Mein Schatten
[LIV]
Mein Herz braucht lange, bis es wieder einen normalen Rhythmus annimmt, nachdem ich die dunkle, schmale Gasse hinter mir gelassen habe.
Noch immer spüre ich die Gänsehaut auf meinen Armen, als ich nach dem verdächtigen Gefühl eilig weitergelaufen bin. Ein kalter Luftzug, ein Schauder auf meinem Rücken, als würden mir dunkle Blicke folgen.
Und egal, wie viele Schritte ich nun zwischen mich und diesen Durchgang gebracht habe und wie sehr mein Verstand mir versucht einzureden, es sei nichts weiter gewesen als eine Ratte – ich werde das Gefühl nicht los, beobachtet worden zu sein. Im Gegenteil, je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir: Dort in der Straße war jemand. Ich war nicht allein! Die erneute Gänsehaut, die mich bei diesem Gedanken überfällt, bestätigt mir die Wahrheit dessen, auch wenn ich mir nicht erklären kann, woher meine Gewissheit rührt.
Doch wer sollte mir folgen und wieso? Dass es Taras Freundin war, kann ich mir besten Willen nicht vorstellen. Sie hätte keinerlei Gründe, sich vor mir zu verbergen. Aber wer kommt sonst noch infrage? Ist tatsächlich in unserer kleinen Stadt ein Mörder unterwegs, der es auf junge Mädchen aus der Highschool abgesehen hat?
Da mich meine Gedanken nicht weiterbringen, eile ich in ungebremstem Tempo vorwärts. Mein Ziel habe ich fast erreicht: Taras Straße.
Ich merke schnell, dass ich mir die Überlegung, wie ich ihre Hausnummer ausfindig machen soll, sparen kann.
Schon bevor ich in die Montana Avenue einbiege, erkenne ich das Blaulicht, das von den Hauswänden in regelmäßigen Abständen wie ein lautloses Echo zurückgeworfen wird. Ich beschleunige meine Schritte. Der Kloß in meiner Kehle wird größer, je näher ich Taras Haus komme. Und dass es ihres ist, steht für mich außer Frage. Mehrere Polizeiwagen haben sich davor eingefunden. Männer in Uniformen laufen geschäftig auf dem Grundstück herum, notieren sich ihre Erkenntnisse und ein in Tränen aufgelöstes Paar wird von einem Beamten befragt. Unauffällig nähere ich mich, um wenigstens ein paar Worte ihres Gesprächs aufzufangen.
»… Tara seit heute Morgen nicht mehr gesehen«, sagt ihre Mutter schluchzend und vergräbt das Gesicht in ihren Händen.
Der Mann an ihrer Seite kommt ihr sofort zu Hilfe. »Tara ging schon früh aus dem Haus. Sie hatte es unglaublich eilig, schien nicht so gelassen wie sonst. Wir schoben das auf diesen schrecklichen Vorfall an der Schule gestern. Doch in der Schule kam sie nie an. Kein Lehrer hat sie dort gesehen. Auch über ihr Handy ist nicht erreichbar. Das ist so untypisch für sie.« Jetzt bricht auch die Stimme des Vaters.
»Wir tun unser Möglichstes«, versucht der Beamte, die Eltern zu beruhigen und klingt dabei so gar nicht beruhigend. »Die Suchaktion ist bereits in vollem Gange.«
Ich schleiche schnell durch eine Seitenstraße weiter, bevor ich von den Anwesenden bemerkt werde. Auf eine Befragung durch die Polizei oder hysterische Eltern kann ich verzichten. Zumal ich nichts dazu beitragen kann, um Tara zu finden. Sie könnte überall sein, wenn man die Geschwindigkeit in Betracht zieht, mit der sie sich heute Morgen von meinem Haus entfernt hat.
Hastig verlasse ich die Gegend. Meine Unruhe lässt sich nicht mehr niederringen. Tara ist tatsächlich verschwunden. Mein Verdacht hat sich bestätigt, wobei ich gar nicht genau weiß, woher ich das zu wissen geglaubt habe.
Ich renne wie blind, merke erst spät, dass der Asphalt unter meinen Füßen durch einen erdigen Feldweg abgelöst wurde und ich mich auf dem Pfad runter zum Fluss befinde. Was soll’s , denke ich mir. Es ist zwar ein kleiner Umweg, aber zu Hause erwartet mich nichts. Und wenn ich das Fahrrad hole, habe ich wenigstens etwas zu tun und kann es flicken.
Während sich meine Füße fast automatisch bewegen, rattern meine Gedanken. Wenn ich doch nur wüsste, was Tara von mir wollte, als sie heute Morgen erneut an meinem Haus auftauchte. Und wenn ich sie nur ein klein wenig besser kennen würde, hätte ich vielleicht einen Anhaltspunkt, wo ich sie suchen könnte. Ob ich auf gut Glück ein paar Orte in der Umgebung abklappere, nachdem ich mein Fahrrad repariert habe?
Endlich erreiche ich das Gebüsch, in dem ich es verstaut habe und kann eine kleine Erleichterung nicht unterdrücken: Es ist noch da!
Doch was ist das? Ich habe es gerade aus den Ranken befreit und zwei Schritte geschoben, da merke ich bereits die Veränderung. Habe ich mir den platten Reifen nur eingebildet? Aber nein, ich habe die Glasscherben der zerbrochenen Flasche eindeutig als die Schuldigen für meinen Unfall entlarvt. Aber jetzt ist der Reifen meines Fahrrads wieder mit Luft befüllt. Eingehend besehe ich den Schlauch und siehe da: Eine Stelle wurde notdürftig verklebt, so wie es aussieht mit einem handelsüblichen Klebstoff. Aber wer sollte einen Nutzen davon haben, mein Rad zu reparieren, um es dann wieder an der gleichen Stelle zu verstecken? Das ergibt alles keinen Sinn.
Ein Mädchen wurde getötet. Ein zweites ist spurlos verschwunden. Und ich werde verfolgt, aber gewissermaßen im guten Sinne? Zumindest wenn ich das Fahrrad betrachte. Und derjenige, wer auch immer mich in der dunklen Gasse beschattet hat, hätte ohne Probleme die Möglichkeit gehabt, mich niederzuringen, ohne dass jemand es bemerkt hätte. Ganz offensichtlich war es nicht seine Absicht. Aber wieso?
So in meine Überlegungen verstrickt, bin ich überrascht, dass ich schon fast vor meinem Haus angekommen bin. Mit dem Fahrrad geht der Weg deutlich schneller als zu Fuß, selbst bergauf. Ich sehe gerade noch, wie meine Tante nach Hause kommt und durch die Eingangstür im Haus verschwindet. Ich winke ihr zu, doch sie sieht mich nicht mehr. Durch das offene Küchenfenster höre ich sie meinen Namen rufen: »Liv? Liv, bist du zu Hause?«
Ich schiebe mein Fahrrad zu dem kleinen Schuppen hinter dem Haus und verstaue es darin.
Gerade setze ich einen Fuß aus dem Schuppen heraus, als ich höre, wie sich ein Fenster öffnet. Mein Fenster. Ich erwarte, das Gesicht meiner Tante zu sehen, doch stattdessen erblicke ich einen fremden Mann. Hektisch streicht er sich die schwarzen Haare aus der Stirn, und ich beginne gerade, mich zu fragen, was er verdammt noch mal in meinem Zimmer zu suchen hat, als er etwas völlig Dummes tut. Er springt! Mein erschrockener Schrei bleibt mir im Hals stecken und noch bevor ich mein Handy zücken kann, um den Notruf zu wählen, steht er bereits wieder unversehrt auf den Beinen. Ein überhebliches Lächeln huscht über sein makelloses Gesicht, und auch wenn er wirklich gut aussieht, lässt ihn seine ganze Haltung unsympathisch wirken. Viel zu arrogant für jemanden, der gerade in ein fremdes Haus eingebrochen ist.
In meine Richtung blickt er nicht, offensichtlich erwartet er keine Beobachter. Ich bleibe gut verborgen im Eingang der Hütte und überlege fieberhaft, ob es schlau wäre, ihn direkt zur Rede zu stellen. Meine Gedanken kommen zu keinem Ende, denn ein markerschütternder Schrei durchdringt die Abendluft und wirbelt ungute Gefühle in meinem Inneren auf. Ich muss sofort an Tara denken. War das etwa ihre Stimme?
»Verdammt, das darf nicht wahr sein!«, flucht der Fremde mit den schwarzen Haaren und rennt in einer übermenschlichen Geschwindigkeit davon. Mir bleibt der Mund offen stehen.
»Was zur …?«, flüstere ich und kann kaum glauben, was ich da soeben gesehen habe. Vorsichtig schleiche ich mich aus meinem Versteck heraus, doch von ihm ist nichts mehr zu sehen. Als ich mich dem Gebüsch nähere, in dem er bei seinem Sprung aus dem Fenster gelandet ist, sehe ich etwas auf dem Boden liegen. Zunächst kann ich nicht erkennen, was es ist, aber als ich mich danach bücke, durchlaufen mich heiße und kalte Wellen zugleich: Es ist eine ausgedrückte Tube Klebstoff.
Ich zögere nicht länger, nehme die Beine in die Hand und renne den Weg entlang, über den er verschwunden ist. So spurlos und schnell, als wäre er nie da gewesen. Doch es besteht kein Zweifel, dass er hier gewesen ist. Den Beweis dafür habe ich fest in meiner Faust eingeschlossen. Der Junge, der aus meinem Fenster gesprungen ist – er ist es gewesen, der mein Fahrrad repariert hat, und ich könnte wetten, dass er mich auch in der dunklen Gasse verfolgt hat. Ich bin fest entschlossen herauszufinden, wieso. Obwohl er deutlich schneller ist – ich bin ihm ab sofort einen Schritt voraus. Denn er weiß nicht, dass ich ihm auf die Schliche gekommen bin.
Meine Seiten stechen bereits und jeder neue Feldweg, in den ich einbiege, sieht so leer aus wie unser Kühlschrank, sodass ich schließlich keuchend stehen bleibe. Von meinem schwarzhaarigen Schatten fehlt jede Spur. Genauso wenig kann ich erkennen, von wem der zuvor vernommene Schrei gekommen sein könnte. Auch wenn ich mir sicher bin, dass er von hier draußen kam, macht es mir die fortschreitende Abenddämmerung zusätzlich zu den riesigen Lärchen in diesem Gebiet nicht gerade leicht. Lange Schatten entstellen das Land, nehmen mir die Orientierung, sodass ich den Ursprung des Schreis nicht mehr zuordnen kann.
Ein wenig verunsichert, und weil ich dringend wieder meinen Puls ein wenig entschleunigen muss, hocke ich mich unter eine Strauchkastanie und suche die nähere Umgebung mit meinen Blicken ab.
So überstürzt und überzeugt, wie ich ihm hinterhergerannt bin, so eingeschüchtert bin ich jetzt, denn wohl ist mir nicht hier draußen in der Einsamkeit, während mehr Nacht als Tag durch das Land zieht und neben den abendlichen Schatten auch mein ganz persönlicher herumläuft, ohne dass ich bisher seine Beweggründe erahnen kann.
Ich will gerade meinem mulmigen Gefühl nachgeben und auf kürzestem Wege nach Hause rennen, als ich ihn entdecke.
Groß und schwarz, nicht so schnell wie kurz zuvor, aber mit denselben arroganten Zügen in der Mimik ist eine Verwechslung ausgeschlossen. Zutiefst in Gedanken versunken streift er querfeldein, als würde er etwas suchen.
Ich wage kaum zu atmen, geschweige denn, mich zu rühren, da ich nicht weiß, wie er auf meine Anwesenheit reagieren wird. Er starrt auf den Boden, bewegt sich langsam vorwärts. Dann rennt er ein Stück, bevor er wieder konzentriert die Erde inspiziert. Mit sicherem Abstand und im Schatten der Sträucher und Bäume folge ich ihm, bis mir klar wird, woran er sich orientiert: Fußspuren. Und zwar viele und so deutlich, dass auch ich sie nicht übersehen kann.
Nachdem wir einmal den Fluss überquert haben und dann eine ordentliche Steigung auf uns nehmen, wird mir ganz komisch. Denn jetzt befinde ich mich auf der Flussseite, die jeder aus dem Ort meidet, weil es hier zum verbotenen Schloss geht.
Doch ich folge ihm und den nicht enden wollenden Fußspuren wie magisch angezogen. Unfähig, kehrtzumachen und in mein ungefährliches Heim zurückzukehren.
Irgendwann werden die Dunkelheit und der Nebel so dicht, dass ich mich für diese Entscheidung verfluche.
Ich merke erst, wie nahe ich der Burg schon bin, als ich mich auf dem ummauerten Steinweg befinde. Immer wieder tauchen Burgfenster oder Turmdächer zwischen den vorbeiwehenden Nebelschwaden auf und der aufgehende Mond verleiht der Szenerie einen gespenstischen Anblick. Ein mulmiges Gefühl steigt in mir auf.
Dann höre ich entfernte Laute. Schritte, Keuchen, ein ekelhaft schleifendes Geräusch, das Klirren einer auf den Asphalt fallenden Klinge. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, kneife die Augen zusammen und kann in einiger Entfernung schemenhafte Umrisse in dem schauderhaften Wechsel aus Dunstschleiern und Dunkelheit ausmachen. Mein Mund öffnet sich wie von allein zu einem Schrei, als ich eine auf dem Boden liegende, reglose Person erkenne. Noch bevor ein Ton über meine Lippen kommt, legt sich eine kühle Hand auf meinen Mund und verhindert meinen Aufschrei. Sobald diese mich wieder loslässt, umfasst ein Arm meinen Bauch und zieht mich mit einer solchen Wucht über die hüfthohe Mauer, dass ich einen Moment lang nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Meine Füße baumeln in der Luft, während ich erschrocken in den Abgrund unter mir starre, bis ich ein eindringliches »Schhh« direkt an meinem Ohr vernehme. Sein Arm liegt weiterhin um meinen Bauch und auch ohne hinzusehen, weiß ich, dass er es ist: mein Schatten.
Ich benötige meine ganze Energie, um meine Höhenangst, die sich mit meinem weltendrehenden Schwindel mischt, unter Kontrolle zu halten. Mit einem Blick zur Seite sehe ich das Unmögliche: Seine zweite Hand hält sich am oberen Rand der Mauer fest und hindert uns daran, in die Tiefe zu stürzen. Wellen der Übelkeit fallen über mich her, ohne dass ich mich dagegen wehren kann. Durch all das nehme ich seine Anspannung wahr, registriere die Eindringlichkeit, mit der er darauf bedacht ist, dass ich mich ruhig verhalte. Doch da ist noch mehr. Ein Hauch von Angst zeichnet seine Haltung und das ist es letztlich, was mich davon abhält zu schreien. Stattdessen halte ich kurz die Luft an. Das Rauschen meines Blutes in den Ohren lässt mich das Getuschel kaum erfassen. Einzelne Worte darin auszumachen, ist mir nicht möglich, aber ich realisiere mindestens zwei oder drei verschiedene Personen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, und für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, seine Lippen in meinem Nacken zu spüren und weiter vorne unter dem Ohrläppchen, dort, wo die Haut besonders dünn und zart ist. Mit aller Macht kneife ich meine Augen zusammen, ebenso wie meinen Mund, um nicht am Ende doch noch einen Schrei aus Angst und Schrecken in die Tiefe fallen zu lassen. Besser der Schrei als ich , durchfährt mich ein Gedanke, der mich noch fester die Augen zusammenkneifen lässt.
Es verstreichen Ewigkeiten, unzählige Male stürzt meine Seele in das Tal hinab, stirbt und wird wieder zum Leben erweckt. Man sagt, das Leben streift in schnellen Bildern an einem vorbei, bevor es zu Ende geht, doch ich sehe nur ein Bild. Es ist eine unscharfe Erscheinung, kaum erkennbar, aber die Gefühle, die es vermittelt, lassen keinen Zweifel zu: Schemenhaft erkenne ich meine Mutter und meinen Vater, sie lächeln mir zu, ich kann es fühlen. Dann machen sie das, was sie immer getan haben, weil es meine einzige Erinnerung an sie ist: Sie streichen mir mit einem Finger die Gesichtskonturen nach, von der Stirn bis zum Kinn, der eine auf der linken Seite, die andere auf der rechten, und beenden diese liebevolle Geste mit einem zarten Stupser auf meine Nase und den Worten: »Wir lieben dich bis zum Tod und darüber hinaus.«
Es ist ein gewaltiger Ruck, der mich aus meinen Erinnerungen und aus meiner Starre über dem Abgrund reißt, und noch bevor ich die Augen öffne, fühle ich wieder festen Boden unter den Füßen.
»Gott sei Dank«, wispere ich, während ich darum bemüht bin, meine Benommenheit abzuschütteln und das Gleichgewicht wiederzuerlangen.
»Gott hatte damit relativ wenig zu tun«, sagt mein fremder Retter mit stolzgeschwellter Brust und einem erhabenen Grinsen im Gesicht, als würde er ein gesondertes Lob dafür erwarten, dass er mich gerade Todesängsten ausgesetzt hat.
Doch ich komme nicht dazu, meine Verblüffung auszudrücken. Denn noch während er damit beschäftigt ist, mich mit einer stetig nach oben zuckenden Augenbraue und einem überheblichen Nicken anzulächeln – finden andere Mädchen diese Manier wirklich anziehend? –, verändert sich sein Gesichtsausdruck. Seine Nasenflügel beben, er lauscht, wittert und etwas tritt in seine Mimik, das ich unfähig bin zu deuten. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich es als Gier beschreiben. Und dann entdecke ich das, was meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet.
Geschockt reiße ich meine Augen auf, drücke mir beide Hände auf den Mund. Ob, um mich daran zu hindern zu schreien oder zu kotzen, dessen bin ich mir nicht sicher. Mein Retter-Schatten reagiert sofort und wirbelt herum.
»Mist«, kommentiert er den Anblick der Leiche auf dem Burgweg, während ich mich über der Mauer meines mickrigen Mittagessens entledige.
»Doppelter Mist«, ergänzt er, als er näher geht. Die Personen, zu denen die Stimmen vorhin gehörten, scheinen längst über alle Berge zu sein. Außer der Leiche ist niemand mehr zu sehen. »Du solltest besser nicht näher ko…«
Zu spät.
Zwei Schritte genügen. Ich erkenne ihre blonden Haare, das zarte Gesicht, die Kleidung, die sie auch heute Morgen trug. Es ist Tara. Die Tara, die sich gestern Abend panisch in meine Arme flüchtete. Die sich verfolgt fühlte. Doch jetzt ist es eine tote Tara.
Mir dreht sich alles. Unten fühlt sich wie oben an und jedes Rechts besteht nur noch aus links. Der Schatten-Typ ergreift meinen Oberarm, hindert mich daran, meinen Kopf am Rand der Mauer aufzuschlagen oder Schlimmeres zu tun.
Nur schemenhaft durch einen Schleier aus Tränen, denen ich verbiete, meine Augen zu verlassen, bemerke ich die Buchstaben an der Burgmauer, die den Weg bis zum Tor säumt. Blutrot und so frisch, weil das Blut, mit dem sie geschrieben wurden, soeben noch durch Taras Adern geflossen ist. Ich muss nicht genau hinsehen, um die Worte zu entziffern. Es sind die gleichen, die gestern neben dem toten Mädchen auf dem Schulgelände am Boden prangten.
Meine Welt steht still. Nein, mehr noch. Meine Welt, wie sie zuvor war, hört auf zu existieren. Ich weiß von einem Moment zum nächsten, dass nie wieder etwas sein wird wie davor, dass nun ein neues Leben die Herrschaft an sich gerissen hat. Ein anderes, dunkler als mein altes und auch sehr viel gefährlicher, denn es zerstört die Unbeschwertheit, die mir bis zum gestrigen Tag anhaftete. Sie wurde unwiederbringlich fortgerissen. Ich spüre, wie ich einen Teil meiner Seele verliere. Hier und jetzt an dieser Stelle, an der Tara ihr Leben verlor.
Eine seltsame Gefühlslosigkeit legt sich auf mich, ergreift mein Herz, ertränkt meine Seele, und ich erahne, dass man dies »Schock« nennt.
Mein unbekannter Retter redet auf mich ein, doch ich verstehe seine Sätze nicht. Leere Worte wie Hülsen ohne Inhalt. Er greift meinen Arm, ich spüre es kaum. Er hält meinen Kopf und schaut mir ins Gesicht, außer Blut und toter Tara kann ich jedoch nichts anderes mehr sehen. Als wäre ich dazu verdammt, den Rest der Zeit damit zuzubringen wieder und wieder ihren Tod zu erleben, zu fühlen, zu sehen.
Ich nehme das schwarze Loch bereits wahr, bevor es mich verschlingt. Auch wenn ich nicht weiß, ob es auf ewig dunkel bleiben wird oder nur für einen Moment, wehre ich mich nicht dagegen. Im Gegenteil, ich begrüße die nahende Ohnmacht, weil sie eine wunderbare Stille mit sich bringt. Ob er mich auffangen wird oder nicht, ist mir für den Augenblick egal. Denn ich falle bereits.