Firmino betrat den Hof des Palais an der Rua das Flores und ging an der Portiersloge vorbei. Die Frau warf ihm einen raschen Blick zu und vertiefte sich wieder in ihre Strickarbeit. Firmino ging über den Gang und klingelte. Die Tür sprang auf, wie beim erstenmal.
Don Fernando saß an einem mit grünem Tuch bespannten Tischchen, er hielt sich mühevoll im Gleichgewicht auf einem Stuhl, der unter seiner Leibesfülle zusammenzubrechen drohte, und hatte ein Kartenspiel vor sich. Seine Zigarre lag in einem Aschenbecher auf dem Tisch und brannte langsam ab. Im Zimmer roch es unangenehm nach abgestandener Luft und altem Rauch.
— Ich spiele gerade Spite and Malice, sagte Don Fernando, aber es geht nicht auf, das ist heute nicht mein Tag. Können Sie Spite and Malice?
Firmino stand kerzengerade vor ihm, mit einem Packen Zeitungen unter dem Arm, und sah den Anwalt wortlos an.
— Man bezeichnet es als Geduldspiel, sagte Don Fernando, aber die Bezeichnung ist nicht ganz exakt, denn man braucht dafür auch Gespür und Logik, und natürlich auch Glück. Das hier ist eine Variante des Milligan, kennen Sie wenigstens Milligan?
— Um die Wahrheit zu sagen, nein, antwortete Firmino.
— Milligan ist für mehrere Spieler, erklärte Don Fernando, zwei Stöße mit zweiundfünfzig Karten und fortlaufende Reihen, man eröffnet mit dem As oder der Dame, beim As steigt die Reihe an, bei der Dame steigt sie ab, aber das ist nicht das Schöne daran, das Schöne sind die Hindernisse.
Der Anwalt nahm die Zigarre, an der sich bereits gut zwei Zentimeter Asche gebildet hatten, und zog genußvoll daran.
— Sie sollten sich ein wenig mit den sogenannten Geduldspielen beschäftigen, fuhr er fort, manchmal ähnelt ihr Mechanismus der unerträglichen Logik, nach der unser Leben funktioniert, so zum Beispiel auch Milligan, aber nehmen Sie Platz, junger Mann, setzen Sie sich auf den kleinen Sessel da.
Firmino setzte sich und legte den Zeitungspacken auf dem Boden ab.
— Milligan ist sehr interessant, sagte der Anwalt, es besteht darin, daß jeder Spieler versucht, seinen Gegner, der nach ihm dran ist, so viele Hindernisse wie nur möglich in den Weg zu legen, was zu einer Kettenreaktion führt, wie bei den internationalen Verhandlungen in Genf.
Firmino sah ihn verblüfft an. Er versuchte rasch zu enträtseln, was der Anwalt damit sagen wollte, es gelang ihm jedoch nicht.
— Den Verhandlungen in Genf? fragte er.
— Wissen Sie, sagte der Anwalt, vor ein paar Jahren habe ich darum gebeten, als Beobachter bei den Verhandlungen über atomare Abrüstung dabeisein zu dürfen, die im Hauptquartier der Vereinten Nationen in Genf stattfinden. Ich habe Freundschaft mit einer Dame geschlossen, der Botschafterin eines Landes, das die Abrüstung befürwortete. Die Sache war die, daß ihr Land einerseits Atomtests durchführte und sich andererseits für die weltweite atomare Abrüstung einsetzte, verstehen Sie, was ich meine?
— Ich verstehe, sagte Firmino, ein Paradox.
— Gut, fuhr der Anwalt fort, die Dame war selbstverständlich eine sehr gebildete und kultivierte Frau, aber vor allem war sie auch eine leidenschaftliche Kartenspielerin. Und eines Tages bat ich sie, mir den Mechanismus der Verhandlungen zu erklären, der sich meiner Logik entzog. Wissen Sie, was sie mir antwortete?
— Keine Ahnung, antwortete Firmino.
— Daß ich mich mit Milligan beschäftigen solle, sagte Don Fernando, das funktioniere nämlich nach derselben Logik: jeder Spieler tut so, als würde er mit einem anderen zusammenspielen, versucht aber in Wirklichkeit, Fallen in seine Kartenreihen einzubauen, um seinen Gegner zu behindern. Was halten Sie davon?
— Ein schönes Spiel, antwortete Firmino.
— Nun ja, sagte Don Fernando, darauf beruht das atomare Gleichgewicht unseres Planeten, auf der Logik des Milligan.
Er klopfte auf einen Kartenstapel.
— Aber ich spiele es allein, die Spite-and-Malice-Variante, das halte ich für passender.
— Was wollen Sie damit sagen? fragte Firmino.
— Daß ich eine Art Patience lege, bei der ich zugleich ich selbst und mein Gegner bin, ich glaube, das entspricht unserer Situation, wir müssen Raketen abfeuern und ihnen ausweichen.
— Wir haben eine Bombe, sagte Firmino mit Genugtuung, sie besitzt zwar keinen atomaren Sprengkopf, hat es aber trotzdem in sich.
Don Fernando mischte seine Patience durcheinander und sammelte die Karten einzeln ein.
— Das interessiert mich, junger Mann, sagte er.
— Im Puccini’s Butterfly wird mit Drogen gehandelt, sagte Firmino, und sie werden auch vor Ort konsumiert. Es gibt dafür eigens reservierte Logen am Gang, Opernmusik und bequeme Sofas, ich glaube, es handelt sich vor allem um Kokain, aber auch um anderen Stoff, eine Prise Schnee kostet zweihundert Dollar, und Titânio Silva spielt Frau Holle. Soll ich die Bombe in meiner Zeitung platzen lassen?
Der Anwalt stand auf und ging mit unsicheren Schritten durchs Zimmer. Er blieb neben einer Empirekonsole stehen, auf der eine gerahmte Fotografie stand, die Firmino noch gar nicht bemerkt hatte. Er stützte sich mit dem Ellbogen auf die Marmorplatte der Konsole, in einer Haltung, die Firmino bühnenbeziehungsweise gerichtssaalreif vorkam, fast als wolle er sich an den Richter höchstpersönlich wenden.
— Sie sind ein guter Reporter, junger Mann, rief er aus, innerhalb gewisser Grenzen, selbstverständlich, aber spielen Sie nicht Don Quijote, denn Titânio Silva ist eine sehr gefährliche Windmühle. Wir wissen ja, wie übel zugerichtet unser heldenhafter Don Quijote war, nachdem er in den Sog der Windmühlenflügel geraten war, aber ich kann und will nicht Ihr Sancho Pansa sein, der Ihren geschundenen Körper mit Heilsalbe einreibt, und deshalb werde ich Ihnen etwas sagen, aber spitzen Sie gut die Ohren. Spitzen Sie gut die Ohren, denn es handelt sich um einen entscheidenden Zug bei unserem Milligan. Sie entwerfen jetzt eine ausführliche Pressemeldung und schicken sie an eine Nachrichtenagentur, und in dieser ausführlichen Pressemeldung beschreiben Sie Puccini’s Butterfly in allen Einzelheiten, die weichgepolsterten Extrazimmer, die Opernmusik, die Tütchen mit den verschiedenen Pulvern darin, die Dollars, die vom erfahrenen Kassier Titânio Silva geschickt gezählt werden. Ich sage Ihnen, die portugiesische Presse wird das alles Wort für Wort übernehmen, alle Zeitungen, die dafür in Frage kommen und die man sich nur vorstellen kann, alle, denen das Wohl und die Zukunft des Menschengeschlechts am Herzen liegen, und alle, denen die Sportgeräte der Industriellen im Norden am Herzen liegen, was im Grunde nur eine andere Art ist, sich um das Wohl und die Zukunft des Menschengeschlechts zu kümmern, kurz und gut, alle werden gezwungen sein, auf ihre Weise davon zu berichten, die einen voller Empörung, die anderen in der Hoffnung auf einen Skandal, wiederum andere mit Vorbehalten, aber alle werden schreiben müssen, daß unmißverständlichen Zeugenaussagen zufolge in obengenanntem Lokal möglicherweise, ich wiederhole: möglicherweise, mit Drogen gehandelt wird, und zwar ungestraft — ein Verdacht, der durch die merkwürdige Gleichgültigkeit der Guarda Nacional Republicana erhärtet wird, die dort noch nie eine Razzia veranstaltet hat —, daß in obengenanntem Lokal Rauschzustände hervorrufende Mittel — gefällt Ihnen der Begriff? — zum bescheidenen Preis von zweihundert Dollar die Tüte verkauft werden, was einem Drittel des Monatslohns eines durchschnittlichen portugiesischen Arbeiters entspricht, und auf diese Weise bescheren wir dem Puccini’s und natürlich auch Herrn Titânio eine schöne Hausdurchsuchung durch die Kriminalpolizei.
Der Anwalt schien Atem zu holen. Er rang nach Luft wie jemand, der zu ersticken droht, und gab dabei ein Geräusch von sich wie ein alter Blasebalg.
— Daran sind einzig und allein die puros schuld, sagte er, ich muß mir spanische puros kaufen, weil es inzwischen keine Havannas mehr gibt, sie sind nur mehr eine Erinnerung, aber vielleicht ist auch die Insel inzwischen nur mehr eine Erinnerung.
Und dann fuhr er fort:
— Wir kommen vom Thema ab, das heißt, ich komme vom Thema ab, ich bitte Sie um Verzeihung, heute gehen mir zu viele Dinge durch den Kopf.
Die Hand, auf die er den Kopf gestützt hatte, knetete seine Hängebacke.
— Und außerdem habe ich schlecht geschlafen, fügte er hinzu, ich leide viel zu oft unter Schlaflosigkeit, und mit der Schlaflosigkeit kommen Gespenster, und die Zeit beginnt rückwärts zu laufen. Wissen Sie, was es heißt, wenn die Zeit rückwärts läuft?
Er sah Firmino forschend an, und Firmino fühlte sich aufs neue gereizt und verlegen. Es gefiel ihm nicht, wie Don Fernando mit ihm und vielleicht auch mit anderen umging, als wolle er eine Komplizenschaft herstellen, als erwarte er eine Bestätigung seiner Zweifel, wobei er fast drohend wirkte.
— Nein, ich weiß nicht, was es bedeutet, Herr Anwalt, sagte er, Sie verwenden viel zu doppeldeutige Ausdrücke, ich weiß nicht, was es heißt, wenn die Zeit rückwärts läuft.
— Die Zeit, flüsterte der Anwalt, ich stelle fest, daß Sie dafür nicht der geeignete Gesprächspartner sind. Freilich, Sie sind jung, und für Sie ist die Zeit ein Band, das sich vor Ihnen entrollt, Sie leben wie ein Autofahrer, der über eine unbekannte Straße fährt und nur wissen will, was sich hinter der nächsten Kurve verbirgt. Aber das wollte ich eigentlich gar nicht sagen, ich wollte über einen theoretischen Ansatz sprechen, verdammt, ich weiß nicht, warum mich Theorien derart faszinieren, vielleicht, weil ich mich mit Recht beschäftige, auch das Recht ist ein enormes Theoriengebäude, ein wackeliges Gebäude, über dem sich eine unermeßlich große Kuppel erhebt, wie das Himmelsgewölbe, das wir gemütlich von den Sitzen eines Planetariums aus betrachten. Wissen Sie, ich habe einmal eine Abhandlung über theoretische Physik in die Hände bekommen, ein ausgeklügeltes Werk, wie es von gewissen Mathematikern verfaßt wird, die bequem im Elfenbeinturm ihrer Universität sitzen. Es ging darin um die Zeit, und über einen Satz bin ich ins Nachdenken geraten, über einen Satz, der besagte, irgendwann im Universum habe die Zeit angefangen. Der Wissenschaftler hat boshafterweise hinzugefügt, daß dieser Satz im Rahmen unserer Denkkategorien nicht zu verstehen ist.
Er sah Firmino mit seinen forschenden Auglein an. Er wechselte die Haltung. Er steckte die Hände in die Taschen, wie ein Straßenjunge, der jemanden provozieren möchte.
— Halten Sie mich nicht für vermessen, sagte er in herausforderndem Ton, aber eine derart abstrakte Vorstellung verlangte danach, in menschlich faßbare Kategorien übersetzt zu werden, verstehen Sie mich?
— Ich tue mein Bestes, sagte Firmino.
— Der Traum, fuhr der Anwalt fort, die theoretische Physik läßt sich nur im Traum in verständliche Kategorien fassen. Denn eigentlich kann die Umwandlung dieser Vorstellung nur hier erfolgen, genau hier.
Er klopfte mit dem Zeigefinger an seine Schläfe.
— In unseren kleinen Köpfen, fuhr er fort, aber nur, wenn wir schlafen, in diesem der Kontrolle entzogenen Raum, der Doktor Freud zufolge das befreite Unbewußte ist. Dieser großartige Detektiv war leider nicht imstande, den Traum mit dem Theorem der theoretischen Physik in Zusammenhang zu bringen, aber es wäre interessant, wenn es eines Tages jemandem gelänge. Stört es Sie, wenn ich rauche?
Er watschelte zum Tischchen und zündete sich eine Zigarre an. Er machte einen Zug, ohne den Rauch zu inhalieren, und blies Rauchringe in die Luft.
— Hin und wieder träume ich von meiner Großmutter, sagte er in nachdenklichem Ton, ich träume allzuoft von meiner Großmutter. Wissen Sie, sie war sehr wichtig für mich, als ich ein Kind war, eigentlich bin ich bei ihr aufgewachsen, obwohl sich in Wirklichkeit die Hauslehrerinnen um mich kümmerten. Und manchmal ist sie in meinen Träumen ein kleines Mädchen. Denn auch meine Großmutter ist einmal ein kleines Mädchen gewesen, gewiß. Diese schreckliche alte Frau, die genauso fett war wie ich, mit ihrem Haarknoten und dem Samtband um den Hals, den schwarzen Seidenkleidern, ihrer Art, mich schweigend zu mustern, während ich in ihren Gemächern Tee trinken mußte, diese furchteinflößende Frau, die mein Alptraum im Wachzustand war, ist in meine Träume eingedrungen, und zwar als Kind, wie seltsam, ich hätte mir nie vorstellen können, daß die alte Hexe auch einmal ein Kind gewesen ist, aber in meinem Traum ist sie ein Kind, sie trägt ein blaues Kleidchen, so duftig wie eine Wolke, geht barfuß, die Locken fallen ihr auf die Schultern, blonde Locken. Ich stehe auf der anderen Seite eines Baches, und sie versucht, zu mir zu gelangen, und setzt ihre rosa Füßchen auf die Steine im Wasserlauf. Ich weiß, daß sie meine Großmutter ist, aber gleichzeitig ist sie ein Kind wie ich, ich weiß nicht, ob ich mich klar genug ausdrücke, drücke ich mich klar genug aus?
— Ich weiß nicht recht, antwortete Firmino vorsichtig.
— Ich drücke mich nicht klar genug aus, fuhr der Anwalt fort, denn die Träume lassen sich nicht erklären, sie ereignen sich nicht auf der Ebene des Sagbaren, wie uns Doktor Freud weismachen will, ich wollte damit nur sagen, daß die Zeit so anfangen kann, in unseren Träumen, aber es ist mir nicht gelungen, das zum Ausdruck zu bringen.
Er drückte die Zigarre im Aschenbecher aus und holte tief Atem, so daß es wieder wie das Ächzen eines Blasebalgs klang.
— Ich bin müde, sagte er, ich brauche ein wenig Zerstreuung, eigentlich hätte ich Ihnen etwas Konkreteres mitzuteilen, aber wir müssen jetzt los.
— Ich bin zu Fuß gekommen, stellte Firmino klar, wie Sie wissen, habe ich kein Fahrzeug.
— Nicht zu Fuß, sagte Don Fernando, bei meinem Gewicht ist es zu anstrengend, zu Fuß zu gehen, vielleicht können wir uns von Manuel chauffieren lassen, wenn er heute abend nicht zuviel im Weinkeller zu tun hat. Hin und wieder lasse ich mich von ihm chauffieren, er hält das Auto meines Vaters instand, ein Chevrolet Baujahr achtundvierzig, das jedoch hervorragend fährt, der Motor läuft wie geschmiert, wir könnten ihn fragen, ob er uns spazierenfährt.
Firmino merkte, daß der Anwalt auf seine Zustimmung wartete, und nickte eifrig. Don Fernando nahm das Telefon und rief Herrn Manuel an.
— Es ist nicht einfach, aus Porto hinauszukommen, sagte der Anwalt, aber vielleicht besteht das wahre Problem darin, daß es nicht einfach ist, von uns selbst wegzukommen, verzeihen Sie bitte die Banalität.
Das Auto fuhr über die Uferstraße, Herr Manuel fuhr sehr gekonnt, inzwischen war es dunkel geworden, und zur Linken sah man in der Ferne die Lichter der Stadt. Sie fuhren an einem imposanten Gebäude mit Schieferdach vorbei, der Anwalt zeigte mit einer zerstreuten Handbewegung darauf.
— Das ist der ehemalige Sitz der Elektrizitätswerke, sagte er, ein unheimliches Gebäude, nicht wahr? Heute ist es nur mehr ein Relikt aus vergangenen Tagen, aber als ich ein Kind war und man mich aufs Land brachte, gab es dort noch keinen elektrischen Strom, die Leute hatten Petroleumlampen.
— Ins »Haus der Tiere«? fragte Manuel und drehte sich kaum merklich um.
— Ins »Haus der Tiere«, antwortete der Anwalt.
Er kurbelte das Fenster herunter und ließ ein wenig frische Luft herein.
— Das »Haus der Tiere« ist ein Teil meiner frühen Kindheit, flüsterte er, dort habe ich die ersten Jahre meines Lebens verbracht, nur am Sonntag wurde ich von meiner deutschen Hauslehrerin zum Teetrinken in die Stadt zu meiner Großmutter gebracht, die Frau, die Mutterstelle an mir vertreten hat, wohnte dort, sie hieß Mena.
Das Auto fuhr über die Brücke und bog nach rechts ab, auf eine kaum befahrene Straße. Firmino gelang es, im Licht der Scheinwerfer ein paar Straßenschilder zu entziffern: Areinho, Massarelos. Orte, die ihm nichts sagten.
— In meiner Kindheit war das ein schöner, ertragreicher Bauernhof, sagte der Anwalt, deshalb hieß er »Haus der Tiere«, es gab vor allem Pferde, Maultiere und Schweine. Keine Kühe, Kühe wurden von den Bauern im Norden gehalten, in der Nähe von Amarante, hier gab es vor allem Pferde.
Er seufzte. Aber ganz leise, kaum hörbar.
— Meine Amme hieß Mena, fuhr er flüsternd fort, das war ein Kosename, ich habe sie immer Mena genannt, Mama Mena, ein Riesenweib mit einem Busen, der zehn Kinder hätte nähren können und an den ich mich flüchtete, wenn ich Trost brauchte, der Busen von Mama Mena.
— Im Grunde sind das doch schöne Erinnerungen, bemerkte Firmino.
— Mena ist leider zu früh gestorben, fuhr der Anwalt fort, ohne auf Firminos Bemerkung einzugehen, den Hof habe ich ihrem Sohn geschenkt, aber er mußte mir dafür versprechen, auch weiterhin ein paar Pferde zu halten, und er hält immer noch drei oder vier, obwohl er dabei draufzahlt, er macht es nur, um mir einen Gefallen zu tun, damit ich das Gefühl habe, ich kann mich ins Haus meiner Kindheit flüchten, wenn ich Trost brauche und nachdenken muß. Jorge, der Sohn von Mama Mena, ist der einzige Verwandte, der mir geblieben ist, er ist mein Milchbruder, ich kann zu ihm kommen, wann immer ich will. Wie Sie sehen, genießen Sie heute abend ein großes Privileg.
— Ich bin mir dessen bewußt, antwortete Firmino.
Herr Manuel bog in eine unbefestigte Landstraße ein, und hinter dem Auto wirbelte eine Staubwolke auf. Die Straße endete an einem Hof mit einem altertümlichen Bauernhaus. Unter den Arkaden stand ein älterer Herr, der auf sie wartete. Der Anwalt stieg aus und umarmte ihn. Firmino drückte ihm die Hand, der Mann murmelte einen Willkommensgruß, und er begriff, daß dies der Milchbruder von Don Fernando war. Sie betraten ein ländlich eingerichtetes Zimmer mit hölzernen Querbalken, in dem ein für fünf Personen gedeckter Tisch stand. Firmino wurde aufgefordert, Platz zu nehmen, der Anwalt verschwand hinter Herrn Jorge in der Küche. Als sie zurückkamen, hatten beide einen Becher Weißwein in der Hand, und das Mädchen, das ihnen folgte, füllte die Gläser.
— Das ist Wein aus Eigenproduktion, erklärte der Anwalt, mein Bruder exportiert ihn ins Ausland, aber diese Flasche ist im Handel nicht erhältlich, sie ist nur für den Eigenbedarf bestimmt.
Sie prosteten sich zu und setzten sich an den Tisch.
— Hol deine Frau, sagte der Anwalt zu Herrn Jorge.
— Du weißt doch, daß sie sich geniert, erwiderte Herr Jorge, sie ißt lieber in der Küche mit dem Mädchen zu Abend, sie sagt, das hier ist ein Männergespräch.
— Hol deine Frau, wiederholte Don Fernando in gebieterischem Ton, ich will, daß sie bei uns am Tisch ißt.
Seine Frau kam mit einer Tonplatte, grüßte und nahm schweigend Platz.
— Schweinekotelett, erklärte Herr Jorge dem Anwalt, als ob er sich rechtfertigte, du rufst immer erst im allerletzten Moment an, mehr haben wir nicht vorbereiten können, das Schwein ist nicht von uns, aber gute Qualität.
Während des Essens fielen nur wenige Worte. Das Wetter, die Schwüle, der Verkehr, der unmöglich geworden war: nichts von Bedeutung. Herr Manuel riskierte einen Witz und sagte:
— Ach, lieber Jorge, wenn ich doch in meinem Restaurant einen Koch hätte wie Sie.
— Meine Frau ist mein Koch, antwortete Herr Jorge schlicht.
Damit war das Gespräch beendet. Das Mädchen, das den Wein serviert hatte, kam aus der Küche und brachte Kaffee.
— Das ist die Enkelin von Joaquim, sagte Herr Jorge zu Don Fernando, sie ist öfter bei uns als zu Hause, erinnerst du dich an Joaquim? Er hat so gelitten, bevor er gestorben ist.
Der Anwalt nickte wortlos. Herr Jorge entkorkte eine Flasche Schnaps und füllte die Gläser.
— Fernando, sagte er, ich und Manuel bleiben am Tisch sitzen und unterhalten uns, wir haben uns viel über Oldtimer zu erzählen, wenn du deinem Gast die Pferde zeigen möchtest, geh ruhig.
Der Anwalt stand mit dem Schnapsglas in der Hand auf, und Firmino folgte ihm ins Freie. Es war eine sternklare Nacht, und der Himmel war außergewöhnlich hell. Hinter den Hügeln sah man den Widerschein der Lichter von Porto. Der Anwalt machte ein paar Schritte auf den Vorplatz hinaus, Firmino blieb an seiner Seite. Der Anwalt hob den Arm und machte eine kreisförmige Bewegung, den Rand des Platzes entlang.
— Quitten, sagte er, früher standen hier ringsherum Quittenbäume. Und da viele Früchte zu Boden fielen, fraßen darunter die Schweine. Mena machte in einem rußgeschwärzten Topf Marmelade daraus, sie ließ sie im Kamin einkochen.
Hinter dem Vorplatz sah man die dunklen Umrisse der Ställe und der Heuschober. Der Anwalt ging mit seinem unsicheren Schritt darauf zu.
— Sagt Ihnen der Name Artur London etwas? flüsterte er.
Firmino dachte einen Augenblick lang nach. Er hatte immer Angst, sich zu irren, wenn er auf die plötzlichen Fragen des Anwalts antworten mußte.
— War das nicht der tschechoslowakische Politiker, der von den Kommunisten in seinem Land gefoltert wurde? erwiderte er.
— Damit er ein falsches Geständnis ablegte, fügte der Anwalt hinzu, er hat ein Buch darüber geschrieben, Das Geständnis.
— Ich habe den Film gesehen, erklärte Firmino.
— Auch gut, flüsterte der Anwalt, die zwei Männer, die sich beim Foltern besonders hervorgetan hatten, waren Kohoutek und Smola, so lauteten ihre Namen.
Er öffnete die Tür zum Stall und ging hinein. Drei Pferde standen da, und eines von ihnen stampfte auf, als ob es sich erschreckt hätte. Oberhalb der Tür hing eine blaue Lampe, wie im Zug. Der Anwalt setzte sich schwerfällig auf einen Ballen gepreßten Strohs, und Firmino folgte seinem Beispiel.
— Ich mag diesen Geruch, sagte Don Fernando, wenn ich mich niedergeschlagen fühle, komme ich her, atme den Geruch ein und betrachte die Pferde.
Er klopfte auf seinen riesigen Bauch.
— Ich glaube, für einen Mann wie mich, mit einem derart entstellten und abstoßenden Körper, ist die Schönheit eines Pferdes eine Art Trost, sie gibt mir das Vertrauen in die Natur zurück. Übrigens, sagt Ihnen der Name Henri Alleg etwas?
Firmino fühlte sich wieder ertappt. Er schüttelte im Schutz der Dunkelheit den Kopf und zog es vor, nicht zu antworten.
— Schade, sagte der Anwalt, das war ein Kollege von Ihnen, ein Journalist, er hat ein Buch mit dem Titel La Question geschrieben, darin erzählt er, wie er 1957 von den französischen Streitkräften angeklagt wurde, Kommunist und für Algerien zu sein. Und so wurde er, ein Europäer und Franzose, in Algier gefoltert, damit er die Namen der anderen Widerstandskämpfer preisgab. Fassen wir zusammen: London wurde von den Kommunisten gefoltert, Alleg wurde gefoltert, weil er Kommunist war. Was bestätigt, daß die Folter von allen Seiten eingesetzt wird, das ist das wahre Problem.
Firmino gab keine Antwort. Plötzlich wieherte ein Pferd, es gab einen Laut von sich, den Firmino beunruhigend fand.
— Der Mann, der Alleg folterte, hieß Charbonnier, flüsterte der Anwalt, er war Oberleutnant bei den Fallschirmjägern, Charbonnier, er befestigte Elektroden an Allegs Hoden und verabreichte ihm Elektroschocks. Ich habe die fixe Idee, mir die Namen der Folterknechte zu merken, wer weiß, warum ich glaube, es hätte einen Sinn, sich die Namen der Folterknechte zu merken. Wissen Sie, warum? Weil die Folter eine Sache der individuellen Verantwortung ist, die Entschuldigung, man habe einem Befehl von oben gehorcht, gilt nicht, viel zu viele Menschen haben diese armselige Rechtfertigung benutzt und sich hinter dem Gesetz versteckt, verstehen Sie, sie verstecken sich hinter der Grundnorm.
Er holte tief Atem, und ein Pferd antwortete mit einem verärgerten Aufstampfen.
— Vor vielen Jahren, als ich ein enthusiastischer junger Mann war und glaubte, man könne mit dem Schreiben etwas bewirken, hatte ich mir in den Kopf gesetzt, über die Folter zu schreiben. Ich kam gerade aus Genf zurück, Portugal war damals eine Diktatur in der Hand der Geheimpolizei, die wußte, wie man den Leuten Geständnisse entreißen konnte, ich weiß nicht, ob ich mich klar genug ausdrücke. In meiner Heimat gab es genug Material zu sichten, alles stand zu meiner Verfügung, die portugiesische Inquisition, und ich begann die Archive des Torre do Tombo zu besuchen. Ich kann Ihnen versichern, die raffinierten Methoden der Folterknechte, die jahrhundertelang die Menschen in unserem Land gequält haben, sind von besonderem Reiz, ganz auf die Muskulatur des menschlichen Körpers abgestimmt, die der edle Vesal untersucht hatte, auf die Reaktionen der Hauptnervenstränge, die unsere Glieder, unsere armen Genitalien durchziehen, sie hatten ausgezeichnete anatomische Kenntnisse, und das alles geschah im Namen einer Grundnorm, der Grundnorm schlechthin, im Namen der absoluten Norm, verstehen Sie?
— Und das wäre? fragte Firmino.
— Gott, antwortete der Anwalt. Diese eifrigen und äußerst raffinierten Folterknechte arbeiteten im Namen Gottes, von ihm hatten sie die höhere Weisung erhalten, im Grund handelt es sich immer um dieselbe Vorstellung: Ich bin nicht verantwortlich, ich bin ein einfacher Unteroffizier und handle auf Befehl meines Hauptmanns, ich bin nicht verantwortlich, ich bin ein einfacher Hauptmann und handle auf Befehl meines Generals oder des Staates. Oder: Gottes. Gegen den läßt sich am wenigsten einwenden.
— Und dann haben Sie doch nichts geschrieben? fragte Firmino.
— Ich habe darauf verzichtet.
— Warum? fragte Firmino, entschuldigen Sie, wenn ich Sie das frage.
— Wer weiß, antwortete Don Fernando, vielleicht hielt ich es für sinnlos, gegen die Grundnorm anzuschreiben, außerdem hatte ich den selbstgefälligen Essay eines deutschen Autors über die Folter gelesen, und das hielt mich davon ab.
— Verzeihen Sie die Frage, sagte Firmino, aber lesen Sie nur deutsche Autoren?
— Hauptsächlich, antwortete Don Fernando, vielleicht ist das die Kultur, der ich tatsächlich angehöre. Ich bin zwar in Portugal aufgewachsen, aber die erste Sprache, in der ich gelernt habe, mich auszudrücken, war Deutsch. Der Autor dieses Essays hieß Alexander Mitscherlich, er ist Psychoanalytiker, leider beschäftigen sich inzwischen auch die Psychoanalytiker mit diesen Problemen. Wissen Sie, er kramte das Bild des Gekreuzigten hervor und behauptete, es sei mit unserer Kultur untrennbar verbunden, und davon ausgehend stellte er die Behauptung auf, wenn der Tod im Unbewußten keine ausreichende Bestrafung darstellt — nun, die Schlußfolgerung lautete: Geben wir uns keinen Illusionen hin, wir können die zerstörerischen Triebe des Menschen nicht abschaffen, und deshalb wird es auch die Folter immer geben. Kurz und gut, finden wir uns damit ab, denn l’homme est méchant. Nichts zu machen, wollte er sagen mit seinen ganzen Freudschen Theorien, l’homme est méchant. Deshalb habe ich mich für etwas anderes entschieden.
— Und wofür? fragte Firmino.
— Für die Tat, antwortete Don Fernando, es ist bescheidener, vor Gericht zu gehen und die zu vertreten, die auf besagte Weise behandelt wurden. Ich kann nicht sagen, ob es sinnvoller ist, eine Abhandlung über Landwirtschaft zu schreiben oder ein Feld zu pflügen, ich habe mich jedenfalls dafür entschieden, Felder zu pflügen wie ein Bauer. Ich habe von Bescheidenheit gesprochen, aber schenken Sie mir nicht allzuviel Glauben, bei mir ist es Arroganz.
— Warum erzählen Sie mir das alles? fragte Firmino.
— Damasceno Monteiro ist gefoltert worden, flüsterte der Anwalt, überall auf seinem Körper wurden brennende Zigaretten ausgedrückt.
— Woher wissen Sie das? fragte Firmino.
— Ich habe eine zweite Autopsie verlangt, sagte Don Fernando, beim ersten Autopsiebericht hat man dieses unbedeutende Detail vergessen.
Er holte tief Atem, und in seiner Lunge brodelte es wie bei einem Asthmatiker.
— Gehen wir hinaus, sagte er, ich brauche frische Luft. Aber schreiben Sie das in Ihrer Zeitung, die Quelle ist natürlich unbekannt, informieren Sie sofort die Öffentlichkeit, in zwei oder drei Tagen sprechen wir vielleicht vom sogenannten Untersuchungsgeheimnis und von den laufenden Verhören, aber alles der Reihe nach.
Sie traten auf den Vorplatz hinaus. Don Fernando hob den Kopf und betrachtete den Sternenhimmel.
— Millionen Sterne, sagte er, Millionen Sternennebel, verdammt, Millionen Sternennebel, und wir beschäftigen uns hier damit, daß man Elektroden an Genitalien festmacht.