Mein erster Tag
[LIV]
Der Tag beginnt miserabel. In etwa so, dass man im Bett bleiben und sich unter der Decke verkriechen sollte. Kurz denke ich darüber nach, ob ich genau das mache.
Stattdessen gebe ich den wiederholten, überaus gereizten Rufen meiner Tante nach, quäle mich aus dem Bett und schleppe mich unter die Dusche. Dort nimmt das Unheil seinen Lauf, indem zunächst lediglich eiskaltes Wasser aus dem Hahn strömt, das schließlich, exakt in dem Augenblick, als ich meine taillenlangen braunen Haare vollständig mit Shampoo eingeschäumt habe, ganz ausbleibt.
»Tante June!«, rufe ich, während ich mich in ein Handtuch wickele und meine Haare den Badezimmerboden überfluten. »Tante June, es kommt kein Wasser mehr! Du wolltest doch die Rechnungen bezahlen.«
»Ach Schätzchen«, antwortet meine Tante aus dem Untergeschoss, »es hat mir gestern nicht mehr gereicht.« Was so viel bedeutet, wie: Ich konnte nicht genug Geld auftreiben.
»Aber ich werde es sofort heute Mittag erledigen. Versprochen!«
»Alles klar«, grummele ich missgelaunt, ziehe Jeans und ein ärmelloses Top über und schnappe mir meine Schultasche. Ein ungewohntes Gefühl, zumal ich meine gesamte Schulzeit mit einem Hauslehrer in meinen eigenen vier Wänden verbracht habe. »Nur das Beste für die Beste!«, pflegte meine Tante als Begründung zu trällern, wenn ich sie danach fragte, warum ich nicht wie normale Kinder auf eine normale Schule gehen konnte. All die Jahre hindurch verwehrte sie mir das, doch heute soll es endlich so weit sein: Ich darf zur Schule gehen. Es ist mein Abschlussjahr an der Highschool und meine Tante ist der Meinung, ich solle zumindest meinen Abschluss unter Gleichgesinnten machen.
Mit nicht gerade wenig Aufregung im Bauch steige ich die knarrende Treppe hinab in die Küche, wo June mal wieder damit
beschäftigt ist, an der defekten Waschmaschine herumzuschrauben. Inzwischen streikt das alte Ding seit Tagen und ich erwische mich bei dem Gedanken, dass sie das Geld für den Hauslehrer besser für neue Küchengeräte und laufendes Wasser aufgespart hätte.
Aber gut, ich kann mich nun wahrlich nicht beschweren. Seit meine Eltern ausgerechnet heute vor vierzehn Jahren ums Leben gekommen sind, kümmert sich meine alleinstehende Tante sehr aufopfernd um mich. Wenn man von ihrer Paranoia, mich nach draußen zu lassen, einmal absieht. Das allerdings schiebe ich auf die überaus traumatisierende Tatsache, dass ich nach dem Verlust ihrer Schwester ihre einzige, noch lebende Verwandte bin.
Heute jedoch, mit achtzehn Jahren, soll sich mein Leben drastisch verändern. Endlich darf ich hinaus in die richtige Welt, um auf eine richtige Schule mit richtigen Menschen zu gehen. Bisher haben sich meine sozialen Kontakte auf den alten John Joe am Ende der Straße mit seinen verrückten Hunden, die Waschbären im angrenzenden Wald und gelegentliche Gespräche mit den Verkäuferinnen im ortsansässigen Supermarkt beschränkt. Vielleicht ist das mit ein Grund, weshalb ich mich keineswegs vorbereitet fühle, nun auf eine öffentliche Schule zu gehen.
Nervös wie ich bin, trinke ich die komplette Tasse Kaffee in einem Zug aus und schnappe mir lediglich einen Apfel, den ich in meine Tasche stopfe.
»Liv«, ertönt die Stimme meiner Tante hinter der Waschmaschine hervor, »nimm das Geld von der Theke, um dir in der Mittagspause was Hübsches zu kaufen, ja?«
Misstrauisch spähe ich auf die wenigen Münzen. Ich bezweifele, dass ich dafür etwas Nahrhaftes bekommen werde, stecke sie jedoch ohne weiteren Kommentar in meine Hosentasche.
»Und vergiss nicht, mich anzurufen, falls ich dich abholen soll und …« Endlich kriecht sie hinter der Waschmaschine hervor, hält mitten im Satz inne und blickt mich an. Ihre Augen weiten sich überrascht. »Oh Gott, was hast du mit deinen Haaren gemacht?«
»Die Frisur nennt sich: nicht genug Wasser, um das Shampoo auszuspülen! Keine Sorge, Tantchen. Ich werde unterwegs am Fluss anhalten und den Schaden beheben.« Zumindest hoffe ich das.
Sie nickt, wenig überzeugt, zwingt sich dann jedoch ein
mutmachendes Lächeln auf. »Alles wird gut, Liv. Und denk immer daran: Nur das Beste …«
»… für die Beste«, vervollständige ich ihre ewig gleiche Parole. »Ich weiß. Vielen Dank, June. Es wird schon schiefgehen.«
Hätte ich das mal nur nicht laut gesagt.
***
Bereits auf dem Weg hinunter zum Fluss geht jede Menge schief. Ich kann das Wasser schon rauschen hören, als ein verräterisches Zischen an meine Ohren dringt und gleich darauf mein Fahrrad ins Schlingern gerät. Ganz knapp bevor ich einen Salto über das steinige Ufer schlage, springe ich vom Rad und schürfe mir dabei lediglich die Ellbogen auf. Ein Blick auf meinen Reifen bestätigt meinen Verdacht. Ich habe mich durch die Scherben einer zerbrochenen Flasche um meine einzige Fahrgelegenheit gebracht.
»Elender Mist«, fluche ich, während ich die Reste der Flasche zur Seite kicke und das Fahrrad notdürftig in einem Gebüsch verstecke. Ich werde es auf dem Rückweg mit nach Hause nehmen. Hier wird es ganz sicher niemand finden.
Auf der anderen Seite des Flusses geht es steil bergauf. Eine unbewohnte Gegend, die jeder meidet. Denn auf der Spitze des Berges steht eine gruselige Burg, in der es angeblich spuken soll. Ob das stimmt, weiß ich nicht, aber sie ist in Privatbesitz und wenn der griesgrämige Burgherr bei seinen seltenen Ausflügen ins Dorf gesichtet wird, macht jeder einen großen Bogen um ihn. Es ist allgemein bekannt, dass er Besucher hasst, so wie er wahrscheinlich generell Menschen hasst. Zumindest erweckt er diesen Anschein, weswegen ihm keiner zu nahekommen möchte. Selbst bei bestem Wetter ist der Gipfel des Berges von Nebel und tief stehenden Wolken umhüllt.
Nach einem kurzen Blick hinauf lasse ich mich an einer seichten Stelle am Ufer nieder und spüle mit zusammengebissenen Zähnen meine Haare aus. Himmel, ist das Wasser kalt! Doch meine Haare wissen es zu schätzen. Zum Glück sind sie so dünn und glatt, dass sie mir nach ein paar Minuten an der Luft trocknen locker und lässig über die Schultern fallen, als hätte ich das so geplant.
Ein wenig versöhnt mache ich mich zu Fuß auf den Weg in die Schule.
Noch bevor ich sie sehe, weiß ich, dass ich mich auf dem richtigen Weg befinde. Horden an Schülern strömen alle in ein und dieselbe Richtung und ich muss mich lediglich mittreiben lassen, um mein Ziel zu erreichen. Lachende Gruppen mit albernen Cheerleadern, wie ich sie bisher nur aus Zeitschriften kenne, umringen tuschelnd die coolen Jungs mit ihren Sportlerjacken. Mir wird schon beim ersten Anblick übel. Alle Klischees aus den Serien, die ich tausendfach geschaut habe, werden hier erfüllt und machen meine Hoffnung zunichte, in ihnen könnte mehr Lüge als Wahrheit stecken.
Auf, auf in mein eigenes Serien-Drama
, treibe ich mich dazu an, die wenigen breiten Treppenstufen zum Schuleingang hinaufzunehmen, hindurch zwischen Cheerleadern und Sportlern, zwischen bebrillten Nerds mit Büchern unterm Arm und freakigen Außenseitern mit schrägen Frisuren. An Flucht ist jetzt ohnehin nicht mehr zu denken. Die Menschenmasse schiebt mich vorwärts. Zu dieser frühen Morgenstunde ist das hier eindeutig eine Einbahnstraße.
Nur das Beste für die Beste,
sage ich mir Junes Worte wie ein Mantra in Gedanken vor und rufe mir ihre plausible Erklärung in Erinnerung, dass ich nur mit einem Schulabschluss an einer richtigen Schule auch die Möglichkeiten für eine anständige Zukunft hätte. Meine anfängliche Euphorie ist quälender Nervosität gewichen. Für ein Leben unter Menschen habe ich nicht gerade viele Erfahrungen in meiner Kindheit gesammelt.
Umständlich krame ich den per Post zugesandten Stundenplan aus meiner Schultasche und studiere die dort angegebenen Kürzel für die Räumlichkeiten der verschiedenen Fächer, als ich plötzlich angerempelt werde.
»Oh, mein Fehler!« An den Kopf geklatschte, fettige Haare, eine runde Nickelbrille, die mich an Harry Potter erinnert, und viel zu viele rote Pickelchen zieren das Gesicht, das mich nun schuldbewusst anstiert. Seine Augen blinzeln in hoher Geschwindigkeit – ob aus Nervosität oder Gewohnheit kann ich nicht erkennen. Fahrig streicht sich der Junge durch seine Haare,
was seine Frisur nicht unbedingt besser macht. »Hab dich gar nicht gesehen!« Als würde es etwas helfen, schiebt er sich daraufhin seine Brille auf der Nase ganz nach oben.
»Hi«, sage ich, weil ich meine, dass diese Begrüßung immer funktioniert. Außerdem macht man das in den Serien auch so.
»Hi«, entgegnet er, ohne das Blinzeln zu unterlassen. »Ich kenn dich noch gar nicht. Ich bin Malcolm.«
»Ich bin die Neue.« Auch so ein geklauter Satz. »Mein Name ist Liv. Ich gehe ab heute hier zur Schule.« Dämliche Erklärung, Liv
, schimpfe ich mich. Das sieht er doch selbst!
»Ich wollte sagen«, versuche ich, meine Peinlichkeit zu kaschieren, »ich mache hier meinen Abschluss, weil …«
Doch weiter komme ich nicht, denn wir werden erneut angerempelt. Besser gesagt Malcolm wird es, und zwar von zwei identischen, rothaarigen Mädchen, die sich rechts und links bei ihm einhaken.
»Ach Malcolm, in dem Trubel hätten wir dich fast übersehen«, trötet die Rothaarige zu seiner Rechten und wickelt sich einen ihrer zwei Zöpfe um ihren hellen, schlanken Finger.
»Man sollte meinen, es gäbe hier irgendwas umsonst«, ergänzt die links von ihm, die ihrer Schwester bis aufs Haar gleicht, und kichert albern.
Malcolms Hautfarbe nähert sich der Haarfarbe seiner beiden Begleiterinnen an und seine Pupillen zucken in seinen Augen nervös von einer Seite zur anderen.
»Darf ich vorstellen?«, krächzt er dann heiser an mich gewandt. »Das sind Violet und Melody. Sie sind … Zwillinge.«
Das dachte ich mir schon, doch zum Glück spreche ich das nicht laut aus.
»Und wer bist du?«, flötet Violet oder Melody. Wie soll ich nur jemals in der Lage sein, sie auseinanderzuhalten? Sie beäugt mich misstrauisch.
»Das ist Liv«, erklärt Malcolm zuvorkommend. »Sie macht mit uns den Abschluss.«
»Oh, das ist neu«, kommentiert eines der Zwillingsmädchen überrascht und reißt mir ungefragt den Stundenplan aus meinen Händen. »Geschichte bei Taylor. Wie praktisch. Du kommst also mit
uns!«
Und so geschieht es, dass ich einen relativ normalen Vormittag an meinem ersten Schultag erlebe. Zumindest das, was ich mir unter »normal« vorstelle.
Malcolm und seine Zwillinge haben es sich zur Aufgabe gemacht, mich unter ihre Fittiche zu nehmen, was ich durchaus erleichternd finde, mich aber auch gleichzeitig verwundert.
Nach einem kleinen Rundgang durch die Schule, Geschichte bei Taylor, Englisch bei Fitz und Biologie bei einem »komischen Vogel« mit unaussprechlichem Namen sitze ich schließlich mit von meiner Anspannung schmerzenden Schläfen und meinem angebissenen Apfel auf einer hüfthohen Mauer, die rund um die Außenterrasse der Mensa führt.
Meine drei Begleiter haben es sich neben mir bequem gemacht und öffnen ihre mitgebrachten Lunchpakete.
»Wir essen nie in der Mensa«, verkündet Violet, die mir inzwischen erklärt hat, dass eine kleine Narbe am Kinn sie von ihrer Schwester unterscheidet.
»Da essen nur die Reichen und die Streber«, erklärt Melody, während sie ungefragt von den Erdnüssen aus Malcolms Dose nascht.
»Und die Sportler«, ergänzt Malcolm. Es ist ihm offensichtlich sehr recht, nicht wie alle anderen in der Mensa zu sitzen.
»Du bleibst am besten bei uns.« Mit vollem Mund und skeptischem Blick sieht mich Violet von der Seite an. »Oder bist du reich?«
Beinahe verschlucke ich mich an den letzten Stücken meines Apfels. »Nein, sicher nicht …«
»Also, sind deine Eltern nicht reich?«, hakt Melody nach, als wäre das die entscheidende Information, ob ich zu ihrer Gang gehören darf oder nicht.
»Meine Eltern sind …« Tot. Ums Leben gekommen. Schon lange nicht mehr da. »… im Ausland. Sie arbeiten dort. Ich lebe so lange bei meiner Tante.« Vielleicht nicht unbedingt die beste Ausrede, aber auf das Meine-Eltern-sind-tot-Mitleid habe ich schlichtweg keine Lust. Ich zwinge mir noch ein bestätigendes Grinsen ab und hoffe, sie werden das Thema auf sich beruhen lassen. Sie tun es.
Die Minuten im Nachmittagsunterricht vergehen quälend langsam. Der Lehrer – eine kuriose Mischung aus verrücktem Wissenschaftler und gut gelauntem Motivationstrainer – scheint die fehlende Begeisterung seiner Schüler nicht zu bemerken oder zumindest stört er sich nicht daran, denn er ist in einen äußerst wortgewandten Monolog verstrickt, in dem er versucht, uns die Schönheit lyrischer Texte näherzubringen. Ein Blick auf die gelangweilten Gesichter meiner Mitschüler zeigt mir, dass keiner von ihnen wirklich zuhört. Auch ich habe bereits nach wenigen Sätzen den Faden verloren und gebe es auf, seinem Vortrag folgen zu wollen. Stattdessen starre ich aus dem Fenster und hänge meinen eigenen Gedanken nach.
Das ist es nun, mein neues Leben an einer neuen Schule. Und irgendwie strengt es mich mehr an, als ich erwartet habe. Nicht das Lernen an sich, vielmehr der Umgang mit den Menschen. Ich bin es gewohnt, auf mich allein gestellt zu sein. Vielleicht werde ich mich daran gewöhnen, aber ob es mir je leichtfallen wird, steht in den Sternen.
Gegen halb drei fallen mir beinahe die Augen zu. Gut geschlafen habe ich in den Nächten zuvor nicht. Meine Nervosität hat mich wach gehalten, außerdem der Todestag meiner Eltern. Die meiste Zeit im Jahr komme ich gut damit klar. Ich kenne es nicht anders. Das Leben bei meiner Tante ist zwar ungewöhnlich, aber sie gibt ihr Bestes und dafür bin ich ihr dankbar.
Doch heute ist es wieder so weit: der Todestag meiner Eltern jährt sich zum vierzehnten Mal. Ich versuche, mir einzureden, dass dies kein schlechtes Omen ist, um ein neues Leben zu beginnen. Schnell verdränge ich den Gedanken an sie wieder. Wie jedes Mal, wenn mir meine Eltern in den Sinn kommen. Ich habe keine konkreten Erinnerungen an sie, nur die eine …
Bevor ich noch in die Versuchung komme, weiter darüber nachzudenken, und weil mich eine gewisse Übelkeit plagt, melde ich mich und bitte, auf die Toilette gehen zu dürfen.
Erleichtert atme ich auf, als ich die Tür des Klassenzimmers hinter mir geschlossen habe und den leeren Schulflur hinabblicke. Ich grübele kurz darüber nach, in welcher Richtung die nächsten Waschräume zu finden sind, entscheide mich dann wahllos für eine
und marschiere los.
Nachdem ich erfolglos zwei Gänge abgesucht habe, während das flaue Gefühl im Magen immer stärker wird, beschließe ich, dass ein wenig frische Luft im Moment das Beste wäre.
Aus einem inneren Drang heraus laufe ich immer weiter. Die Übelkeit wird zunehmend dominanter, aber statt mich zum Kehrtmachen und auf die Suche nach einer Toilette zu veranlassen, treibt sie mich sogar noch voran.
Ich habe fast die Ausgangstür erreicht, noch immer sind die Flure wie ausgestorben und die Schüler verweilen wohlerzogen in ihrem Unterricht, als ich durch das Fenster jemanden eilig vorbeirennen sehe. Ob Mann oder Frau, Mädchen oder Junge kann ich in dem kurzen Augenblick nicht ausmachen. Ich erkenne lediglich etwas Lilafarbenes.
In wenigen großen Schritten erreiche ich die schwere Schultür, lehne mich dagegen, um sie mit gesammeltem Schwung zu öffnen. Schwüle Luft empfängt mich und ein Würgegefühl bahnt sich in meiner Kehle seinen Weg nach oben.
Keine Menschenseele ist zu sehen, als ich nach draußen trete. Wenige Schritte von mir entfernt hat jemand rote Farbe auf den Boden getropft. Vielleicht ein heimlicher Graffiti-Sprayer? Doch schon beim zweiten Blick bemerke ich meinen schrecklichen Irrtum: Die Tropfen auf dem Boden sind Blut!
Automatisch werden meine Schritte langsamer, aber stoppen kann ich sie nicht. Getrieben von etwas, für das ich keinen Namen finde, schleppe ich mich vorwärts, bis ich am obersten Treppenabsatz stehe und die breiten Steinstufen hinabblicken kann.
Ich weiß, ich müsste schreien oder wegrennen oder wenigstens heulend zusammenbrechen. Doch ich tue nichts von alledem. Stattdessen stehe ich wie erstarrt und sehe auf die bizarre Erscheinung, die sich mir auf den unten angrenzenden Parkplätzen bietet. Bittere Galle steigt in mir hoch, lässt mich würgen, dennoch schlucke ich sie mit aller Macht wieder hinunter.
Dort am Ende der Treppe liegt jemand. Erst beim zweiten Hinschauen erkenne ich, dass es ein Mädchen ungefähr in meinem Alter ist, und aufgrund der Menge an Blut, der seltsam abstehenden Glieder und der starr aufgerissenen Augen weiß ich eindeutig, dass
sie tot ist. Sie liegt bäuchlings, als wäre sie soeben erst die Treppe nach unten gestürzt, den Kopf seltsam zur Seite verdreht und je länger ich sie anstarre, desto größer wird die Blutlache, in der sie liegt wie in einem roten See. Es muss gerade erst geschehen sein.
Stocksteif, als hätte mir jemand befohlen, mich nicht zu rühren, stiere ich sie an und bin unfähig, von ihr wegzublicken. Seltsamerweise ist meine Übelkeit auf einmal wie weggeblasen.
Renn weg
, schreit mir mein Unterbewusstsein zu, vielleicht ist der Mörder noch in der Nähe.
Aber meine Beine sind wie angewurzelt.
Du hast zu viele Serien geschaut
, versuche ich, mir einzureden. Es war lediglich ein Unfall. Oder?
Die Szenerie wirkt wie eingefroren und ich befürchte schon, ich werde den Rest meines Lebens hier stehen und einen Leichnam angaffen, doch in Wirklichkeit sind es nur wenige Atemzüge, bis ich die ersten Schreie höre.
Dann überstürzen sich die Ereignisse. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer und innerhalb weniger Sekunden ist die zuvor noch leere Fläche menschenüberfüllt. Schüler rennen panisch aus der Schule, Lehrer bemühen sich, die Fassung zu bewahren. Es werden Handys gezückt. Zum Teil, um den Notruf zu wählen, aber in den meisten Fällen, um ein paar schnelle Bilder zu machen. Bilder von etwas, das so sicher noch keiner von uns zu sehen bekommen hat.
Auch als die ersten Sirenen der Polizeiwagen sich nähern, als mit Absperrband der Tatort abgeriegelt wird und die Polizisten versuchen, die drängenden Schülermassen zurückzuhalten, verharre ich noch auf der obersten Treppenstufe. Doch mein Blick haftet nicht auf der Verstorbenen und dem schrecklichen Geschehen an sich. Nein, ich fixiere das, was ich direkt neben dem toten Mädchen, dessen Haare inzwischen mehr rot als braun wirken, entdecken kann und was mir die tiefe Überzeugung gibt, dass dies erst der Anfang ist. Der Anfang eines unvergleichlichen Grauens.
Das hier war alles andere als ein Unfall. Denn dort zieren blutrote Buchstaben den dunklen Asphalt mit Worten, die meine Lippen zum Beben bringen: »Wir finden sie!«