Mein Déjà-vu
[ZAYN]
Das darf nicht wahr sein! Wie konnte sie mich so sehr aus der Fassung bringen, dass ich mehrere Schritte hinter ihr stehen bleibe? Lediglich aufgrund der Erwähnung des Hüters – meines Auftraggebers, Ernährers, Mörders!
Es sind diese Schritte, die mich nun von ihr trennen, als wie aus dem Nichts eine flinke Gestalt mit dunkler Kapuze auftaucht, vom Fenstersims eines benachbarten Hauses regelrecht auf sie springt, als hätte sie dort seit Stunden ausgeharrt und auf den Moment gewartet. Ihre Füße treffen das Fahrrad, die Hände stoßen zeitgleich Liv in Richtung Asphalt.
Meine Wahrnehmung und meine Reaktionszeit scheinen auf menschliche Stufe eingestellt zu sein, denn es vergehen viel zu viele schreckliche Sekunden, bis sich meine Beine in Bewegung setzen. Als sie es schließlich tun, liegt Liv bereits bewusstlos am Boden und frisches Blut tropft aus einer Platzwunde an der Stirn, um unter ihr eine zähe rote Pfütze zu bilden. Der Anblick dieser dringend vermissten Flüssigkeit bringt mich ein weiteres Mal ins Straucheln und es benötigt einen bewussten Gedanken, um ihr zu widerstehen: Im Moment verträgst du kein Menschenblut, Zayn, sieh es ein!
Das fremde Kapuzen-Wesen setzt augenblicklich zu einem erneuten Sprung Richtung Liv an, die Hände gierig ausgestreckt, um ihren Hals zu würgen, zu quetschen und ihr jegliche Luftzufuhr abzudrücken. Wenn jemand alle Methoden des Angriffs und des Mordens erkennt, dann ich.
»Jetzt wird der Hüter dafür bezahlen, was er uns angetan hat!«, zischt es dem bewusstlosen Mädchen entgegen und ich höre tiefsten Hass aus der Stimme.
Meine Wucht reißt den Übeltäter unvorbereitet von den Beinen. Er stürzt bäuchlings zu Boden und ich nicke mit einer gewissen Genugtuung. Ich habe noch jeden unschädlich gemacht. Doch zu meiner Überraschung hat er sich schnell wieder
aufgerappelt. Er scheint ungewöhnlich stark und zäh zu sein und startet einen erneuten Angriff. Diesmal direkt auf mich zu. Dem Stoß seines Messers, das er plötzlich in der Hand hält, weiche ich leichtfüßig aus, wenn auch mit einem gewissen Erstaunen, um dann mit einem unmittelbaren Sidekick auf den waffeführenden Arm zu treten. Mein Fuß trifft sein Ziel. Das Messer fällt klirrend auf die Straße und der Angreifer bricht aufgrund der Heftigkeit meines Tritts brüllend zusammen.
Erst jetzt realisiere ich die sich öffnenden Fenster der benachbarten Häuser und einzelne aus sicherer Entfernung beobachtende Schaulustige. Das erschwert meinen Plan, den versuchten Überfall des Unbekannten einmalig bleiben zu lassen, indem ich den Täter an Ort und Stelle mundtot und überhaupt komplett-tot mache. Als der Erste der »besorgten Nachbarn« – eher »sensationsgierigen Schwatzmäulern« – sein Handy zückt, um zu filmen oder die Polizei zu rufen oder etwas ähnlich Störendes, eile ich zu der bewusstlosen Liv und nehme sie auf die bereits erprobte Weise über die Schulter. Das Letzte, was wir gebrauchen können, sind Polizei oder Medien, die sie noch mehr in den Mittelpunkt stellen und somit auf den Präsentierteller für herumstreunende Mörder legen.
Unter den Blicken einiger Beobachter versuche ich, das Mädchen möglichst gut abzuschirmen. Ich bin so darauf konzentriert, sie von hier fortzuschaffen, dass ich erst als ich loslaufe, bemerke, dass sich auch der Angreifer wieder aufgerappelt hat. Während ich renne, werfe ich noch einen schnellen Blick zurück. Das, was ich sehe, ist etwas, das beunruhigender nicht sein könnte: Aus der verrutschten Kapuze ist eine kleine lilafarbene Haarsträhne entwischt. Eine viel zu vertraute lila Strähne.
***
Über Umwege renne ich mit Liv auf der Schulter zu ihrem Haus, bis ich absolut sicher bin, dass uns niemand folgt. Inzwischen bin selbst ich außer Puste und heilfroh, dass ihre Tante nicht zu Hause ist, sodass ich ausnahmsweise die Haustür benutzen kann anstatt des Fensters.
Erleichtert lege ich Liv in ihr Bett. Sie ist noch immer nicht zu sich gekommen. Langsam wird es lästig, mit einem bewusstlosen Mädchen auf der Schulter durch die Stadt zu laufen. Ich sollte mir ein anderes Hobby suchen.
Immerhin bleibt mir so ein wenig Zeit, mir Gedanken zu machen. Und zwar: Was – war – das?
Wie ein ruheloses Raubtier marschiere ich in ihrem allzu kleinen Zimmer auf und ab und versuche, mir einen anderen Reim auf das Gesehene zu bilden als das Offensichtliche. Es will mir beim besten Willen nicht gelingen.
»Das kann unmöglich Josy gewesen sein!«, murmele ich immer noch völlig außer mir vor mich hin. »Sie war tot. Ist
tot! Toter als sie kann man gar nicht sein!«
»Wer ist tot?«
Ihr Räkeln auf dem Bett bemerke ich erst, als Liv bereits sitzt. Ich muss dringend daran arbeiten, dass mich meine Gedanken nicht mehr so völlig einnehmen und von meiner Umwelt abschotten. Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass ich es schlichtweg nicht mehr gewohnt bin zu denken. Zumindest nicht in der zurzeit benötigten Ausführlichkeit.
»Du zum Glück nicht«, entgegne ich, darum bemüht, ihr meine Erleichterung über diese Tatsache nicht zu zeigen. »Noch nicht.«
»Na, das sind ja tolle Aussichten«, murmelt sie grummelig. Ein wenig mehr Dankbarkeit, dass ich ihr erneut das Leben gerettet habe, wäre durchaus wünschenswert. Aber das ist gerade mein kleinstes Problem. Das viel größere hat lilafarbene Haare und sollte eigentlich mausetot sein. Schließlich habe ich eigenhändig dafür gesorgt und ich mache keine halben Sachen. Ich will mich ja nicht damit brüsten, aber wenn ich töte, dann bleibt derjenige danach auch tot. Darin habe ich Übung. Was zur Unterwelt ist also passiert?
»Was ist geschehen? Wo ist der Angreifer geblieben?«, nuschelt sie und greift sich an ihren Kopf, an dem ich die Platzwunde notdürftig versorgt habe.
»Äh …«, kommt aus meinem Mund, als könnten unsinnige Silben zu hilfreichen Antworten werden.
»Wer war das?«, hakt sie weiter nach und schaut mich mit flehendem Blick an. Als hätte ich Antworten.
Das war Josy. Ich flirtete mit ihr, als sie noch lebte. Dann tötete ich sie, aber scheinbar ging dabei irgendetwas schief. Denn das hier war die nicht mehr ganz so tote Josy.
»Ein Fremder.« Übertrieben zucke ich mit den Achseln. Was sie zum Glück nicht sieht, weil sie inzwischen vor dem Spiegel steht und ihre Stirn inspiziert.
»Du hast mich gerettet«, sagt sie, nachdem sie festgestellt hat, dass sie mit meiner Versorgung ihrer Wunde offensichtlich zufrieden ist. Dann wendet sie sich mir zu. Ein sanfter Ausdruck liegt auf ihrem Gesicht. Die braunen Haare hängen ihr zerzaust bis über die Schultern und ein dezentes Zucken ihrer Mundwinkel deutet den Versuch eines Lächelns an. »Ohne dich wäre ich jetzt wahrscheinlich so tot wie Tara.« Ich spüre, wie sie nur bei der Erwähnung des Namens zusammenzuckt und eine Welle der Erinnerungen über sie hereinbricht. Was aus Tara geworden ist, kann ich nur ahnen. Ich gehe davon aus, dass der Hüter die Leiche an einen anderen Ort hat bringen lassen, um die Aufmerksamkeit von unserer Burg wegzulenken. Das wäre die übliche Vorgehensweise.
»Ich danke dir.« Ihre Worte reißen mich aus meinen Überlegungen und verwundern mich. Dann überrascht sie mich noch mehr, indem sie ihre Hand auf meinen Unterarm legt. Vermutlich, um ihre Aussage zu bekräftigen. Vielleicht machen Menschen das so. Vielleicht denkt sie sich nicht viel dabei. Doch für mich ist es ein Prickeln auf meiner Haut, mit dem ich nicht gerechnet habe. Ihr Blick ruht auf mir und die Ehrlichkeit, die ich in ihren Augen erkenne, haut mich um. Schlagartig verstehe ich, dass ich diese Art der Zuneigung seit Jahrzehnten nicht mehr gespürt habe. Dass ich sie verloren und schmerzlich vermisst habe, obwohl es mir erst jetzt bewusst wird.
Ich zucke erschrocken zusammen und mir bleibt sprachlos der Mund offen stehen.
Sie deutet es falsch, spürt nicht, wie viel mir ihre Geste bedeutet und ich bin unfähig, es ihr mitzuteilen. Stattdessen fühlt sie sich durch meine Reaktion abgewiesen. Sofort lässt sie mich wieder los und wendet sich ab. »Entschuldige«, gibt sie zerknirscht von sich. Dann ist sie im Badezimmer verschwunden, noch ehe ich
mich aus meiner Starre lösen kann.
***
Nur wenige verkrampfte Kommentare und Floskeln später kommen wir an ihrer Schule an. Nein, sie hat sich natürlich nicht davon abbringen lassen, zur Schule zu gehen. Was ist sie nur für ein Sturkopf? Ihre Sturheit wird sie noch umbringen!
Leider ist sie seit ihrer falschen Deutung auf meine unkontrollierte Reaktion äußerst reserviert, ja geradezu einsilbig. Ich spüre ihr Unbehagen, ihre Selbstverurteilung, zu weit gegangen zu sein, ohne dass ich ergründen kann, wie sie zu dieser Annahme kommt. Dennoch fühle ich mich nicht in der Lage, sie darauf hinzuweisen, wie falsch sie mit alledem liegt. Zumal ich es nicht einmal selbst verstehe. Denn bei aller Euphorie des Blutsaugens ich begreife beim besten Willen nicht, woher dieses plötzliche Gefühl der Anziehung kommt. Schließlich ist sie ein Mensch. Die einzige Emotion, die sich da regen sollte, ist Hunger. Sicherlich rührt es daher, dass ich etwas so Widernatürliches mache, wie ihr Leben zu retten. Ich nehme mir dringend vor, noch heute jemanden umzubringen, einfach um sicherzustellen, dass ich es nicht verlerne. Dieser Gedanke bringt mich zum Lächeln.
»Worüber lächelst du?«, fragt Liv mich unvermittelt, während wir uns der breiten Steintreppe zum Schulgebäude hoch nähern. Sie fragt es mit der Unsicherheit im Blick, ob auch das zu viel ist. Zu persönlich. Zu nah.
»Über deinen neuen Style«, erkläre ich grinsend und betrachte sie unverhohlen. »Er steht dir.« Und damit erzähle ich keine Lüge.
Liv hat zu Hause beschlossen, ihre braunen, langen Haare unter einer Baseballcap zu verstecken. Um den Look zu vervollständigen, hat sie noch eine zu weite Jogginghose gewählt und eine schwarze Trainingsjacke übergezogen. Auch wenn sie damit das Ziel verfolgt, nicht sofort als Mädchen erkannt zu werden, habe ich das Empfinden, sie wirkt weiblicher denn je. Ich lasse meinen Blick über ihren Körper schweifen, was sie dazu veranlasst, gekränkt die Nase zu kräuseln.
»Du machst dich über mich lustig.« Dabei bilden sich kleine
Fältchen der Empörung um ihre Augen.
Ich kann nicht anders, als ihr auf die Nase zu stupsen. »Keineswegs«, entgegne ich und bin selbst überrascht, wie sanft meine Stimme klingt. »Es macht dich nur noch interessanter.«
Sie betrachtet mich eingehend, ohne mir zu verraten, zu welchem Schluss sie dabei kommt.
»So, so«, gibt sie nur nichtssagend von sich und marschiert zum Haupteingang der Schule. Die ersten zwei Stunden hat sie bereits verpasst und ich versuche es noch ein letztes Mal. »Bist du sicher, dass du das tun willst?«, frage ich und gebe mir Mühe, dass es so flehend klingt, wie ich es oft bei Menschen höre, die realisiert haben, dass ich sie töten werde. »Zwei Mädchen sind schon gestorben und du wurdest erst vor wenigen Stunden angegriffen. Können wir nicht wenigstens heute zu Hause bleiben?« Oder am besten so lange, bis ich herausgefunden habe, was hier gespielt wird und was die tote Josy damit zu tun hat.
»Ich werde mich nicht verstecken.« Sie schürzt die Lippen in ihrer gewohnt trotzigen Art und sieht dabei so hinreißend aus, dass ich sie direkt küssen könnte. Moment – küssen? Vielleicht verliere ich auch den Verstand.
»Ich lasse mich nicht einsperren«, fährt sie fort, weil sie meine Gedanken nicht bemerkt hat und offensichtlich nicht die gleiche Sorte unpassender Gedanken hegt. »Niemand kann über mein Leben bestimmen. Schon gar nicht so ein dahergelaufener Mörder.« Oh, du hast keine Ahnung, wie sehr er das kann.
»Und außerdem«, fügt sie abschließend hinzu, »ich habe doch einen Bodyguard!« Amüsiert grinst sie mich an. »Also habe ich doch gar nichts zu befürchten.« Und fröhlichen Schrittes marschiert sie ins Schulgebäude.
Wenn sie damit mal bloß recht hat!