Mein Fund
[ZAYN]
Allein ihre Hand zu halten, ist es wert gewesen, mit ihr an diesen Ort zu kommen. Das Gefühl, ihre Haut zu berühren, lässt sich mit nichts vergleichen und verschafft meiner Seele eine Zufriedenheit, wie ich sie noch nie erlebt habe. Instinktiv weiß ich: Ich würde das Bluttrinken aufgeben, wenn ich dafür den Rest meines Lebens ihre Hand halten könnte. Wohl eher ihres Lebens , verbessert mich mein inneres Teufelchen und führt mir damit die riesige Kluft vor Augen, die sich zwischen Liv und mir auftut. Sie ist ein Mensch, ich bin ein Vampir. Dass das nicht gut gehen kann, weiß ich aus eigener Erfahrung. Dennoch kann ich nicht anders. Mich von ihrer Anziehung zu befreien, erscheint mir unmöglich. Undenkbar. Und überhaupt nicht erstrebenswert.
Viel zu schnell ist der Moment gekommen, da wir uns Richtung Schule aufmachen müssen – ein lästiges Übel, auf das Liv zu meinem Leidwesen besteht.
Bevor wir aufbrechen, sucht sie noch einmal die Toiletten auf, und ich beschließe, an der Theke zu zahlen. Während ich auf die Bedienung warte, lasse ich meinen verträumten Blick durch den Raum gleiten. Es durchzuckt mich wie ein Stromschlag, als er an etwas hängen bleibt, das mir bekannt vorkommt. Viel zu bekannt.
Mit großen Schritten marschiere ich zu der Garderobe im hinteren Teil des Cafés und traue meinen Augen kaum. Verflucht, da hängt meine spezielle, heiß geliebte Lederjacke! Ebenjene Lederjacke, die ich in der verhängnisvollen Nacht – diese Bezeichnung dafür hat sich bewährt – Amber »geliehen« habe, als sie zu frösteln begonnen hat. Hocherfreut und gleichzeitig bis zum letzten Muskel alarmiert reiße ich sie vom Kleiderbügel und schlüpfe hinein. Aber – wenn meine Jacke hier ist, dann ist auch …
Mit aufs Äußerste geschärften Sinnen scanne ich die Tische und die momentan gegenwärtigen Kunden, doch ich kann nichts Auffälliges entdecken. Da sich außer der Theke und den Toiletten hier nichts Weiteres befindet, kann das nur eines bedeuten. Schnell verberge ich mich hinter den Türen zu den Waschräumen, die sich an den Garderobenbereich anschließen. Bereits im nächsten Moment öffnet sich eine der Türen. Sofort ergreife ich die herauskommende Person, ziehe sie zur Seite, halte meine Hand über ihren Mund. Doch es ist nur Liv, die mich mit empörtem Blick anstiert.
»Was soll …?«, setzt sie an, aber ich lasse sie nicht ausreden. Mit einem deutlichen »Schhh« und meinem Finger über ihren Lippen – oh verdammt, sie sind so weich und sinnlich und … nicht ablenken lassen! – bringe ich sie zum Schweigen.
»Ist dort drinnen noch jemand?«, flüstere ich ihr zu und sie nickt.
Zum Glück muss ich ihr nicht erklären, dass sie ihre Stimme senken soll. Sie spürt meine Anspannung nur zu deutlich. »Ja«, erklärt sie leise, »gerade kam ein blond gelocktes Mädchen …«
Mehr brauche ich nicht zu wissen. »Du bleibst hier!«, zische ich ihr zu und husche augenblicklich durch die Tür in die Frauentoilette.
Der Raum wirkt leer und meine Unruhe wächst ins Unermessliche. Die meisten Türen zu den kleinen Toilettenkabinen stehen offen. Einzig die hinterste ist geschlossen. Als ich das Rauschen der Klospülung vernehme, eile ich nach hinten und bringe mich hinter der Tür in Stellung. Keine Sekunde zu früh, kaum habe ich mich gegen die Wand gepresst, öffnet sich die Tür. Ich zögere nicht und falle über die Person her. Eine gute Entscheidung, denn schon während ich ihre Kehle packe, realisiere ich die blonden Locken. Eine nicht zu unterdrückende Wut steigt in mir auf, obwohl ich genau weiß, dass dies nicht die echte Amber ist, sondern lediglich ihr Körper, nur mit anderem Inhalt. Dennoch kann ich mich gegen den Zorn nicht wehren. So waren es doch diese drei, die das Unheil erst ins Rollen brachten. Ob es jetzt jener Gedanke an die Vergangenheit ist oder ob dieses von einer toten Seele gesteuerte Mädchen tatsächlich so stark ist, weiß ich nicht, jedenfalls hat sie sich im Handumdrehen aus meinem Griff befreit und geht ihrerseits auf mich los. Wie ein Rammbock mit dem Lockenschopf voraus, als wäre er ihre Waffe, stürmt Amber auf mich zu und presst mich gegen die Wand. Von ihrer Wucht bleibt mir überraschenderweise für einen Moment die Luft weg. Auch wenn der Hüter sagte, dass sie stark wären, bin ich doch erstaunt wie sehr.
»Gut, Blondie«, keuche ich ihr entgegen. »Du willst dreckig kämpfen? Kein Problem!«
Ich packe sie an den Haaren, reiße ihren Kopf nach hinten und donnere ihn dann mit Schwung gegen das nächste Waschbecken. Sofort strömt das Blut aus einer riesigen Wunde an der Stirn, zieht bizarre Bahnen über ihr einst so hübsches Gesicht, das jetzt zu einer zornigen Fratze verzogen ist. Benommen rappelt sie sich auf, schnappt sich den Seifenspender und schleudert ihn in meine Richtung. Ich mache einen Schritt zur Seite, versuche, ihn abzuwehren und er prallt lediglich an meiner am Gürtel befestigten Ledertasche mit der Waffe des Hüters ab. Die Waffe! Wie konnte ich sie nur vergessen – schon wieder!
Die tot geglaubte Amber prescht erneut auf mich zu, diesmal von der Seite und mit einem viel zu festen Griff, mit dem sie mir das Handgelenk verdreht. Ich verkneife mir einen schmerzvollen Aufschrei, reiße den Lederbeutel mit der anderen Hand auf und befreie mich von ihr. Sofort hole ich mit dem Fuß aus und trete sie zu Boden. Sie hat kaum die Fliesen berührt, als ich bereits die Waffe zücke und auf sie niederfahre.
Ich bekomme nur am Rande mit, dass sich die Toilettentür öffnet, weil ich damit beschäftigt bin, über der vampirbeseelten Amber zu hocken und den Dolch des Hüters in ihr Herz zu stoßen. Ihre blutunterlaufenen Augen weiten sich entgeistert, sie gibt einen heiseren Laut von sich, versucht, sich aufzubäumen, bis sie kraftlos niedersinkt und ihre Glieder erschlaffen.
Erst jetzt wage ich, meinen Blick zu heben und sehe das, was ich bereits befürchtet habe: Liv steht an der Tür, die sie glücklicherweise wieder hinter sich geschlossen hat, und starrt fassungslos auf die Leiche.
»Und du konntest wirklich nicht draußen warten?«, raune ich ihr entgegen. Ich will mich gerade erheben, als mich die tote Amber am Handgelenk packt. Entsetzt reiße ich meine Augen auf. Verflucht, ich habe sie jetzt schon zum zweiten Mal getötet. Kann sie nicht endlich tot bleiben?
Doch bereits mein nächster Blick zeigt mir, dass sie nur noch wenige Atemzüge hat, bevor das Endgültige eintritt.
Keuchend zieht sie mich näher zu sich hinunter. Dann flüstert sie mit der Dramatik der letzten Worte: »Sie kommen. Sie kommen. Sie kommen …«
Wie in Trance wiederholt sie diesen einen Satz.
»Wer? Wer kommt?« Ich beuge mich näher zu ihr, schaue sie eindringlich an.
»Unsere Freunde«, röchelt sie. »Eure Feinde. Vampire aus aller Welt. Bald werden sie da sein. Sie werden euch töten – und die Hüter ausrotten. Dann werden sie die Burg einnehmen, das Tor öffnen und uns zurück ins Leben holen. Verlass dich drauf«, ihre Stimme ist kaum noch zu hören, »ich komme wieder.«
Dann werden ihre Augen starr.
***
Zum Glück kenne ich mich mit solchen Aufräumarbeiten aus. Während Liv an der Tür steht und schon mehrere Male mit »Sorry, meine Freundin wäscht gerade einen Kaffeefleck aus ihrem Rock« die Toilettenbesucher davor bewahrt, den Schock ihres Lebens zu erleiden, reinige ich im Handumdrehen den Waschraum. Einer polizeilichen UV-Licht-Untersuchung würde er mit Sicherheit nicht standhalten, aber wo keine Leiche zu finden ist, da wird auch kein Tatort vermutet – und mit genau jener Leiche springe ich aus dem Toilettenfenster, das zum Glück auf eine einsame Seitengasse hinter dem Haus führt. Während Liv mit hoffentlich nicht allzu zittrigen Händen unsere Rechnung bezahlt und unauffällig zur Vordertür hinausgeht, eile ich in Vampirgeschwindigkeit hinunter zum Fluss, wo ich die inzwischen sehr tote Amber an einer besonders tiefen Stelle entsorge. Natürlich nicht ohne den notwendigen »Klotz am Bein«, der sie in der Tiefe halten wird. Wie schon gesagt, von polizeilichen Untersuchungen halte ich nicht viel.
Liv ist bereits die steinernen Stufen zu unserem Wasserfall hinaufgeklettert, wo wir erst gestern unser Ich-bin-ein-Vampir-Gespräch geführt haben. Es kommt mir vor, als wären seitdem hundert Jahre vergangen. Wie kann es sein, dass ich mir ein Leben ohne Liv nicht mehr vorstellen kann? Was hat dieses Mädchen an sich? Sie ist doch nur ein Mensch.
Und genau dieser Mensch schaut mich nun erwartungsvoll an, während ich flink wie ein Vampir – wie gut, dass ich mich bei ihr nicht mehr verstellen muss – den Wasserfall erklimme und neben ihr im Moos Platz nehme. Kaum sitze ich, fällt sie mir um den Hals, krallt sich mit ihren Händen in meine Lederjacke und hält mich, wie ich noch nie gehalten wurde. Eng, intensiv und endgültig. So sitzen wir. Lange. Schweigend. Lauschen dem Zwitschern der Vögel, das versucht, uns eine heile Welt vorzugaukeln. Eine Welt, die es nicht gibt. Der ganze Vormittag vergeht auf diese Weise, ohne dass sie auch nur ein Wort spricht. Ihr Kopf lehnt weiterhin an meiner Schulter und ich ahne, dass sie diese Momente der Ruhe braucht.
»Was war das?«, fragt sie schließlich, als die Sonne schon hoch am Himmel steht. »Ein Vampir?«
Ich nicke lediglich, weil ich nicht weiß, wie man einem Neuling im Thema Vampire erklärt, was eine aus der Unterwelt zurückgekehrte Vampirseele in einem toten menschlichen Körper ist – zumal ich davon selbst erst gestern zum ersten Mal gehört habe und längst nicht so viel verstehe, wie ich vorgebe, es zu tun.
»Hat sie Tara getötet?« Zaghaft spricht sie die Worte aus. Es klingt unsicher, als ob sie nicht wüsste, ob sie die Wahrheit erfahren möchte.
»Vielleicht.« Nichtssagend zucke ich die Achseln. »Gut möglich.«
Dann schweigt sie. Lange. Zu lange.
»Du kanntest sie«, sind die Worte, mit denen sie das Schweigen bricht. Es ist keine Frage, sondern eine schlichte Feststellung. Ob Vorwurf oder Misstrauen darin stecken, kann ich nicht ausmachen. Genauso wenig, ob sie eine Reaktion darauf erwartet.
Wie eine unheilvolle Gewitterwolke hängt ihre Aussage über uns und ich bin mir nicht sicher, ob der Sturm vorbeiziehen oder sich über uns entladen wird.
Doch sie scheint es auf sich beruhen zu lassen. Vorerst.
Stattdessen bringt sie mich mit einer erneuten Frage völlig aus der Fassung.
»Wer sind die Hüter?« Sie rückt von mir ab und schaut mich herausfordernd an. »Und welches Tor muss gehütet werden?«
»Liv, ich …«, setze ich zögerlich an, ohne zu wissen, welche Worte nun angebracht wären.
»Wage es ja nicht, mir wieder eine deiner Lügengeschichten zu erzählen.« In ihren Augen sehe ich Erregung aufblitzen. Und es ist keine zu meinen Gunsten. »Ich warne dich, Zayn, du weißt es. Du weißt viel mehr, als du zugibst. Ich habe es dir bisher durchgehen lassen. Verdammt soll ich sein, wenn ich dich auch dieses Mal mit fadenscheinigen Beschwichtigungen davonkommen lasse.«
Ich kann nicht anders, als sie mit offenem Mund anzustarren.
»Ich bin kein kleines Dummchen, das du weiterhin zum Narren halten kannst.« Liv ist voll in Fahrt. »Hier geht es um Leben und Tod. Ich werde mich nicht weiterhin von dir ›beschützen‹«, sie malt theatralische Anführungszeichen in die Luft, »lassen, ohne zu wissen, worum es hier wirklich geht. Du wirst es mir erzählen. Alles. Die ganze Geschichte. Jede verdammte Einzelheit.«
Zuerst bin ich wie versteinert, kann nicht anders, als sie fasziniert zu betrachten, während mein Herz pocht, als wollte es mich wieder zu einem Menschen machen.
»Mein Blut, bist du heiß!«, entfahren mir unbedachte Worte, weil der Bann, in den sie mich gezogen hat, mich völlig beherrscht. Dann mache ich das, was mit Abstand das Unpassendste ist, das man in einer solchen Situation tun sollte – egal, ob man Vampir oder Mensch ist.
Ich küsse sie.
Mit aller Energie, Leidenschaft und mit meinem ganzen aufgestauten Verlangen. Mit einer Sehnsucht nach Liebe, von der ich bisher nicht gewusst habe, dass sie in mir vorhanden ist.
Dass ihre Lippen noch weicher sind, als ich mir vorgestellt habe, haut mich beinahe um. Es ist, als würden sich alle meine Sinne gleichzeitig abschalten. Da ist nichts mehr, nur noch Liv. Jede Faser meines Körpers verlangt nach ihr, alles wird wie magisch von ihr angezogen und meine Welt besteht nur noch aus Liv. Ich weiß genau: Wenn alles um mich herum verschwinden würde – Bäume, Erde, Luft, Menschen, Blut –, es würde mir genügen, den Rest meiner Vampirewigkeit ihre Haut zu spüren, ihre Lippen zu schmecken, von ihrem Atem zu leben.
Und das Verrückteste an der ganzen Sache: Ihr scheint es genauso zu gehen.
Sofort drängt sie sich mir auf die dieselbe Weise entgegen. Ihre Lippen schmecken nach Lust und Verlangen. Ihr Atem beschleunigt sich synchron zu meinem.
Ich greife in ihre seidig weichen Haare, drücke sie näher an mich heran und sie lässt es zu. Sogar mehr noch. Beinahe gleichzeitig spüre ich ihre Hände an meinem Oberkörper und fühle, wie sie meine Brustmuskeln entlangstreichen.
Unter so vielen ihrer Berührungen beginnt sich meine Welt zu drehen, sodass ich sie kurzerhand ganz sanft auf das weiche Moos lege.
Mit einem unsicheren Blick beuge ich mich über sie, habe plötzlich Bedenken, ich könnte zu weit gegangen sein, zu forsch gewesen, zu aufdringlich …
Doch Liv packt mich an meiner Lederjacke und zieht mich zu sich hinunter. Sofort verschmelzen unsere Lippen auf eine Weise, die mich in den Wahnsinn treibt.
Meine Finger streicheln ihr Gesicht, ihren Hals, ihr Dekolleté. Als ich auf einmal spüre, wie ihre Hände unter mein Shirt wandern und es nach oben streifen, kann ich nicht anders, als die Kleidungsstücke in aller Eile von mir zu reißen. Sofort zieht sie mich noch näher zu sich hinunter und ich fühle nackte Haut auf meiner Brust. Ich habe keine Ahnung, wie sie sich so schnell auch ihres Shirts entledigt hat, aber das ist mir völlig schnuppe. Denn es ist einfach herrlich. Sie ist mir dadurch noch näher, enger, vertrauter und ich kann sie gar nicht nah genug bei mir haben.
Unsere Hosen öffnen sich quasi von allein. Als wir uns dann im Einklang miteinander bewegen, weiß ich, dass ich nicht mehr zurückkann. Nicht mehr zurück in mein gewöhnliches Vampirleben voller Übermut und Selbstsucht, das gepflastert ist von Leichen und Blut. Mit einem Mal ekele ich mich vor mir selbst, denn Liv macht einen besseren Menschen – Vampir – aus mir und das schenkt mir so viel mehr Erfüllung, als es das größte Blutbad je könnte.
Ich verliere mich völlig in ihr, während unsere vor Erregung schwitzigen Körper aneinanderheften, als wollte jede Pore meiner Haut sich an ihr festklammern.
Und Liv? Sie gibt mir alles, was ich brauche: sich selbst. Nichts könnte mich in diesem Moment glücklicher machen.
***
Wie auf diese Weise der gesamte Nachmittag vergehen konnte, habe ich keinen blassen Schimmer. Dennoch ist die Sonne bereits untergegangen, als wir gemeinsam – und viel zu angezogen für meinen Geschmack – vor Livs Haus stehen.
Zögerlich lässt sie meine Hand los, während sie mich beinahe schüchtern von der Seite anlächelt.
»Ich«, beginnt sie stockend, weil wir seit Stunden kaum ein Wort gewechselt haben, »sollte vielleicht allein zur Haustür reingehen. Meine Tante begrüßen. Vielleicht könntest du …«
»… das Fenster benutzen. Kein Thema!« Ohne weitere Erklärungen mache ich mich auf den Weg zur Hausseite, an der sich Livs Zimmerfenster befindet, während sie zu ihrer Tante in die Küche geht.
Für den Fall der Fälle haben wir es heute Morgen lediglich angelehnt, sodass mir jetzt ein beherzter Sprung genügt und ich mitten in ihrem Zimmer stehe.
Weil ich keine Lust habe, von hier oben dem Gespräch zwischen den beiden zu lauschen – »Wo warst du so lange?«, »Schulprojekt mit neuen Freunden!«, »Oh, du hast Freunde gefunden. Wie heißen sie denn?« –, verschwinde ich im Bad, um den üblichen Abendtrunk für Liv vorzubereiten. Auch wenn mich inzwischen ein schlechtes Gewissen plagt, erscheint es mir dennoch sicherer. Denn ob ich ihr zu hundert Prozent trauen kann, dass sie sich wirklich nicht aus ihrem Bett bewegt, weiß ich nicht. Zum Glück behauptet die Packungsbeilage der Schlafpillen, man könne sie »für kurze Zeit« problemlos nutzen, ohne davon abhängig zu werden. Was genau sie mit »kurze Zeit« meint, ist mir nicht ganz klar, aber ich schätze, dass ein paar Monate durchaus drin sind.
Kaum habe ich zwei Pillen in einem Glas Wasser aufgelöst und das Glas unauffällig auf dem Nachttisch platziert, kommt Liv auch schon die Treppe hoch.
Sie wirkt müde und abgeschlagen, was ich ihr nicht verübeln kann, aber auch irgendwie glücklich. Und wenn sie nur halb so glücklich ist wie ich, dann reicht es locker für ein ganzes Menschenleben. Sie sagt nicht viel, lächelt mich an, nimmt sich ganz von allein das Glas und verschwindet kurz im Bad. Als sie dann mit frisch gekämmten Haaren, einer türkisfarbenen Pyjamahose und einem weißen T-Shirt zurückkommt, glaube ich, sie noch nie schöner gesehen zu haben.
Ich schließe sie in meine Arme, atme ihren Duft ein, genieße ihre Nähe. Die Fragen von heute Mittag hat sie nicht erneut aufgegriffen. Wahrscheinlich hat unser phänomenaler Sex sie erfolgreich davon abgelenkt. Also ich meine, Liv war phänomenal, ich natürlich auch, aber sie erst …
Kurz nachdem ich sie zugedeckt habe, schließt sie ihre Augen mit einem Lächeln im Gesicht. Es benötigt nur wenige Minuten, bis ihre Muskeln erschlaffen und sie im Schlaf meine Hand loslässt. Die Tabletten verrichten ihren Dienst.
Das ist mein Startschuss.
Ich aktiviere den Bewegungsmelder, den ich bereits gestern heimlich installiert habe und der mir Nachrichten aufs Handy schickt, sobald sich jemand von außen an ihrem Fenster zu schaffen macht. Die moderne Technik ist doch wirklich enorm hilfreich bei 24/7-Beschattungsjobs.
Es ist stockfinster, als ich Richtung Burg gehe, Ambers letzte Worte wie ein Mantra vor mich hersagend – als ob sie mir jemals entfallen könnten. Sie haben sich in mein Gedächtnis gebrannt und je länger ich darüber nachdenke, desto stärker merke ich: Sie jagen mir eine Heidenangst ein.
So wundert es mich nicht, dass ich – derartig in meine Gedanken versunken und trotz eines Zwischenstopps an »unserem Wasserfall«, um meinen Kopf freizubekommen – schneller als gedacht, die leere Burg erreicht, den Dunklen Korridor durchquert und den Hüter vor mir sitzen habe. Die ganze Zeit über habe ich das Gefühl, Livs Geruch nicht aus der Nase zu kriegen. Meine Haare riechen nach ihr, sogar meine Haut. Mir ist noch immer ganz schwindelig, wenn ich an den heutigen Nachmittag denke. Atemlos, weil mir die Befürchtung des Bevorstehenden die Luft nimmt, falle ich sofort mit der Tür ins Haus. Beziehungsweise mit dem Vorhang in die unterirdische Hüter-Höhle.
»Ich habe Amber getroffen, eine der drei Reinen. Es gab einen Kampf und ich habe sie getötet«, rattere ich herunter und bin froh, es endlich loszuwerden. Zu viele Knoten haben sich inzwischen in meinem Kopf gebildet und ich hoffe inständig, dass der Hüter in diesem Gespräch ein paar davon lösen wird.
Mit wissendem Gesichtsausdruck sieht er mich an. Natürlich, Ambers Seele musste ja durch das Tor zurück in die Unterwelt. Diesen Part der Geschichte kennt er längst. Er sitzt in seinem Sessel mit übereinandergeschlagenen Beinen und trägt ein groß kariertes Hemd, das ihn eher wie einen Cowboy als einen Hüter der Unterwelt wirken lässt.
»Geht es Liv gut?«, sind die ersten Worte, die er nun an mich richtet. Alle Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen und die Sorge um seine Tochter lässt ihn um Jahre älter wirken.
»Ja, natürlich, mein Hüter«, antworte ich ihm schnell, um ihn auch ja nicht auf die Idee zu bringen, ich könnte nicht gut für sie sorgen. »Sie ist vollkommen unversehrt und …«
Die Stimme, die mich nun unterbricht, ist nicht die des Hüters. Es ist genau die Stimme, die man in einem Vampirschloss am allerwenigsten erwarten würde.
»Was wird hier gespielt?« Worte, so fremd und vertraut zugleich.
Es ist Liv.