Um acht wurde Firmino vom Haustelefon geweckt. Er hörte die männliche Stimme der Serviererin mit dem Damenbart.
— Ihr Direktor möchte Sie am Telefon sprechen, er sagt, es ist dringend.
Firmino rannte im Morgenmantel nach unten. Die Pension schlief noch.
— Die Druckerpressen beginnen in einer halben Stunde zu laufen, sagte der Herausgeber, ich gebe noch heute eine Sondernummer heraus, nur zwei Bögen und alle Fotos, die du gemacht hast, Text brauchen wir keinen, fürs erste ist es besser, wenn du dich nicht zu Wort meldest, um drei Uhr nachmittags wird das geheimnisvolle Gesicht im ganzen Land bekannt sein.
— Wie sind die Fotos geworden? erkundigte sich Firmino.
— Schrecklich, sagte der Herausgeber, aber wer ihn erkennen will, wird ihn erkennen.
Firmino spürte, daß ihm ein Schauer über den Rücken lief, als er daran dachte, was für eine Wirkung die Zeitung haben würde: schlimmer als ein Horrorfilm. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und fragte schüchtern, wo die Fotos plaziert würden.
— Der von vorne fotografierte Kopf kommt auf die Titelseite, antwortete der Herausgeber, das rechte und das linke Profil auf die beiden Innenseiten und auf die letzte Seite ein klassisches Foto von Porto mit dem Douro und der Eisenbrücke, natürlich in Farbe.
Firmino ging in sein Zimmer hinauf. Er nahm eine Dusche, rasierte sich, zog eine Leinenhose und ein rotes Lacoste-Shirt an, das ihm seine Freundin geschenkt hatte. Er trank rasch einen Kaffee und ging auf die Straße hinaus. Es war Sonntag, die Stadt war fast menschenleer. Die Leute schliefen noch, und später würden sie ans Meer fahren. Er verspürte plötzlich Lust, ebenfalls ans Meer zu fahren, obwohl er keine Badehose dabeihatte, nur um ein wenig frische Luft zu schnappen. Aber dann überlegte er es sich anders. Er hatte seinen Führer bei sich und beschloß, die Stadt zu erkunden, zum Beispiel die Märkte, die volkstümlichen Viertel, die er noch nicht kannte. Als er durch die steilen Gäßchen des unteren Teils der Stadt ging, stellte er zu seiner Verwunderung fest, daß hier lebhaftes Treiben herrschte. In Porto waren tatsächlich Traditionen erhalten geblieben, die in Lissabon bereits verlorengegangen waren. Ein paar Fischverkäuferinnen waren, obwohl es Sonntag war, mit dem Korb auf dem Kopf unterwegs, und das Geschrei der Straßenverkäufer rief ihm seine Kindheit in Erinnerung: die Okarinen der Scherenschleifer, das Hornsignal der Gemüsehändler. Er überquerte die Praça da Alegria, die ihrem Namen gerecht wurde und tatsächlich fröhlich wirkte. Hier befand sich ein kleiner Markt mit grünen Ständen, an denen man alles kaufen konnte, was das Herz begehrte: gebrauchte Kleider, Blumen, Gemüse, volkstümliches Holzspielzeug und kunsthandwerkliche Gegenstände aus Ton. Er kaufte einen Terrakottateller, auf dem der Clérigos-Turm auf naive Weise dargestellt war. Der würde seiner Freundin bestimmt gefallen. Er gelangte zum Largo do Padrão, auf dem sich ein Markt befand, der eigentlich gar keiner war, denn die Verkaufsstände, die die Bauern und die Fischhändler in den Hauseingängen und auf den Gehsteigen der Rua de Santo Ildefonso aufgestellt hatten, waren nur provisorisch. Er gelangte zu den Fontainhas, wo ein kleiner Flohmarkt stattfand. Viele Stände waren geschlossen, weil der Markt eigentlich nur am Samstag geöffnet war, aber ein paar Händler machten auch am Sonntag vormittag Geschäfte. Er blieb an einem Stand mit Käfigen stehen, an dem exotische Vögel verkauft wurden. An den Käfigen waren Papierstreifen befestigt, auf denen der Name und das Herkunftsland des Vögelchens angegeben waren. Die meisten kamen aus Brasilien und aus Madeira. Firmino dachte an Madeira und wie schön es wäre, dort einen Traumurlaub zu verbringen, wie ihn die Werbeplakate der Air Portugal versprachen. Dann kam ein Stand mit gebrauchten Büchern, und Firmino begann darin zu stöbern. Er entdeckte ein altes Buch, das sich mit dem Pressewesen der Stadt vor einem Jahrhundert beschäftigte. Er blätterte die Seiten eines Kapitels durch, in dem es um Zeitungen und zeitgenössische Werbeanzeigen ging. Er erfuhr, daß es zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts eine Zeitung gegeben hatte, die O Artilheiro hieß und in der folgende schöne Anzeige erschien: »Die Herrschaften, die gerne ein Paket nach Lissabon oder Coimbra aufgeben und sich dabei unserer Pferde bedienen möchten, können das Transportgut bei der Poststation gegenüber der Tabakmanufaktur abstellen.« Auf der folgenden Seite wurde eine Zeitung vorgestellt, die O Periódico dos Pobres hieß und in der die Anzeigen der Kaldaunenverkäufer gratis erschienen, weil sie als Angelegenheit von öffentlichem Interesse galten. Firmino spürte eine Welle der Sympathie für diese Stadt, der er anfänglich ein gewisses Mißtrauen entgegengebracht hatte, ohne sie überhaupt zu kennen. Er kam zu dem Schluß, daß niemand gegen Vorurteile gefeit war und daß er es, ohne es zu merken, an Dialektik hatte fehlen lassen, an jener grundlegenden Dialektik, auf die Lukács soviel hielt.
Er warf einen Blick auf die Uhr und beschloß, etwas essen zu gehen, es war Mittag, und er machte sich auf gut Glück auf den Weg ins Café Âncora. Das Café war belebt, auch die Tische des Speisesaals waren besetzt. Firmino fand einen freien Tisch und nahm Platz. Einen Augenblick später kam schon der sympathische Kellner.
— Haben Sie den Zigeuner gefunden? fragte er mit einem Lächeln.
Firmino nickte.
— Wenn Sie gestatten, unterhalten wir uns später darüber, sagte der Kellner, über die Zigeuner, meine ich, wenn Sie etwas Frisches essen wollen, das schnell fertig ist, empfehle ich Ihnen Tintenfischsalat mit Öl, Zitrone und Petersilie.
Firmino stimmte zu, und eine Minute später kam der Kellner mit dem Tablett.
— Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich einen Augenblick setze? fragte er.
Firmino bot ihm einen Platz an.
— Entschuldigen Sie, sagte der Kellner höflich, darf ich Sie fragen, was Sie für einen Beruf haben?
— Ich bin Journalist, antwortete Firmino.
— Donnerwetter, rief der Kellner aus, da könnten Sie uns ja helfen. Wo, in Lissabon?
— In Lissabon, bestätigte Firmino.
— Wir solidarisieren uns mit den portugiesischen Zigeunern, flüsterte der Kellner, ich weiß nicht, ob Sie die rassistischen Kundgebungen gesehen haben, die in einigen Dörfern in der Umgebung stattgefunden haben, haben Sie sie gesehen?
— Ich habe davon gehört, antwortete Firmino.
— Sie sind unerwünscht, in einer kleinen Stadt hat man sie sogar verprügelt, wir erleben eine Welle von Rassismus. Ich weiß nicht, von welchen Parteien die Bevölkerung aufgehetzt wird, aber man kann es sich ja vorstellen, wir wollen jedoch nicht, daß Portugal ein rassistisches Land wird, es ist immer ein tolerantes Land gewesen, ich bin Mitglied einer Vereinigung, die sich »Bürgerrechte« nennt, wir sammeln Unterschriften, würden Sie unterschreiben?
— Gerne, antwortete Firmino.
Der Kellner zog eine Liste mit Unterschriften aus der Tasche, der Briefkopf lautete »Bürgerrechte«.
— Im Restaurant dürfte ich Sie eigentlich nicht unterschreiben lassen, gestand er, es ist nämlich verboten, in öffentlichen Lokalen Unterschriften zu sammeln, wir haben in der ganzen Stadt Listen ausgelegt, aber der Besitzer schaut uns ohnehin nicht zu, da, hier bitte eine Unterschrift mit Personalien und Ausweisnummer.
Firmino unterschrieb mit seinem vollen Namen und der Nummer seines Personalausweises, und in die Spalte »Beruf« schrieb er: Journalist.
— Schreiben Sie einen Artikel über uns in Ihrer Zeitung? fragte der Kellner.
— Das kann ich Ihnen nicht versprechen, sagte Firmino, im Augenblick bin ich mit einer anderen Reportage beschäftigt.
— In Porto geschehen schlimme Sachen, stellte der Kellner fest.
In diesem Augenblick betrat der Zeitungsverkäufer, ein kleiner Junge, das Café. Er trug einen Packen Zeitungen unter dem Arm, und während er sich zwischen den Tischen durchschlängelte, schrie er: »Kopf der enthaupteten Leiche gefunden, das Geheimnis von Porto.«
Firmino kaufte den Acontecimento. Er warf einen flüchtigen Blick hinein und legte ihn sorgfältig zweimal zusammen, denn er fühlte sich unbehaglich. Er steckte ihn in die Tasche und ging hinaus. Er überlegte; am besten, er ginge in die Pension zurück.
Dona Rosa saß auf der Couch im Empfangszimmer und hielt den Acontecimento aufgeschlagen vor sich. Sie ließ die Zeitung sinken und sah Firmino an.
— Wie schrecklich, flüsterte sie, der Ärmste. Und Sie sind auch arm dran, fügte sie hinzu, daß Sie sich in Ihrem Alter mit so erbärmlichen Dingen beschäftigen müssen.
— So ist nun mal das Leben, seufzte Firmino und setzte sich neben sie.
— Da geht es dem Thronfolgerpaar besser, bemerkte Dona Rosa, in Vultos ist ein Bericht über einen wunderbaren Empfang in Madrid, sie sind alle so elegant.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon, und Dona Rosa hob ab, wobei Firmino sie beobachtete. Dona Rosa nickte und winkte Firmino mit dem Zeigefinger heran.
— Hallo, sagte Firmino.
— Haben Sie etwas zum Schreiben? fragte die Stimme.
Firmino erkannte sofort die Stimme, die ihn schon einmal angerufen hatte.
— Ich habe etwas zum Schreiben, antwortete er.
— Unterbrechen Sie mich nicht, sagte die Stimme.
— Ich unterbreche Sie nicht, beruhigte ihn Firmino.
— Der Kopf gehört Damasceno Monteiro, sagte die Stimme, achtundzwanzig Jahre, er arbeitete als Laufbursche bei Stones of Portugal und wohnte in der Rua dos Canastreiros, die Nummer müssen Sie selbst herausfinden, das ist in der Ribeira, gegenüber ist ein Brunnen, benachrichtigen Sie die Familie, ich kann es nicht tun, werde Ihnen aber nicht sagen, warum, auf Wiederhören.
Firmino legte auf und wählte sofort die Nummer der Redaktion, dabei betrachtete er die Notizen in seinem Block. Er verlangte den Herausgeber, aber die Telefonistin verband ihn mit Herrn Silva.
— Allô, Huppert, antwortete Silva.
— Ich bin’s, Firmino, sagte Firmino.
— Schmecken die Kaldaunen? fragte Silva in sarkastischem Ton.
— Hören Sie, Silva, sagte Firmino und sprach den Namen ganz deutlich aus, warum lecken Sie mich nicht einfach am Arsch?
Auf der anderen Seite herrschte Schweigen, dann fragte Herr Silva mit empörter Stimme:
— Was hast du gesagt?
— Sie haben schon verstanden, sagte Firmino, und jetzt verbinden Sie mich mit dem Herausgeber.
Man hörte Musik, dann meldete sich die Stimme des Herausgebers.
— Er heißt Damasceno Monteiro, sagte Firmino, war achtundzwanzig Jahre alt und arbeitete als Laufbursche für Stones of Portugal in Vila Nova de Gaia, die Familie werde ich benachrichtigen, sie wohnt in der Ribeira, danach fahre ich ins Leichenschauhaus.
— Es ist vier Uhr, antwortete der Herausgeber gelassen, wenn du es schaffst, mir den Artikel bis morgen neun Uhr zu schicken, geben wir noch eine Sondernummer heraus, die von heute war innerhalb einer Stunde vergriffen, und dabei ist heute Sonntag, und viele Kiosks sind geschlossen.
— Ich werde es versuchen, sagte Firmino ohne Überzeugung.
— Es muß sein, stellte der Herausgeber klar, und ich bitte dich, mit vielen ausschmückenden Details, drück auf die Tube und die Tränendrüse, wie bei einem schönen Fotoroman.
— Das ist nicht mein Stil, antwortete Firmino.
— Dann such dir einen anderen, erwiderte der Herausgeber, aber einen, der dem Acontecimento was einbringt. Und ich bitte dich, einen langen Artikel, schön lang.