtverträge verlängert werden müssen.«

»Wie kann das Grundstück also für eine Bebauung vorgesehen sein? Das wäre doch nur möglich, wenn die O’Neills es wieder übernehmen, dort selbst bauen oder es verkaufen, was meiner Ansicht nach höchst unwahrscheinlich ist, weil Seamus und Kathryn das niemals zulassen würden. Letztendlich bestimmen doch sie, was damit passiert, oder nicht?«, fragte Ellie.

»Im Augenblick schon. Die fünfzig Jahre laufen allerdings bald ab. Wenn nicht rechtzeitig ein neuer Pachtvertrag ausgehandelt wird, fällt das Land an die Stadt. Und das heißt, sie kann damit tun und lassen, was sie will. Ich warte seit Monaten darauf, dass Seamus O’Neill sich zu dem Pachtvertrag äußert, aber bisher vergeblich.«

»Sie wissen vermutlich nicht, dass Mr O’Neill sich derzeit auf einer Kreuzfahrt befindet«, sagte Ellie. »Kann das nicht warten, bis er zurück ist?«

»Ich habe irgendwie das Gefühl, dass da etwas nicht stimmt. Wir kennen Seamus O’Neill als zuverlässigen Geschäftspartner, der unsere Schreiben normalerweise umgehend beantwortet. Es ist ungewöhnlich, dass wir bisher gar nichts von ihm gehört haben.«

»Moment mal, haben Sie gesagt, dass der erste Brief bereits vor Monaten an ihn ging?«, fragte Ellie.

»Ja. Wie lange ist Mr O’Neill denn schon auf Reisen?«

»Keine Ahnung, aber höchstens ein paar Wochen.«

Russ schüttelte den Kopf. »Irgendjemand muss die Briefe in Empfang genommen haben.«

»Und wann genau läuft der Pachtvertrag aus?«, erkundigte sich Ellie.

»Ich möchte nicht zu viele Details ausplaudern«, wehrte Russ ab. »Man darf die Sache auf keinen Fall bis zu mir zurückverfolgen können. Ich will meinen Job nicht verlieren!«

»Natürlich«, beschwichtigte Ellie. »Der Chronicle achtet darauf, seine Quellen zu schützen.«

Russ atmete ein paarmal durch. Als er sich etwas beruhigt zu haben schien, fragte Ellie: »Warum haben Sie denn nun eigentlich Kontakt mit mir aufgenommen?«

»Ich hatte gehofft, dass die Zeitung der Sache nachgeht.«

»Ich versuche mein Bestes«, sagte Ellie. »Russ, ich weiß nicht, ob Sie darauf antworten wollen, aber haben Sie irgendetwas davon an das Lokalradio weitergegeben?«

»Nein, das war nicht ich.«

»Aha«, sagte Ellie und beeilte sich, noch etwas anderes anzusprechen. »Wir wissen von einem Vermesser aus Melbourne, der sich auf dem Campingplatz umgesehen hat.«

Russ runzelte die Stirn. »Dann müssen die sich ja ziemlich sicher fühlen.« Er blickte gedankenverloren zum Leuchtturm. Schließlich sagte er: »Dass der Campingplatz einem Neubauprojekt weichen soll, ist für mich ein schrecklicher Gedanke. Er liegt so idyllisch am Fluss. Wenn die Leute hier über solche Pläne Bescheid wüssten, gäbe es einen Aufschrei. Und deshalb hoffe ich, dass Sie etwas zur Aufklärung beitragen können.«

Ellie nickte. »Danke, dass Sie uns darauf aufmerksam gemacht haben«, sagte sie.

»Bitte halten Sie mich aus der Sache raus. Sie können sich vorstellen, dass man mich sofort feuern würde, wenn herauskäme, dass ich Ihnen das alles erzählt habe.«

Dann stand Russ auf und entfernte sich rasch, vorbei an den ersten Morgenspaziergängern und an Steve, der seine Angel einholte.

 

Patrick aß gerade einen Toast, als Ellie in die Küche trat.

»Wie ist es gelaufen? Ist was Brauchbares dabei herausgekommen?«

Ellie nickte. »Es war hochinteressant. Der Mann war tatsächlich ein Informant. Seine Enthüllungen haben allerdings weitere Fragen aufgeworfen.« Dann berichtete sie Patrick von dem Gespräch.

»Hmm, das klingt alles ziemlich verwirrend. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Seamus oder Kathryn die Pacht auslaufen lassen würden.«

»Als ich Kathryn auf die Gerüchte angesprochen habe, war sie total ahnungslos«, sagte Ellie. »Und Seamus ist offenbar schon seit längerer Zeit nicht erreichbar.«

»Wir haben also immer noch nichts Konkretes, was wir veröffentlichen könnten«, meinte er resigniert.

Ellie nickte. »Und natürlich habe ich Russ versprochen, dass ich unser Treffen vertraulich behandle.«

»Die Sache bleibt also unter uns. Aber wir forschen weiter nach«, sagte Patrick.

Es war zum Verzweifeln. Ellie machte sich einen Kaffee und ging in die ehemalige Nähstube, die inzwischen ihr Arbeitszimmer war.

Dort rief sie die Website des Chronicle auf, um die Kommentare durchzusehen. Plötzlich erstarrte sie. Fassungslos beugte sie sich über den Bildschirm, aus dem ihr harte, grausame Worte entgegensprangen.

Schlampe, Lügnerin, Betrügerin. Dieser Conlan-TUSSI kann man nicht trauen. Keiner kennt die Wahrheit über sie. Lasst euch nicht verscheißern. Sie hält sich für SUPERschlau, aber sie ist eine Schlampe, die versucht, alles an sich zu reißen.

Mit Tränen in den Augen knallte Ellie den Laptop zu.

Was für eine brutale, gemeine Attacke! Wer schrieb denn so etwas, und warum? Und mit so viel Hass? Sie fühlte sich schutzlos, ausgeliefert.

Rasch klappte sie den Laptop wieder auf und löschte den verletzenden Kommentar. Wie viele Menschen mochten ihn schon gelesen haben? Was für ein Horror! Sie wollte davonlaufen und sich irgendwo verkriechen. Wie konnte sie sich jetzt noch in der Stadt blicken lassen?

Nun war es ihr genauso ergangen wie Meredith. Kein Wunder, dass die beherzte Bürgermeisterin dermaßen außer Fassung gewesen war. Trolle waren solche Feiglinge. Warum sagten sie ihr das nicht ins Gesicht, sondern versteckten sich hinter einem anonymen Post?

Weil es lauter Lügen sind, antwortete ihre innere Stimme.

Der einzige Mensch, dem Ellie so etwas zutraute, war Sophia – aus Rache, weil sie ihren Job verloren hatte. Zum Glück hatten Ellies Freunde in Melbourne das hier vermutlich nicht gelesen. Mike und eventuell noch ihre Eltern waren die Einzigen dort, die die Website der Zeitung regelmäßig besuchten.

Ellie fuhr in die Redaktion, und als sie durch die Tür trat, sprang Maggie sofort auf und umarmte sie.

»Ich hab sie gelesen, wie schrecklich. Vergiss es einfach«, sagte Maggie, um sie zu trösten.

Ellie stutzte. »Warum ›sie‹? Ich habe den Kommentar gelöscht. O nein, sag bloß nicht …«

»Ich hab sie runtergenommen, keine Sorge.«

Jon blickte über die Schulter zu ihr. »Tut mir leid, Ellie … da ist schon wieder einer.«

Den ganzen Tag lang wurden sie mit herabsetzenden, fiesen Kommentaren bombardiert. Sie, Jon und Maggie wechselten sich damit ab, sie zu löschen.

Ellie war weiterhin überzeugt, dass der einzige Mensch, der das getan haben konnte, Sophia war. Aber sie hatte keine Beweise und wusste nicht, was sie dagegen unternehmen konnte.

Schließlich schob Maggie sie mit sanfter Gewalt zur Tür hinaus. »Fahr nach Hause. Wir kümmern uns darum und löschen alles, was noch kommt. Wer auch immer das macht, irgendwann muss er ja müde werden.«

 

Es dämmerte bereits, als Ellie vor dem Haus hielt. Sie fühlte sich wie erschlagen. Und da sie den ganzen Tag mit dem Löschen von Kommentaren beschäftigt gewesen war, war sie kaum zu etwas anderem gekommen.

Als sie durch die Haustür trat, rief sie nach Sam, der ihr fröhlich entgegensprang. Von ihrem Großvater war nichts zu sehen.

Sie ließ Sam hinaus, und er begann herumzuschnüffeln. Dann rannte er quer durch den Garten, die Nase am Boden. Ellie trat auf die Veranda und beobachtete, wie er in der Nähe des Zauns an etwas schnupperte.

»Sam! Hör auf!«, rief sie. Sie war selbst erstaunt über ihren scharfen Ton. Ihr Instinkt sagte ihr, dass da etwas nicht stimmte. Sam wollte offenbar gerade etwas fressen.

»Hör auf!«, schrie Ellie.

Sie rannte die Treppe hinunter, stürzte zu Sam und schob ihn weg, dann nahm sie den blutigen Fleischbrocken in Augenschein. »Rein, zurück ins Haus«, brüllte sie und scheuchte den verdutzten Hund die Treppe hinauf. Während sie noch mit dem Türriegel kämpfte, wollte Sam wieder zum Zaun laufen, doch sie rief ihn zurück.

Verwundert über ihren lauten, unmissverständlichen Befehl blieb Sam wie angewurzelt stehen. Ellie nahm ihn behutsam am Halsband und zog ihn ins Haus. Dann rannte sie in die Küche, schnappte sich eine Plastiktüte und die kleine Schaufel neben dem Kamin, lief wieder hinaus und hievte den stinkenden Klumpen mit der Schaufel in die Tüte.

Anschließend wusch sie sich die Hände und ging zurück zu Sam, der mit dem Kopf auf den Pfoten dalag und sie argwöhnisch beäugte. Sie kauerte sich nieder und schob seine Lefzen zurück, um sein Zahnfleisch und seinen Atem zu überprüfen. Sein Zahnfleisch war rosa, und sein Atem roch nicht nach dem verfaulten Fleisch.

Zitternd setzte sich Ellie auf die Fersen und streichelte Sam.

Dann rief sie den Tierarzt an.